Marion Poschmann besitzt eine seltene Doppelbegabung. Wie keiner anderen gelingt es ihr, die Poesie ihrer Lyrik in ihre Prosa zu übertragen und die Erzählkunst ihrer Romane in ihre Gedichte einfließen zu lassen. Mit ihrem neuen Roman »Die Kieferninseln« stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Wir sprachen mit ihr über die Faszination des Träumens, die Kraft der Melancholie und die Sysiphusarbeit des Schreibens.
Frau Poschmann, Ihr neuer Roman beginnt mit einem schlechten Traum, der Ihren Protagonisten Gilbert Silvester dazu bringt, Hals über Kopf nach Japan zu fliegen. Haben Sie ein besonderes Verhältnis zum Traum als Brücke zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein, Wirklichkeit und Fantasie?
Ich träume teilweise sehr intensiv und führe deshalb auch ein Traumtagebuch. Aber meine Träume gehen nicht direkt in meine Bücher ein. Allerdings gibt es ja schon bestimmte Traumstrukturen oder eine von Sigmund Freud beschriebene Traumlogik, nach der teilweise auch Literatur strukturiert und konzipiert ist. Das nutze ich hingegen schon für meine Bücher.
Warum führen Sie ein Traumtagebuch?
Weil die Träume teilweise intensiver sind als das Tagesgeschehen. Das ist doch wahnsinnig spannend, das möchte ich festhalten. Dann führe ich ein Traumtagebuch, weil es eigentlich unmöglich ist, eines zu führen. Wer jemals versucht hat, einen Traum zu beschreiben, der wird festgestellt haben, dass sich die Brillanz, die Farbigkeit und die Intensität eines Traums absolut nicht in Sprache überführen lassen. Was man auch immer niederschreibt, ist nur ein blasser Abklatsch des Geträumten. Und das ist eine Erfahrung, die sich beim Schreiben natürlich immer wieder aufdrängt. Bei Träumen ist sie aber besonders stark. Ein Traumtagebuch zu führen ist für mich quasi auch von professionellem Interesse.
In einem Porträt in der ZEIT werden sie mit der Aussage zitiert, dass sie literarisch interessiert, was die Wirklichkeit ist und welche Realität man als real bewertet. Haben Sie auf diese Fragen beim Schreiben Antworten gefunden?
Das sind Fragen, auf die man keine einfache Antwort geben oder finden kann. Aber beim Schreiben versuche ich zumindest, mich einer Antwort anzunähern. Wenn man sich die Wirklichkeit oder das, was wir für die Wirklichkeit halten, genau anschaut und versucht, das zu ordnen – was ist Projektion, was Erwartung, was habe ich geträumt und was vergessen –, dann stellt man fest, dass man es mit einem Konglomerat von verschiedenen Wirklichkeitsebenen zu tun hat. Und wenn man sich klarzumachen versucht, dass die Wirklichkeit vielleicht gar nicht so wirklich ist, wie wir sie immer nehmen, dann ist das doch schon mal ein Schritt in Richtung Aufklärung.
Als Sie in Japan waren, haben Sie Matsuo Bashos »Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland« gelesen. Was haben Sie in diesem Werk für sich entdeckt?
Mich hat die Wirkung dieses Werks schon fasziniert, wenngleich ich gestehen muss, dass das Buch selbst für jemanden, der mit der japanischen Kultur und Geschichte nicht vertraut ist, nicht so spannend ist. Es werden alte wichtige Stätten beschrieben und man liest das erst einmal ohne wirklichen Bezug. Das Interessante daran ist aber, dass die dort beschriebenen Orte inzwischen echte Literaturorte sind, an die Dichter immer wieder gereist sind und diese literarisch neu beschrieben haben. Dadurch haben diese Stätten natürlich auch eine gewisse Verklärung erfahren. Das fand ich sehr interessant.
Wie wichtig es für Sie ist, die Dinge, die Sie beschreiben, auch zu sehen.
