Die Berliner Schriftstellerin Marion Poschmann lauscht in ihrem neuen Roman »Chor der Erinnyen« dem Flüstern dreier moderner griechischer Rachegöttinnen und beobachtet das Zerbrechen der Natur.
In einem Gespräch über ihren letzten Roman »Die Kieferninsel« gestand Marion Poschmann, dass sie gern eine Fortsetzung des Romans geschrieben hätte. »Chor der Erinnyen« enthält keinerlei Anspielungen auf Gilbert Silvesters Irrfahrt durch das Japan von Matsuo Basho, wird aber als Parallelgeschichte des Vorgängers angekündigt. Die Parallelität verbirgt sich in Motiven und Figurenkonstellationen, die man erkennen kann, aber nicht muss, um sich in diesem neuen, magisch-realistischen Text der im Ruhrpott aufgewachsenen Wahlberlinerin angenehm zu verirren.
Poschmann erzählt in ihrem neuen Roman aus allwissender Perspektive die Geschichte von der Studienrätin Mathilda, die eines morgens völlig überraschend ohne Mann dasteht. Möglicherweise handelt es sich bei diesem dauerhaft Abwesenden, über dessen Beweggründe die Mathe- und Musiklehrerin immer wieder sinniert, um den tragikomischen Helden aus den »Kieferninseln«. Der hat sich ohne das Wissen seiner Frau auf den Weg nach Japan gemacht, schreibt ihr von dort aber wehmütige Briefe. Sollte es so sein, kommen diese Botschaften in diesem Roman aber noch nicht an. Dafür erreichen Mathilda ganz andere, geradezu sphärische Nachrichten.
»Meine Mutter fürchtet diese Fähigkeit, denn sie sieht die Verstorbenen. Bei mir ist es milder. Mir erscheinen lebende Personen. Sie flackern kurz auf, und ich weiß alles über sie. Wenn auch nur für den einen Moment, in dem wir verbunden sind.« Dieses Flackern zieht sich von der ersten bis zur letzten Seite durch Poschmanns schillernden Text, der ebenso schwer greifbar wie erklärend nacherzählbar ist. Nicht, weil es an Handlung fehlt, sondern weil er eher eine Erfahrung, als ein Leseereignis ist.
Die im Ruhrgebiet aufgewachsene Wahlberlinerin Marion Poschmann ist eine der wenigen Doppelbegabungen in der deutschsprachigen Literatur. Ihr gelingt es, die zarte Poesie ihrer Gedichte in ihre Prosa hinüberzuretten, während sich die Klugheit und Lakonie ihrer Erzählkunst subtil durch ihre Lyrik zieht. Erinnerungen und Träume spielen dabei immer wieder eine wichtige Rolle. Sie reißen Lücken in die Wirklichkeit, in denen das Geheimnisvolle in all seiner Intensität Platz hat. »Wer jemals versucht hat, einen Traum zu beschreiben, der wird festgestellt haben, dass sich die Brillanz, die Farbigkeit und die Intensität eines Traums absolut nicht in Sprache überführen lassen«, erklärte mir Poschmann im Gespräch über »Die Kieferninseln« ihr Interesse am Traum. »Was man auch immer niederschreibt ist nur ein blasser Abklatsch des Geträumten.«
Dieser Abklatsch hat es hier aber in sich, er ähnelt eher den dunklen Träumen, die an die Schwarze Romantik erinnern. Da werden dunkle Visionen Wirklichkeit, Wälder brennen, Vögel stürzen sich seufzend vom Himmel herab und im Dunst der nebelverhangenen Landschaften scheinen sich die Ränder des Gegenständlichen aufzulösen. »Sie bekommt keinen Fuß auf den Boden, die Welt ist ihr Abgrund, nicht Halt«, wie es an einer Stelle heißt.
