Heute vor zehn Jahren hat sich Wolfgang Herrndorf das Leben genommen. Der Germanist und FAZ-Redakteur Tobias Rüther legt zum 10. Todestag eine erste Biografie vor. Darin zeichnet er Herrndorfs Weg aus der Provinz Schleswig-Holsteins nach Berlin nach und präsentiert den Autor von »Tschick« und »Sand« als Porträtmaler, Erzähler und Menschenfreund.
»Ich halte die Waffe senkrecht hoch und sehe mit offenem Mund der Kugel hinterher, sehe sie steigen, sehe sie immer kleiner und kleiner und fast unsichtbar werden im tiefdunklen blauen Himmel, bevor sie sich aus dem Verschwundensein wieder materialisiert und zu fallen beginnt, millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe.« Mit dieser physikalischen Unmöglichkeit endet Wolfgang Herrndorfs unvollendeter Roman »Bilder deiner großen Liebe«, der ein Jahr nach seinem Selbstmord erschienen ist.
Wer braucht schon physikalischen Realismus, wenn er den (populär-)literarischen eines Wolfgang Herrndorf haben kann? In gerade einmal zehn Jahren sind seine sechs Bücher erschienen, die als Teil eines gleichermaßen durchlässigen wie durchlesbaren Gesamtwerks zu verstehen sind, das ihn zu einem Solitär seiner Generation macht.
Das Gesamtwerk von Wolfgang Herrndorf
Schon in seinem flirrend-chaotischen Debüt »In Plüschgewittern« war die Road Novel angelegt, die er Jahre später mit seinem zeitlosen Klassiker »Tschick« schrieb. Diesem Aufbruchsroman wollte er mit dem Roman »Bilder deiner großen Liebe« einen Ausbruchsroman gegenüberstellen, in dem die Geschichte von dem Müllmädchen aus »Tschick« erzählt wird. Es blieb beim Fragment, das er vertrauensvoll in die Hände seiner ersten Leser:innen Kathrin Passig und Marcus Gärtner legte. Durchlässig sind auch seine das Lebensgefühl der frühen 2000er aufgreifenden Kurzgeschichten von »Diesseits des Van-Allen-Gürtels«, in denen er das Versteckspiel mit Figuren und Motiven übte, das er in seinem genial verschachtelten Wüsten-Noir »Sand« perfektionierte. Diese fünf Bücher werden zusammengehalten vom Blog »Wir höflichen Paparazzi« und seinem Schreibblog »Arbeit und Struktur«, den er nach der Diagnose eines bösartigen Hirntumors im Jahr 2010 dort auskoppelte. In ihm finden sich Gedanken, Motive, Erklärungen und Entwürfe, die zeigen, wie unmittelbar (Über)Leben und Arbeit in Herrndorfs letzten Jahren verbunden waren. Weitere Texte von Herrndorf sind in »Die Rosenbaum-Doktrin und andere Texte« sowie in dem Blogtexte versammelten Band »Stimmen« erschienen.
Vor zehn Jahren, am 26. August 2013, nahm er sich am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals – wie vor Jahren als seine Exit-Strategie angekündigt – das Leben. »Es dürfte einer der letzten Tage gewesen sein, an denen er noch zu der Tat imstande war«, schreibt Kathrin Passig im Nachwort zu »Arbeit und Struktur«.
»Es fällt schwer, Herrndorfs späte Bücher zu lesen, ohne in jedem Satz das Memento Mori lautstark herauszuhören«, schrieb Tobias Rüther in einer früheren Werkschau einmal. In seiner Herrndorf-Biografie, die nun pünktlich zum zehnten Todestag erscheint, gelingt es ihm, die Fixierung des Herrndorf-Bildes auf die überbeleuchteten Jahre im Schatten des nahenden Todes zu lösen. Bedenkt man Herrndorfs letzten Willen, grenzt es an ein kleines Wunder, dass diese Biografie nun vorliegt. »Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen. Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten. Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben«, hielt Herrndorf testamentarisch fest. Diese an Franz Kafka erinnernde Hinterlassenschaft wird es dem Germanisten und Feuilletonisten Rüther bei seinen Recherchen nicht gerade leicht gemacht haben. Und erklärt wohl auch, warum sich Kathrin Passig, Herrndorf-Vertraute und erste Leserin, nicht zum Max Brod dieser Geschichte machen wollte und sich an der Biografie nicht beteiligte. Seine Biografie basiert auf Herrndorfs Bildern und Texten sowie Gesprächen, die er mit Herrndorfs Frau, den Eltern, seinem Lektor, seinem Arzt sowie mit zahlreichen Freunden und Weggefährten wie Calvin Scott, Holm Friebe, Per Leo oder Lars Hubrich führen konnte.
