Erzählungen, Literatur, Lyrik, Roman

Georg-Büchner-Preis geht an Lutz Seiler

Der in Thüringen geborene Lyriker und Prosaist Lutz Seiler erhält Anfang November den wichtigsten Literaturpreis des Landes. Niemand macht aus dem Zerrinnen von Erfahrungen und Erinnerungen so klingende Literatur wie der in Deutschland und Schweden lebende Schriftsteller, der spätestens jetzt als einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren gelten muss. Seine preisgekrönten Romane haben als veritable Bestseller viele Leser:innen gefunden, seine Erzählungen und Gedichte hätten wohl ebenso viele Leser:innen verdient.

Der Georg-Büchner-Preis 2023 geht an den Schriftsteller Lutz Seiler, »einen Autor, der mit klangvollen Gedichtbänden begann, von dort zum Erzählen fand, stets aber ein so klarer wie rätselhafter, dunkel leuchtender Lyriker bleibt«, wie es in der Erklärung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung heißt. Zudem zeugten seine Essays und Poetikvorlesungen – gerade hat er die Bamberger Poetikvorlesungen unter dem Titel »Spaziergänge im Niemandsland« gehalten – von argumentierender Präzision. Seiler folgt damit Emine Sevdi Özdamar, die im vergangenen Jahr den mit 50.000 Euro dotierten Literaturpreis erhielt.

Lutz Seiler ist am 8. Juni 1963 in Gera geboren und in Thüringen aufgewachsen. Seine Herkunft habe tiefen Einfluss, besonders auch auf sein episches Werk, heißt es in der Begründung der Jury. Wohl eine Anspielung auf seinen letzten Roman »Stern 111«, in dem er die autofiktionale Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der in den Wendemonaten aus Thüringen nach Berlin zieht, sich dort unsterblich verliebt und die anarchistische Wirklichkeit unter (Lebens)Künstlern und Hausbesetzern erlebt. Zugleich wagen seine Thüringer Eltern den Sprung gen Westen, um einem Lebenstraum nachzuspüren. Für den Roman erhielt Seiler 2020 den Preis der Leipziger Buchmesse.

Der »Stern 111«, eine Anspielung auf ein legendäres Radiofabrikat in der DDR, »leuchtet spektral«, urteilte damals die Jury. »Dieser Roman leuchtet auf jeder Seite, und das mit menschenfreundlichem Humor. Die Milchstraße wird ziegengemacht, in jeder schnell errichteten Mauer krabbeln die Asseln der Schwellenzeiten, unter dem Schimmel der uralten Konserven lauert rätselhafte Süße. In Lutz Seiler kunstvollem Roman wird groß und genau die Neuordnung der Dinge in einem plötzlich regellosen Raum beschrieben, und das in der Verquickung von Geschichtsschreibung und Privatmärchen. Auf die Zeitläufe legt der Autor eine sinnliche Zeitschreibung: die eines werdenden Dichters und jungen Mannes, der sich elternlos finden muss, sich auf den Weg macht in ein poetisches Dasein.«

Lutz Seiler habe als Romancier und als Dichter zu seiner eigenen, unverwechselbaren Stimme gefunden, erklärt nun die Darmstädter Jury, »melancholisch, dringlich, aufrichtig, voll von wunderbaren Echos aus einer langen literarischen Tradition.« Diese Echos hallen auch in seinem 2014 mit dem Deutschen Buchpreis und dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichneten Vorwenderoman »Kruso« von allen Seiten. Darin erzählt Seiler von einem Aussteiger, der auf Hiddensee – dem zu DDR-Zeiten legendären Hort der Aussteiger, Freiheits- und Sinnsucher – als Tellerwäscher im Klausner eine neue Heimat findet. Dort trifft er auf den Inselpaten Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, der Edgar Bendler in die geheimen Regeln und Gesetze der Ostsee-Insel einweiht. Bis der Herbst 1989 kommt und alles verändert.

Der Romancier Lutz Seiler

»Man darf die packende Robinsonade um den titelgebenden Kruso und den jungen Abwäscher Edgar als wortgewaltige Geschichte eines persönlichen und historischen Schiffbruchs lesen – und als Entwicklungsroman eines Dichters. Der Text entwickelt eine ganz eigene Dringlichkeit und ist nicht zuletzt ein Requiem für die Ostseeflüchtlinge, die bei ihrer Flucht ums Leben kamen. Lutz Seilers erster Roman überzeugt durch seine vollkommen eigenständige poetische Sprache, seine sinnliche Intensität und Welthaltigkeit«, hieß es damals in der Jurybegründung zum Deutschen Buchpreis. Beide Romane würden zusammengenommen »zum großen Epos eines untergehenden Landes«, zitiert der Suhrkamp-Verlag aus der Jurybegründung.

