Allgemein, Literatur, Roman

Kontinent des Elends

Svealena Kutschke geht in ihrem Roman »Gewittertiere« der Frage nach, wie sich familiäre Traumata und gesellschaftliche Prägungen im Menschen fortschreiben.

Um die Wiedervereinigung ranken sich die verrücktesten Geschichten, Svealena Kutschke setzt mit dem Ausgangspunkt ihres neuen Romans eins oben drauf. Die in Berlin lebende Autorin erzählt in »Gewittertiere« die Geschichte der Geschwister Colin und Hannes, die in der Einöde einer kleinstädtischen Reihenhaussiedlung in der DDR aufwachsen. Als in Berlin die Mauer fällt und ein ganzes Volk die Freiheit feiert, beginnt ihr Vater, im Familiengarten einen Bunker zu bauen und sich einzuigeln. Die Möglichkeiten, die sich ihm und anderen bieten, werden für ihn zur Bedrohung. »Ihr werdet schon sehen, was da noch so alles rüberkommt, wo die Mauer weg ist«, sagt er seiner Familie, als die ihn rätselnd fragt, warum er sich im familieneigenen Garten vergräbt. Das absurde daran: Während der rechte Terror durch das vereinte Deutschland walzt – literarische Anspielungen auf die rechtsextremen Anschläge in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und Mölln verweisen darauf – fühlt sich Familienvater Martin von der Welt bedroht. »Hier verbrennen Asylbewerber, und du baust deiner Familie einen Bunker!«, wird Colin ihm später einmal sagen.

Der Rückzug in die trügerische Sicherheit eines Bunkers schreibt sich Colin ins Gedächtnis ein. Wenn sie sich später an ihre Kindheit erinnerte, »hatte sie den Garten immer als Baustelle vor Augen, eine Grube, die immer tiefer und breiter wurde, die Betonmischmaschine auf der Terrasse, die poolblaue Plane, die das Loch bedeckte.« Der Bunkerbau ist das steingewordene Symbol der Niederlage des Vaters vor der neuen Welt, die sich ihm und der Familie bietet. Und mit jedem Meter, den er sich in die Tiefe buddelt, rückt er weiter von ihrer Welt weg. »Alle drei waren ihm angenehm entrückt. Er war sich selbst angenehm entrückt, seiner Rolle als Vater, seiner Rolle als Ehemann. Er war nur noch ein Körper in einer Baustelle. Ein Körper zwischen hölzernen Wänden auf glattem Beton, die Sonne erhitzte die Plane über seinem Kopf und machte die Luft angenehm schwer. Eine sanfte Trägheit bemächtigte sich seiner. Er fühlte sich fast alterslos. Ein Mann ohne Geschichte.«

Svealena Kutschke: Gewittertiere. Claassen Verlag 2021. 368 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen.

Dabei bräuchte die Familie den Vater. Colin und Hannes rebellieren gegen ihren Körper, jede:r auf seine Weise. Hannes etwa wird seit der 1. Klasse in der Schule regelmäßig verprügelt, Colin sieht dem hilflos zu. Ihr Bruder reagiert mit Rückzug, Eigenbrötlerei und schlechten schulischen Leistungen. Als er dafür zuhause angezählt wird, platzt es aus Colin heraus: »Hannes kann gar nichts dafür, dass er so schlecht in der Schule ist, der wird immer geärgert! Der wird verprügelt von den anderen, einmal haben sie sogar seinen Kopf ins Klo gesteckt.« Eine Aussage wie ein Leberhaken, der Colins ohnehin ängstlichen Vater kalt erwischt. »Aber das geht doch nicht!«, presst er mit brüchiger Stimme hervor, um fassungslos vor der Wirklichkeit zu kapitulieren.

Um die Kapitulation vor der Wirklichkeit angesichts der Umstände, in denen sich die Figuren bewegen, geht es in »Gewittertiere« immer wieder. Denn die Berliner Autorin, die zuletzt mit »Stadt aus Rauch« ein weitverzweigtes Familienepos vorgelegt hat, schreibt in ihrem vierten Roman umwerfend konsequent über Herkunft und Trauma. Das Loch im Garten wirkt sich auf die einzelnen Familienmitglieder aus, seine raumgreifende Leere und Sinnlosigkeit wird im Laufe der Jahre, die der Roman Colin und Hannes in ihren Randexistenzen beobachtet, in ihre Körper kriechen. Das damit einhergehende Gefühl, für diese Welt nicht genug zu sein, werden die beiden Geschwister ebenso wenig abschütteln wie die Verhältnisse, aus denen sie kommen. Als sie, längst erwachsen, in Berlin leben, heißt es: »Hannes und Colin hockten wie angeschossene Tiere in ihren Höhlen, sie waren die Sorte von Kleinstädtern, die in Berlin einfach untergingen, ertranken, ohne Luftblasen zu hinterlassen. Sie mieteten irgendein Loch und gingen darin relativ schweigsam kaputt, ohne viel Chaos anzurichten.«

