David Wnendt zeigt in seinem Berlin-Film »Sonne und Beton« schonungslos und realistisch die ganze Härte des Lebens in der Neuköllner Gropiusstadt. Zugleich ist der vierte Film des in Berlin lebenden Filmemachers ein mitreißender Film über Freundschaft und das Erwachsenwerden.
Der 15-jährige Lukas (Levy Rico Arcos) käme wohl leichter in ein Spielcasino oder Stripclub, als an den Wachleuten seiner Schule vorbei. Unbarmherzig lassen sie ihn vor dem Eingang stehen, weil er sich nicht ausweisen kann. Der Tadel, den er fürs Zuspätkommen erhält, ist ihnen egal. Ihm jetzt auch die Schule, unter den Blicken seiner Mitschüler zieht er davon. Ein paar Ecken weiter trifft er auf Julius (Vincent Wiemer) und Gino (Rafael Luis Klein-Heßling), die vorschlagen, etwas Gras zu besorgen und gemeinsam zu chillen. Doch weil sie ihr Gras bei den Falschen kaufen, werden sie im Park von einer Drogengang überfallen.
Das Ganze endet übel, vor allem für Lukas, der Ärger eigentlich lieber aus dem Weg geht. »Dein ganzes Gesicht ist zerfickt«, lacht ihn ein Freund seines Bruders aus, als das Gemetzel vorbei ist. Es ist der Moment, in dem Lukas begreift, dass ihm die Weisheiten seines von Jörg Hartmann gespielten Vaters à la »Der Klügere jibt nach, dit hab’ ick dir tausendmal jesacht« im Schatten der Plattenbauten nicht helfen. Sein Bruder weiß, welche Regeln hier gelten: »Der Klügere tritt nach, merk dir das!«
In diesen wenigen Sätzen hört man schon den authentischen Sound des Milieus, in das David Wnendts raue Verfilmung von Felix Lobrechts gleichnamigem Coming-of-Age-Roman, der auch als Comic erschienen ist, eintaucht. In dieser Welt kämpft jeder für sich allein, wer auf Unterstützung hofft, hat verloren. Vernachlässigung, Rassismus, Gewalt und Kriminalität gehören hier zur Normalität. Wnendt zeigt sie so schonungslos, wie die Jungs sie erleben. Für sie ist jeder Tag ein Spießrutenlauf, den es heil zu überstehen gilt. Um damit nicht allein zu sein, hängen sie zusammen ab, machen Blödsinn, beweisen sich in albernen Männlichkeitsritualen und nähern sich ungeschickt dem anderen Geschlecht. Alles ganz normal, müsste nicht Lukas 500 Euro Schutzgeld auftreiben, um nicht noch einmal unter die Räder zu kommen.
Aber Geld ist das, was keiner von ihnen hat, nicht einmal fürs Freibad in diesem heißen Sommer reicht die Kohle. Da hat Sanchez (Aaron Maldonado-Morales), der vierte im Bund der Möchtegern-Machos, die Idee, in die Schule einzubrechen. Wenn sie die neuen PCs auf dem Schwarzmarkt verticken, wären sie auf einen Schlag ihre Geldsorgen los. Sie versuchen ihr Glück, was eine Kette fataler Ereignisse nach sich zieht.
David Wnendt ist bekannt dafür, dass er dahin schaut, wo es weh tut. Sein Langfilmdebüt »Kriegerin« handelte von der Läuterung eines brutalen Nazi-Mädchens auf dem Lande, die Verfilmung von Charlotte Roches autofiktionalem Roman »Feuchtgebiete« von den Eskapaden einer Sexbesessenen, Die Adaption von Timur Vermes »Er ist wieder da« betrachtete den Faschisten nebenan. In »Sonne und Beton« geht es um Armut, die hinter jeder Tür in anderer Gestalt lauert: als nach Pisse stinkender Hausflur, als siffige Drogenhöhle, als alleinerziehende Mutter oder prügelnder Vater.
»Jemand, der in Gropiusstadt aufwächst und dessen Eltern nicht Akademiker oder deutsch sind, fängt im Leben nicht bei null, sondern bei minus zehn an. Armut ist etwas, das alle Figuren verbindet. Armut verhindert, dass sie ihrer Situation entkommen und aufsteigen.«
David Wnendt
Wie kräftezehrend so ein Aufstieg ist, kann man an Felix Lobrecht sehen, der in Gropiusstadt groß geworden ist und dessen autofiktionaler Roman die Vorlage für das Drehbuch lieferte, an dem er selbst mitarbeitete. Wenige Wochen nach der knalligen Premiere bei der diesjährigen Berlinale verabschiedete er sich in eine einjährige Pause. Wie er in dem Podcast »Gemischtes Hack« offenlegte, leidet er unter Angststörungen, Panikattacken und ADHS, war deshalb sogar drei Monate lang in der Psychiatrie. Er habe sich tot gearbeitet, gesteht er in dem Podcast, sei seit Monaten krank und brauche dringend eine Pause.
David Wnendts vierter Kinofilm ist weit mehr als eine Ghetto- und Milieustudie wie »Knallhart« von Detlev Buck oder »La Haine« von Mathieu Kassovitz. »Sonne und Beton« ist ein Film über Freundschaft und das Erwachsenwerden, der das Lebensgefühl seiner Helden in allen Facetten einfängt und wie Bettina Blümners »Prinzessinnenbad« oder Sebastian Schippers »Absolute Giganten« lustig, hart, dramatisch und tragisch zugleich ist. Wenn der Film in den Schulalltag der Jungs eintaucht, fühlt man sich gar an Bora Dagtekins Schulkomödie »Fack ju Göhte« erinnert. Es gibt wahrlich schlechtere Referenzen. Dass der Film beim Deutschen Filmpreis trotz seiner vier Nominierungen leer ausgegangen ist, ist auf die starke Konkurrenz zurückzuführen.
Während der durchgängige Aggro-Berlin-Sound von Hiphop-Stars wie Luvre47, Lucio101, Juju, NNOC, B-Tight und anderen wie die Faust aufs Auge passt, wirkt die Bildästhetik leider seltsam fremd. Kamerafrau Jieun Yi (»O Beautiful Night«) spielt mit allen Registern, setzt auf satte Farben, harte Kontraste und spektakuläre Drohnenflüge. Ihre überwältigenden Bilder, alle in satte Farben und ein leuchtendes Glühen getaucht, sind am Ende um einiges cooler als die Jungs, um die es geht – und damit immer etwas drüber.
Die vier Newcomer, die Wendt für den Film gecastet hat, tragen ihre Rollen wie eine zweite Haut. Als sei es das Natürlichste von der Welt, spielen Levy Rico Arcos, Vincent Wiemer, Rafael Luis Klein-Heßling und Aaron Maldonado-Morales ein paar Jungs, die einfach nur cool sein, sich verlieben und auch mal über die Strenge schlagen wollen. Sie sprechen die ungeschliffene Sprache der Straße, beweisen Timing und Präsenz und strahlen die Ernsthaftigkeit aus, die einem solchen Film den Tiefgang verleiht. Sie sind keine Unschuldslämmer, alles andere als das, aber sie sind auch keine Gangster. Ihre Figuren machen sich die Siedlung zu eigen, ohne der Coolness ihre Verletzlichkeit zu opfern. Vor allem aber verleihen sie diesem Film eine zeitlose Wahrhaftigkeit, die umhaut. Großes Kino.
Eine kürzere Fassung des Texts ist im Rolling Stone 8-2023 erschienen.