Bei diesem Buch werden die konkreten Orte vordergründig auch als genau solche konkreten Orte beschrieben. Interessanter finde ich es aber, wenn eine Art Wiedererinnerung leitend für das Schreiben ist. Ein Beispiel dafür ist mein »Schwarzweißroman«, in dem es um die russische Stadt Magnitogorsk geht, in der ich auch selbst war. Aber ich habe das Buch erst zehn Jahre nach meinem Aufenthalt dort geschrieben und musste all meine Erinnerungen rekonstruieren. Dadurch ist aber etwas entstanden, was viele Menschen auf einer tieferen Ebene wiedererkannt haben. Die Atmosphäre etwa oder einzelne Details, von denen ich oft dachte, dass ich die wahrscheinlich erfunden habe. Aber das ist in der Literatur oftmals das viel Überzeugendere.
Ihre Texte wirken sehr souverän, nie gekünstelt, immer auf den Punkt. Kennen Sie das Gefühl der Unsicherheit beim Schreiben?
Nein, unsicher bin ich nicht. Aber ich habe es nicht unter Kontrolle, ob ein Text gelingt oder nicht. Ich muss mich dem Prozess des Schreibens und der Kräfte, die dabei wirken, auch überlassen. Ob man diese Kraft das Unbewusste nennt oder anders, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass man solche Texte allein mit Willenskraft so nicht schreiben könnte.
Sie haben in einem Gespräch mal beschrieben, dass Sie sich beim Schreiben aus dem Selbstvertrauen hinaus in ein »Gottvertrauen« hinein bewegen. Wie meinen Sie das?
Wenn ich das wüsste. Ich kann Ihnen das nicht sagen, genauso wenig wie ich es bewusst herbeiführen kann. Es wird in solchen Kontexten oft von Selbstvergessenheit gesprochen.
Muss das Lektorat dann sehr mit Ihnen ringen?
Nein, mein Skript ist immer schon ziemlich fertig. Wir sprechen natürlich dennoch über jedes Komma, aber das gehört dazu. In den »Kieferninseln« durfte ich am Ende zwei Kommata setzen, obwohl sie grammatikalisch falsch sind. Aber meine Lektorin sah ein, dass diese Kommas aus Gründen des Ausdrucks im Text stehen müssen.
In einem Interview mit der WAZ haben Sie mal gesagt, dass Ihr Heimweh umso größer wird je länger Sie aus dem Ruhrgebiet weg sind. Haben Sie sich inzwischen an Berlin gewöhnt? Oder stehen Sie kurz vor dem Umzug?
Sowohl als auch. Diese Form der Nostalgie, wenn man aus dem Ort seiner Kindheit wegzieht, wird mit zunehmendem Alter immer stärker. Da geht es mir genauso wie allen anderen auch. Aber natürlich hat auch Berlin seine Vorteile.
Sie sind im Ruhrgebiet aufgewachsen. Prägt Sie das als Schriftstellerin?
Das ist schwer zu sagen, man kann das selbst nur schwer aufschlüsseln. Ich werde das ja öfter gefragt. Ich sage dann in der Regel, dass das Motiv der Stadtbrachen immer wieder in meinen Texten vorkommt. Es kann gut sein, dass sich das auf meine Kindheit zurückführen läßt. Vielleicht ist aber auch der Bergbau in der Zechenlandschaft – dieses Schürfen in der Tiefe, das Aufdecken verschiedener Schichten – Bestandteil des poetologischen Verfahrens meiner Literatur.
Ihrer Literatur wird oft ein melancholischer Grundton bescheinigt. Würden Sie sich als Melancholikerin beschreiben?
Ich weiß nicht, ob ich das auf mich selbst anwenden würde. Mich fasziniert die Melancholie literarisch, als Geisteshaltung ist sie für die Literatur sehr fruchtbar. Denn es geht bei der Melancholie ja immer darum, das Bewusstsein in Extremzustände zu führen.
Ist das auch der Zustand, in den Sie sich beim Schreiben zu versetzen versuchen?
Ich versuche zumindest, in Räume vorzudringen, in denen ich noch nie war. Das ist dann auch der Reiz beim Bücherschreiben.
Wie entscheiden Sie, ob Sie einen Roman oder Gedichte schreiben?
Ich schreibe jahreweise abwechselnd, da ergibt sich die Gattung. Ich arbeite immer eine Zeit lang an Gedichten, bis der Punkt erreicht ist, dass ich eine Pause brauche. Dann freue ich mich, wenn ich an einem Roman schreiben kann.