»Wolfgang Herrndorfs Künstlerblick ist ein Kinderblick gewesen, lebenslang«, schreibt Rüther schon auf der zweiten Seite seiner Biografie. Dies ergänzt er mit einer Art Erweckungsmoment à la Steven Spielberg, über den Herrndorf fünfundzwanzig Jahre später auch in seinem Blog schrieb. Da beobachtet er mit zwei Jahren aus seinem Gitterbett, wie »durch ein pfenniggroßes Loch in der Jalousie bereits der frühe Morgen [in sein Zimmer] hineinflutet.« Es ist der erste bewusste Blick in den Himmel von Garstedt, wo Rüther aufwächst. Dieser Himmel wird, wie Rüther zeigt, in unzähligen Gemälden, Buchillustrationen und nahezu allen Texten auftauchen. Der Erzähler in den »Plüschgewittern« beobachtet im Kornfeld liegend »am Himmel die Wolken, unglaublich hoch«, seine jugendlichen Held:innen Maik, Tschick und Isa schauen immer wieder in »die Sterne mit ihrer unbegreiflichen Unendlichkeit« und auch der Ich-Erzähler in der den posthum erschienenen Band »Stimmen« eröffnenden Erzählung greift die frühkindliche Erinnerung an das Garstedter Panorama – oben blauer Himmel, unten gelbe Felder – auf: »Der Himmel war von Licht gesprenkelt, die Bäume waren hoch, die Felder gelb.« Dass selbst der Blick im letzten Satz des unvollendeten Romans gen Himmel geht, ist hier mehr als eine Pointe.
»Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet«, bekannte Herrndorf zu einem späteren Zeitpunkt. Seinen Bestseller »Tschick« bezeichnete er im Blog als »Projekt Regression: wie ich gern gelebt hätte«. Dieser sentimentale Blick zurück prägt nicht nur sein Schreiben, sondern auch seine kunstgeschichtliche Orientierung während seines Studiums der Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Im Gegensatz zu seinen Kommiliton:innen hält er von der Moderne nichts, die Alten Meister und ihr Drang, »wirklicher als die Wirklichkeit« zu malen, sind sein Maßstab. Allen voran der Niederländer Jan Vermeer, auf dessen Werk Herrndorf für die Titanic (und für einen Helmut-Kohl-Karikaturen-Kalender) mehrfach zurückgreifen wird. Auch das Selbstporträt auf dem Buchdeckel ist voller Anspielungen auf Vermeer.
Die ersten Kapitel von Rüthers Biografie, die Herrndorfs Lehrjahre als Kunststudent, »Porträt- und Schlachtenmaler«, Karikaturist und »Buchumschlagdekorateur« aufgreifen, gehören zu den spannendsten. Sie entschlüsseln nicht nur das immer wiederkehrende Motiv des Himmels im malerischen Werk, sondern auch die Herkunft der »scheuen sozialen Grundausstattung Herrndorfs«, mit der Herrndorf immer wieder in seinem Umfeld auffällt.
Für seinen Schritt von der Kunst zur Literatur waren vor allem sein Umzug nach Berlin und seine Aktivitäten bei den »höflichen Paparazzi«, der »Zentralen Intelligenz Agentur« (und ihren »Bunny Lectures«) sowie in der Autoren-Nationalmannschaft entscheidend. Die ZIA spielte auch eine gewichtige Rolle bei seiner Auszeichnung mit dem Publikumspreis in Klagenfurt. Nach den Erfolgen der weiteren ZIA-Mitglieder Kathrin Passig (2006) und Tex Rubinowitz (2014) dachten nicht wenige, »diese Internetleute« aus Berlin hätten den Algorithmus von Klagenfurt geknackt. Für Herrndorfs literarischen Werdegang waren neben seinen Säulenheiligen Karl Philipp Moritz, Stendhal, Marcel Proust, Bret Easton Ellis oder Karen Duve die höflichen »Pappen« entscheidender als die Klagenfurter Auszeichnung. Ihr Online-Forum verstand er als Testlabor und Korrektorat, es »produziert Text – und die Textkritik immer gleich mit«, beschreibt es Rüther.
»Ich schreibe sehr schnell was runter, aber hinterher, dieses Drehen an den Stellschrauben, wenn man Figuren und Handlung feinjustiert, das ist ein großer Spaß«, hatte Herrndorf in einem Interview 2007 gesagt. Die »Pappen« wissen, welche Blüten dieser Spaß treiben kann. Kathrin Passig erinnert sich in ihrem »Porträt des Künstlers als erfolgloser Autor« daran, dass sie jahrelang gespottet hätten, »Herrndorfs Arbeitstag bestehe darin, das Komma auf Seite 203 herauszunehmen und nach reiflicher Überlegung doch wieder einzubauen.« Seine Produktivität nach der tödlichen Diagnose im Frühjahr 2010 führt Rüther nach Gesprächen mit Freunden und Herrndorfs Lektor darauf zurück, dass er aufgrund der ihm verbliebenen Restzeit entschlossener textliche Entscheidungen traf.