Lutz Seiler schrieb zunächst nur Gedichte, sein Debütband »berührt/geführt« erschien 1995. Es folgten vielbeachtete Gedichtbände wie »pech & blende« oder »vierzig kilometer nacht«, bevor er 2007 für seine Erzählung »Turksib« in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt. Mit dieser präzisen Beobachtung einer winterlichen Zugfahrt durch eine radioaktiv verseuchte Landschaft, bei der der Ich-Erzähler auf einen belesenen russischen Heizer trifft, setzte er sich gegen renommierte Autor:innen wie Jan Böttcher, Peter Licht, Jagoda Marinic, Jochen Schmidt, Thomas Stangl, Michael Stavaric oder Martin Becker durch. Sechs von neun Juror:innen entscheiden sich schon im ersten Wahlgang für Seilers Text. Ijoma Mangold etwa sagte, er stimme für einen Text, »der mit der Kraft der lyrischen Geschmacksverstärkung, die Körper, die Länder, ihre Geschichten und Mythologien im ratternden Rhythmus der Turksib aufeinander prallen lässt.«

Der Lyriker Lutz Seiler

Die Gedichte von Lutz Seiler sind längst keine Geheimtipps mehr, allein acht Bände listet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung auf. Zuletzt erschien der Band »schrift für blinde riesen«, nach zehn Jahren ohne lyrische Veröffentlichung eine Rückkehr »in den Heimathafen der Gedichte«, wie sein Verlag schreibt. Darin legt Seiler das Ohr auf die Schienen seiner eigenen Geschichte, lauscht den Stimmen der Kindheit, folgt den Spuren in den »Knochenpark« und entdeckt den »Ahnenapparat« seines vom Uranbergbau geschleiften Heimatdorfes. Er durchstreift die märkischen Kiefern, schweift bis nach Stockholm, wo er eine zweite Heimat gefunden hat, immer auf der Suche nach einer »schrift für blinde riesen« und ihrem Blick dorthin, »wo die welt vermutet werden könnte«.

Der Peter-Huchel-Experte Lutz Seiler

Nach dem Ingeborg-Bachmann-Preis, dem Deutschen Buchpreis und dem Preis der Leipziger Buchmesse grast Seiler weiterhin die Preislandschaft der Deutschen Literatur ab. Allein in diesem Jahr kamen mit dem Bertolt-Brecht-Preis und dem Berliner Literaturpreis zwei renommierte hinzu, der Georg-Büchner-Preis krönt dieses Literaturjahr für Seiler. Von den wichtigen Preisen fehlt ihm einzig noch der Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik in seinem Portfolio. Die Tatsache, dass er seit 1997 das literarische Programm im Peter-Huchel-Haus in seinem ersten Wohnort Wilhelmshorst bei Potsdam leitet und selbst mehrere Publikationen zu Huchel herausgegeben hat, sollte die Jury nicht davon abhalten, sich Seilers nächsten Gedichtband mal genau anzusehen.

Der Prosaiker und Essayist Lutz Seiler

Seiler ist längst einer der anerkanntesten Schriftsteller Deutschlands. Seine Poetikvorlesungen und Essays bestechen in ihrer kreativen Energie und sprachlichen Genauigkeit, seine Erzählungen, ob »Am Kap des guten Abends«, »Im Kinobunker« oder »Die Zeitwaage«, mit der er bereits 2010 einmal für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, sind voller detaillierter Beobachtungen der menschlichen Seelenzustände. Beschreibungen, die auf Erfahrungen und Erlebnissen beruhen, die Seiler im Laufe seines Lebens gemacht hat.

In dem Band »Die römische Saison« erzählt Seiler davon, wie sein Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom über drei Romananfänge und 14 Kisten Material sowie eine zum Scheitern verdammte Strategie schließlich doch zu seinem Erfolgsroman »Kruso« geführt hat. Da zitiert er die Dichterin Marie Luise Kaschnitz »Man versucht, sich auf sich selbst zu besinnen, kramt das Mitgebrachte aus, mehr als ein halbes Leben der Erfahrungen und Erinnerungen, und sieht mit Entsetzen, wie dieser Schatz unter den Händen zerrinnt.« Diesem Zerrinnen sieht Seiler wie kein anderer zu und macht daraus große Literatur, die ihm nun endlich, längst überfällig, den wichtigsten deutschsprachigen Literaturpreis einbringt.

Der Georg-Büchner-Preis wird seit 1951 an herausragende Schriftstellerinnen und Schriftsteller vergeben, »die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervortreten und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben«, so die Satzung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Der Büchner-Preis gilt als die wichtigste literarische Auszeichnung in Deutschland. Zu den bisherigen Preisträger:innen gehören unter anderem Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Rainald Goetz oder Friederike Mayröcker. In den letzten Jahren hatten Emine Sevgi Özdamar, Clemens J. Setz, Elke Erb, Lukas Bärfuß und Terézia Mora den Preis erhalten. Der Preis wird am 4. November 2023 in Darmstadt verliehen.