Heißt das, Gedichte schreiben ist anstrengender?
Das kann man so einfach nicht sagen, denn meine Romane haben ja auch sehr lyrische Passagen. Manchmal macht es einfach sehr viel Spaß, eine Figur zu entwickeln, und dann ist es wieder sehr schön, an Versen und Rhythmen zu feilen. Die Schwerpunkte sind einfach unterschiedlich gesetzt.
Scheitern Sie dabei auch?
Wenn ich ein festes Versmaß habe, etwa wenn ich an Oden sitze, dann kann es vorkommen, dass ich eine ganze Weile am Rhythmus laboriere. Wenn das abends dann nicht so ist, wie ich mir das vorgestellt habe, muss ich am nächsten Morgen nochmal ran. Und am übernächsten. Im Sinne von „Fail better“, wie es bei Beckett heißt.
Wie motivieren Sie sich für diese Sisyphusarbeit?
Ich will es dann einfach auch wissen. Ich werfe eigentlich nie etwas weg. Ich arbeite an allem so lange, bis es fertig ist. Manchmal hebe ich Texte, Sätze oder Verse auch jahrelang auf, weil ich weiß, dass da zwar etwas dran, das aber so noch nicht fertig ist. Und manchmal ist es dann so, dass mir nach Jahren einfällt, dass da doch noch so ein paar Zeilen in der Schublade sind, die in die aktuelle Arbeit gut hineinpassen würde.
Seit Ihrem Lyrikband »Grund zu Schafen« gelten Sie als eine der wichtigsten Vertreterinnen der Naturlyrik. Wie gehen Sie beim Verfertigen vor? Brauchen Sie Anschauung oder sind Sie Schreibtischtäterin?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es nicht so effektiv ist, mich vor die sogenannte Natur zu setzen.
Was macht gutes literarisches Schreiben über die Natur für Sie aus?
Es geht um Beschreibung von Natur, aber nicht im wörtlichen Sinne. Ich will nicht mimetisch einen Baum beschreiben. Das gelingt schon allein wegen der vielen Blätter nicht. Ich muss ein literarisches Mittel finden, das abzukürzen. Ich will die sinnlichen Eindrücke in eine Sprache bringen, dass von dem, was man sieht, noch etwas rüberkommt, ich aber mehr beschreibe als das. Ich möchte in meinen Texten konkret wiederfinden, was dieses Baumartige ausmacht.
Sie sind eine der anerkanntesten Autorinnen unserer Zeit. Ihre Bücher werden mit großer Begeisterung wahrgenommen, die letzten drei waren alle für die großen Literaturpreise nominiert. Enttäuscht es Sie trotz aller Anerkennung dennoch, dass es bislang weder in Leipzig noch beim Deutschen Buchpreis für die Auszeichnung gelangt hat?
Ich hätte gar nicht gedacht, dass »Die Kieferninseln« auf die Shortlist kommt. Aber als es auf der Liste stand, habe ich schon gehofft, ausgezeichnet zu werden. Robert Menasse habe ich aber von Anfang an die besten Chancen eingeräumt, insofern war ich zwar ein wenig enttäuscht, aber keineswegs am Boden zerstört.
Sind Preise für Sie wichtig oder stehen Sie über den Dingen?
Ich stehe auf keinen Fall über den Dingen. Natürlich ist es schön, einen Preis zu bekommen, weil es finanzielle Hilfe sowie Anerkennung der eigenen Arbeit ist. Aber natürlich schreibe ich die Bücher nicht für Preise. Das würde auch nicht funktionieren. Vor allem ist das nicht der Grund, aus dem ich mich entschieden habe, Schriftstellerin zu werden.
Warum sind Sie denn Schriftstellerin geworden?
Es klingt eigentlich ein bisschen komisch, aber ich habe gedacht, das ist meine Berufung, das muss ich machen im Leben. Alle anderen Möglichkeiten haben mich einfach nicht wirklich interessiert. Ich war jahrelang bei jeder anderen Tätigkeit total nervös und hatte das Gefühl, meine Lebenszeit zu verschwenden. Seit ich hauptberuflich nur noch schreibe, bin ich zufriedener.
Frau Poschmann, vielen Dank für das Gespräch.
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