Literatur, Roman

Kim de L’Horizon gewinnt Deutschen Buchpreis

Erstmals wird eine non-binäre Autor:in für den Roman des Jahres ausgezeichnet. Kim de L’Horizon aus der Schweiz erhält den Deutschen Buchpreis für den autofiktionalen Identitätsroman »Blutbuch« und macht die Verleihung im Frankfurter Römer zu einem politischen Happening. Ein Roman von einem Ort, an dem ein Sprechen über Vielfalt, Ambivalenz und Fluidität, Offenheit, Neugier und Lebenslust möglich ist.

»There is something inside you, it’s FUCKING hard to explain. | They’re talking about you, but you’re still the same«, sang Kim de L’Horizon am Abend bei der Preisverleihung zum Deutschen Buchpreis im Frankfurter Römer. Kurz zuvor war der Roman »Blutbuch« der:des non-binären Autor:in als Roman des Jahres ausgezeichnet worden.

»Beispielsweise habe ich »es« dir nie offiziell gesagt. Ich kam einfach mal geschminkt zum Kaffee, mit einer Schachtel Lindt & Sprüngli (der mittelgrossen, nicht der kleinen wie üblich), oder dann später in einem Rock zum Weihnachtsessen. Ich wusste, oder nahm an, dass Mutter es dir gesagt hatte. »Es«. Sie hatte »es« dir sagen müssen, weil ich »es« dir nicht sagen konnte. Das gehörte zu den Dingen, die mensch sich nicht sagen konnte. Ich hatte »es« Vater gesagt, Vater hatte »es« Mutter gesagt, Mutter muss »es« dir gesagt haben.«

Kim de L’Horizon: Blutbuch. Dumont Buchverlag 2022. 336 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen.

So beginnt Kim de L’Horizons »Blutbuch«, das gestern mit dem mit 25.000 Euro dotierten Deutschen Buchpreis für den deutschsprachigen Roman des Jahres ausgezeichnet wurde. Man müsste noch etwas über dieses »es« rätseln, von dem da die Rede ist, wäre nicht RuPauls »We’re all born naked and the rest is drag« dem Buch vorangestellt.

In dem über zehn Jahre entstandenen Roman geht die non-binäre Erzählfigur, ausgelöst von der Demenz der Großmutter, der mütterlichen Ahnenlinie nach, um dem generationsübergreifenden familiären Schweigen ein Sprechen und Erinnern entgegenzusetzen und um sich selbst in dem oft so festen Konstrukt von Familie und Biografie zu verorten. Dabei wird beständig die Frage bewegt, wie man existieren kann, wenn der eigene Körper keine Gegebenheit und das Leben ein ständiges Verhandeln von Identität, Geschlecht und Sexualität, von Sollen und Sein, von Schweigen und Sprechen ist.

»Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l’Horizons Roman ‘Blutbuch’ nach einer eigenen Sprache. Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht? Fixpunkt des Erzählens ist die eigene Großmutter, die ‘Großmeer’ im Berndeutschen, in deren Ozean das Kind Kim zu ertrinken drohte und aus dem es sich jetzt schreibend freischwimmt. Die Romanform ist dabei in steter Bewegung. Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern ließ«, begründete die Jury ihre Entscheidung.

Die Shortlist des Deutschen Buchpreis 2022

Neben Kim de L’Horizons Roman, der bereits im Frühjahr den mit 15.000 Euro dotierten Literaturförderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung gewonnen hatte und auch für den Schweizer Buchpreis nominiert ist, waren Kristine Bilkaus mysteriöser Dorfroman »Nebenan«, Daniela Dröschers autobiografische Spurensuche »Die Lügen meiner Mutter«, Fatma Aydemirs Familien- und Trauerroman »Dschinns«, Eckhart Nickels Kunstsatire »Spitzweg« und Jan Faktors Erinnerungsroman »Trottel« nominiert. Lange galt Jan Faktor als Favorit, nachdem er im September allerdings bereits den mit 30.000 Euro dotierten Wilhelm-Raabe-Preis zugesprochen bekam, wurde Daniela Dröscher favorisiert. Mit Kim de L’Horizon als Preisträger:in traf die Jury die mutigste Entscheidung.

Wer sich fragt, wieviel Hass und Aggression Menschen wir de L’Horizon immer noch ertragen müssen, muss sich nur die Kommentare unter den Beiträgen zur Buchpreisvergabe in den Sozialen Medien ansehen. Da wird ein Hass auf alles Andere und Fremde ausgekippt, dass es einem die Sprache verschlägt. Insofern ist diese Entscheidung der Jury auch eine, die ein Signal setzt in einer Gesellschaft, deren Ränder sich mehr und mehr in Hass und Vorurteile eingegraben. Dieser Roman ist ein Roman aus der Mitte der Gesellschaft, von einem Ort, an dem Denken und Sprechen über Vielfalt, Ambivalenz und Fluidität, Offenheit, Neugier und Lebenslust möglich sind.

Kim de L’Horizon selbst machte bei der Preisverleihung auch deutlich, dass der Preis nicht nur für ihn sei. »Die Jury vergibt diesen Preis gegen den Hass, für die Liebe, für alle Menschen, die wegen ihres Körpers unterdrückt werden«, sagte de L’Horizon bei der Preisverleihung und rasierte sich vor laufenden Kameras den Kopf. Ein Hauch von Klagenfurt und Rainald Goetz ging durch den Festsaal. Dann tosender Applaus. »Dieser Preis ist auch für die Frauen im Iran. Wie dumm war unser Weltbild? Weiblichkeit ist nicht nur im Westen emanzipiert«.

2 Kommentare

  1. […] standen auch im Mittelpunkt eines Sammelbandes, an dem sich zahlreiche namhafte Autoren wie Kim de L’Horizon, Daniel Schreiber, Peter Wawerzinek, Philipp Winkler, Deniz Utlu und Dinçer Güçyeter […]

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