Wenn sie selbst nicht ertrinken, sehen sie anderen dabei zu – Colin als Kassiererin im Späti, Hannes als Schuldeintreiber. Colin wird dabei Zeuge des Elends auf den Straßen Berlins. Obdachlose, Alkoholiker und Glückssucher gehören zu ihrer täglichen Kundschaft. Jede:r von ihnen könnte zuvor Hannes begegnet sein, dessen Job darin besteht, Mietschulden ein- oder Schuldner aus ihren Wohnung zu treiben. Täglich wühlt er in Dreck und Armut, begegnet verwahrlosten und aufgegebenen Menschen. Und mit jedem Tag ähnelt er ihnen mehr. Irgendwann trinkt er schon morgens im Auto das erste Bier, bevor er den Dienst antritt. »Er fragte sich schon lange, warum so ein Magen nicht einfach irgendwann resignierte, warum ihm noch immer schlecht wurde von Bier und Zigaretten, wieso sein Magen sich noch die Mühe machte, Signale hochzusenden. Ein alter Kämpfer, ganz im Gegensatz zu ihm.« Er wird später bei einer Frau einziehen, die er nicht lange liebt, und sie seinen Selbsthass spüren lassen.

Seine Schwester wohnt erst in Westberlin, zieht dann in die Nähe des Bruders in den Prenzlauer Berg. Nachdem sie als Jugendliche gegen ihren Körper rebelliert hat, lernt sie nun in den Armen anderer Frauen ihren Körper neu kennen und akzeptieren. Ihre Liebe fällt stets auf starke, selbstbewusste Frauen, an deren Seite sie selbst ein Stückchen wächst. In ihrer sexuellen Identität erfährt sie die gesellschaftliche Gewalt konkret. Sie war in einem Land aufgewachsen, »das nie vom verletzlichsten, sondern immer vom machtvollsten Körper her dachte. In einem Land, das mehr Mitgefühl mit demjenigen hatte, der ein Haus anzündete, als mit dem Menschen, der in diesem Haus verbrannte. In einem Land, das einen ungeheuren Zorn hatte auf die Überlebenden, die eine andere Geschichte erzählen wollten. Das die Not anderer als Provokation sah.« Und wie diese Not aussieht, wie sie sich denen zeigt, die sie erleben, und vor denen verbirgt, die sich über sie erheben, zeigt dieser Roman eindrucksvoll auf. »Gewittertiere« macht deutlich, wie die permanente Ausgrenzung und Diskriminierung von Anderen diese selbst zu den Schuldigen einer Wut macht, die nur wieder auf sie zurückschlägt. Und Colin macht das mit jedem Tag wütender.

»Die Annahme, dass die Gewalt eine Reaktion sei, dass die Gewalt provoziert wurde, und zwar von denjenigen, die sie dann traf. Diese Schuldumkehr, die älteste Verdrehung der Welt, dass Menschen im Mittelmeer ertranken, während man davon sprach, die Ängste der besorgten Bürger ernst nehmen zu müssen, und überhaupt, wie man dazu komme, immer anzunehmen, Wähler rechter Parteien seien nur frustriert, nicht etwa rassistisch, diese Infantilisierung erwachsener Menschen und diese Distinktion, als sei das Rechte immer nur das Kraut, das in den Ritzen des Asphalts saß, dabei sei das Rechte doch gerade bei den Intellektuellen zu finden, gerade in der gesellschaftlichen Mitte.«

Diese Gewalt richtet sich stets gegen den Körper, in ihr steckt eine Feindlichkeit gegen das Physische, die den gesamten Roman durchzieht. In ihren Knast- und Psychiatriekörpern schleppen sich Hannes und Colins durch eine Welt, die auf solche wie sie mit Gewalt reagiert. Während Hannes sich einen undurchdringlichen Panzer anlegt, reagiert Colin mit Rückzug ins Private.

Svealena Kutschkes überaus politischer Roman erzählt aus einer beobachtenden Perspektive von verdrängten und ignorierten Wahrheiten. Die Geschichte führt das erdrückende Wohlstandsversprechen im Osten wie auch den gesamtdeutschen Ausländerhass vor Augen. Vor allem aber zeigt der Roman, wie sich Scham in der prekären Existenz immer durchsetzt und in den Körper frisst. In den hellen Stunden gebiert sie einen trotzigen Stolz, in den dunklen reibt sie Salz in die wunde Seele.

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