Die Natur spielt in Poschmanns Texten eine besondere Rolle – ist weniger Kulisse als vielmehr Protagonist. Dabei geht es ihr weniger um Anschauung als vielmehr um geistige Durchdringung. »Ich will nicht mimetisch einen Baum beschreiben. Das gelingt schon allein wegen der vielen Blätter nicht. Ich muss ein literarisches Mittel finden, das abzukürzen. Ich will die sinnlichen Eindrücke in eine Sprache bringen, dass von dem, was man sieht, noch etwas rüberkommt, ich aber mehr beschreibe als das. Ich möchte in meinen Texten konkret wiederfinden, was dieses Baumartige ausmacht.«
Poschmanns außergewöhnliches Vermögen, die Natur und ihren Niedergang in Sprache zu bringen, hat ihr vor Jahren den Deutschen Preis für Nature Writing eingebracht. Dieses Vermögen hat sie auch zuletzt in ihrem vibrierenden Essay »Laubwerk« nachgewiesen, in dem sie die Bedeutung der Berliner Laubbäume und ihr Leiden unter dem Klimawandel in Sprache bringt. »Ihre poetische Reflexion über unser intensives Zusammenleben mit Bäumen, unser Verhältnis zu Herbstlaub und Stadtbäumen macht einen Aspekt der Wirklichkeit sichtbar, der im Alltag kaum Beachtung findet. … Sie lässt uns dabei die gefährdete Natur unseres Habitats ebenso erfassen wie die widerständige Schönheit, die das Herbstlaub und dessen rotstrahlende Kraft seinem Vergehen scheinbar entgegensetzt«, hieß es in der Begründung für ihre Auszeichnung mit dem Wortmeldungen-Literaturpreis 2021.
Aus dem dunklen Abgrund der Träume und Visionen dringt das rätselhafte Flüstern der titelgebenden Rachegöttinnen, das von vergangenem Schmerz und gegenwärtiger Einsamkeit, aber auch von emanzipatorischer Kraft und feministischem Aufbegehren erzählt. Zu diesen griechischen Erinnyen, die vielen wohl eher unter ihrem römischen Namen Furien bekannt sind, zählen Mathildas Schulfreundinnen Birte und Olivia, aber auch ihre Mutter, die wie ihre mythischen Vorbilder die personifizierten Gewissensbisse von Mathilda nachdenken. Birte taucht nach Jahren plötzlich auf und drängt sich in Mathildas Leben, ohne dass die genau weiß, wie es dazu kommt und was da genau geschieht. Olivia hat ein Wochenendhaus in einem Wald, der in Brand gerät und dessen Schneise existenzielle Fragen zurücklässt. Und auch im Verhältnis zwischen Mathilda und ihrer Mutter tun sich plötzlich neue Fragen auf.
Zwei Romane, ein Paralleluniversum
Mit der Poesie der Lyrikerin schreibt Poschmann in »Chor der Erinnyen« über die Zerbrechlichkeit des Menschen. Dabei befördert sie Motive und Strukturen zutage, die unter den Alltags- und Hochkulturen verschüttet sind. Die mythischen Bezüge reichen dabei von der christlichen Dreieinigkeit über Brentanos Loreley-Gesänge bis hin zu Tschaikowskis Schwanensee, Sierpińskis Fraktallehre spielt ebenso eine Rolle wie die zweifelhaften Ansätze der Reformpädagogik. All diese Topoi führen zu den »Frauen in Drachenhaut«, Poschmanns Erinnyen, die wie eine Monsterkurve funktionierten. »Man knickte sie, knickte sie wider, und sofort vervielfachte sich ihre Monstrosität, raumfüllend, selbstausweichend.«
Ihre Heldin selbst wird zur Widergängerin der geflügelten Frauen, die sich durch die Kulturgeschichte zogen und die Geisteskraft symbolisierten, die Weisheit, die Inspiration. Die mit Kreidekleid, Sturmfrisur und Drachenatem ausgestattet den Einschlägen trotzten, die auf sie niedergingen.
[…] sprachgewaltigen, mal empfindsamen lyrischen Stimmen von Autor:innen wie Monika Rinck, Uljana Wolf, Marion Poschmann, Nora Gomringer, Judith Zander, Brigitte Oleschinski, Dincer Gücyeter oder Farhad Showghi erheben, […]