Das Spätwerk von Wolfgang Herrndorf
Herrndorfs Berliner Jahre sind vielfach verarbeitet, auch weil sie in den nach wie vor zugänglichen Blogs der »höflichen Paparazzi« oder »Arbeit und Struktur« nachvollziehbar sind. Rüthers hebt hier in seiner Biografie noch einmal die immense Bedeutung des Lebens im Literaturbetrieb hervor (»Das ist alles ein einziger Sumpf hier, in den man nur einmal hineingeraten muss.«), erweitert Herrndorfs Internetbiografie mit der konkreten Existenz in Berlin (»Mit klugen Leuten dummes Zeug reden«) und führt das nervenaufreibende Neben- und Ineinander von Hoffen und Schreiben vor Augen. Das ist schon aufgrund der existenziellen Zuspitzung niemals langweilig.
Die Text-Exegese, die Rüther mit Rückgriff auf Manuskripte und frühere Fassungen für jeden Text betreibt, erschließt Herrndorfs in sich geschlossenes und zugleich in alle Richtungen hin offenes Werk wie nie zuvor. Allerdings würde man sich an manchen Stellen mehr Abstand wünschen. Die Verehrung, die aus dieser Biografie dringt, wird der Notwendigkeit einer kritischen Betrachtung nicht immer gerecht. Ein Beispiel: »Wolfgang Herrndorf daddelt nicht herum. Er wird niemals bei irgendwas herumdaddeln, und selbst wenn er ein Computerspiel zockt, wir er bei der Sache sein (oder direkt selbst ein Spiel programmieren).« Dazu kommen Sätze wie »Und weil es keine Zufälle im erzählerischen Werk von Wolfgang Herrndorf gibt, und falls doch, dann nur inszenierte,…« oder »Herrndorfs Kindheit und Jugend mag nicht so weit entfernt gewesen sein von der Welt, die er sich in «Tschick» für Maik und Tschick ausmalt«, die mehr Behauptung als Beleg sind.
Das gilt auch für die literarischen Referenzen, die Rüther zu entschlüsseln beansprucht. Auch hier wird an mancher Stelle unterstellt, statt gezeigt. Die Erklärung dafür liefert er gleich mit. »Er (Herrndorf) kann das, was aus der Lektüre und dem Leben in seine Stoffe einfließt, so präzise zu Text formen, dass man die Übergänge nicht mehr sieht.« Ein Biograf müsste diese Übergänge sichtbar machen. Das macht er auch immer wieder, aber eben nicht durchgängig. So greift er vermeintliche Ernst-Jünger-Bezüge in Herrndorfs Debüt »In Plüschgewittern« auf, von deren Existenz nicht einmal Herrndorf wusste. Zumindest legt dies eine Anekdote nahe, die Kathrin Passig in ihrem »Porträt des Künstlers als erfolgloser Autor« (gedruckt in Band 1 der Gesamtausgabe) festhielt. Sie berichtet, wie Herrndorf ihr verwundert erzählte, das eine Lektorin Jünger-Referenzen entdeckt haben will. »Sind die denn drin, die geheimen Bezüge?, hatte Passig ihn daraufhin gefragt. Herrndorf antwortet: »Ich habe sie auch nie bemerkt. Aber angeblich würde der Erzähler dauernd im Straßengraben liegen, wie im Stellungskrieg.«
Dass im Laufe der 400-seitigen Biografie auch so manche Wiederholung auftaucht, will man dem Autor nicht zur Last legen. Hier hätte ein aufmerksames Lektorat geholfen. Von diesen Details abgesehen ist Rüther eine solide Biografie gelungen, die sich in den mit Zitaten überschriebenen Kapiteln sogar eine stilistische Anleihe bei Herrndorf (und Stendhal) nimmt. Rüther präsentiert den »größten deutschsprachigen Schriftsteller seiner Generation« als träumenden Jungen und malenden Bilderstürmer, als gewitzten Schelm und höflichen Paparazzi, als traditionellen Briefeschreiber und Digitalpionier. Man begegnet hier dem mit dem Literaturbetrieb spielenden und fremdelnden Autor, dem schreibenden Perfektionisten und ironischen Realisten, dem lustigen Pragmatiker und empathischen Menschenfreund. Dem Mann, der in seinem letzten selbstbestimmten Moment die Waffe nicht senkrecht in den Himmel, sondern gegen sich selbst richtete, um sich »ohne Mühe aus einem Nichts ins Nichts hineinzukatapultieren«.
»Der Mensch lebt in seiner Vorstellung, und nur dort«, steht in den Fragmenten zum Blog »Arbeit und Struktur«. Wolfgang Herrndorf hat das verstanden. Und auch, dass die Gesetze der Physik in dieser Vorstellung keine herausragende Rolle spielen.
Eine kürzere Version des Textes ist im Freitag erschienen.