Die syrische Journalisten Waad Al-Khateab hat jahrelang den syrischen Bürgerkrieg in Aleppo mit der Kamera festgehalten und das Leben in einem der letzten freien Krankenhäuser begleitet. Ihr mehrfach ausgezeichneter Film »For Sama« ist ein Monument der Menschlichkeit.
Wütend macht dieser Film. Schrecklich wütend. Auf die so genannte internationale Gemeinschaft, die seit Jahren dem Bürgerkrieg in Syrien zusieht – nicht zuletzt in diesen Tagen auch wieder, da die westsyrische Provinz Idlib kurz vor neuen kriegerischen Auseinandersetzungen steht. Auf die deutsche Gesellschaft, die zwar millionenfach für den Klimaschutz auf die Straße geht, aber kaum einen Gedanken (geschweige denn eine Großdemonstration) an die Menschen in Syrien verschwendet. Es sei denn, man wollte über Flüchtlinge und deren angebliche Unzumutbarkeit für unsere Wohlstandsgesellschaft diskutieren. Wenn für den Schutz vermeintlich europäischer Werte gerade Tränengas und Schusswaffen gegen vor Krieg und Verfolgung fliehende Menschen eingesetzt werden müssen, dann ist es nicht weit her mit diesen Werten. Und nicht zuletzt weckt »For Sama« die Wut auf einen selbst, weil dieser Film die eigenen Verdrängungsprozesse so bewusst werden lässt. Und zwar so sehr, dass einem Schames- und Zornestränen in die Augen steigen.
Zugleich löst »For Sama« ein unglaubliches Entsetzen aus. Entsetzen darüber, was die Menschen, die Waad Al-Khateab gefilmt hat, durchmachen müssen. Die junge Journalistin hat sie dabei gefilmt, wie sie dem Regime des syrischen Diktators Baschar Al-Assad trotzen, indem sie auf den zerbombten Straßen Aleppos versuchen, einen Alltag zu schaffen. Wie sie vor dem Bombenhagel, der immer wieder auf die Stadt und ihre Bewohner niedergeht, in Keller und Sicherheitsräume fliehen. Wie sie in Trümmern nach Überlebenden suchen und Schwerverletzte in Aleppos letztes Krankenhaus – betrieben von Waads Ehemann, dem jungen Mediziner Hamza Al-Khateab – schleppen. Wie dort die wenigen Ärzte und vielen Freiwilligen knöcheltief in Blutlachen stehen und um jedes Leben kämpfen. Wie der Tod zum Teil des Alltags wird und der Schmerz zu einem dauerhaften Begleiter in dieser umkämpften Stadt. Al-Khateabs Dokumentarfilm zeigt schonungslos die grausame Realität des syrischen Bürgerkriegs.
Der Film ist eine Art Nachlass für Sama, die erste Tochter von Waad und Hamza Al-Khateab, die die junge Journalistin während des syrischen Bürgerkrieges in Aleppo zur Welt bringt. »For Sama« soll dem kleinen Mädchen irgendwann einmal erklären, warum ihre Eltern in der Stadt bleiben mussten und nicht wie viele andere fliehen konnten. Die mit einer simplen Handkamera gedrehten Bilder führen von den Protesten an der Universität Aleppo zu den Massakern an der Zivilbevölkerung durch Assads Schergen, von der Befreiung der Stadt durch die »Rebellen« über die Einnahme Aleppos durch Islamisten bis hin zur brutalen Belagerung und Rückeroberung durch die von Russlands Bombern unterstützten Regierungstruppen. So dokumentiert der Film, was in Aleppo zwischen dem Frühjahr 2011 und dem Winter 2016 geschehen ist.
Der Krieg breitet sich hier nicht schleichend aus, sondern schlägt, wie die Granaten und Bomben, die unablässig auf die Stadt niedergehen, immer wieder brutal in die Bilder ein. Das Ausmaß der materiellen Zerstörung macht Waad Al-Khateab sichtbar, wenn sie in den Feuerpausen eine Kameradrohne in die Lüfte schickt und die Ruinenpanoramen der Stadt einfängt. Viel wichtiger noch als diese Trümmersnapshots ist die Abbildung der Zerstörung, die der Krieg an und in den Menschen anrichtet. Um diese zu zeigen, musste Al-Khateab immer wieder die eigenen Grenzen des Ertragbaren überwinden und auch dann noch mit ihrer Kamera filmen, als schon alles in ihr danach schrie, die Augen vor dem ausgebreiteten Grauen zu verschließen. Etwa als zwei Brüder – beide noch keine Teenager – sich im Krankenhaus von ihrem kleinen Bruder verabschieden müssen. Man blickt durch die Kamera in die tränennassen Augen der beiden Geschwister, die es einfach nicht fassen können und sich schluchzend über den leblosen Körper ihres Bruders beugen. Waad Al-Khateab hält auch dann noch die Kamera auf das Geschehen, als die Mutter des Jungen, Mohammed Ameen ist sein Name, eintrifft und unter Wehklagen ihren toten Sohn nach Hause trägt. Danach sieht man einen weinenden Arzt auf einem Krankenbett sitzen. »Kinder haben doch mit all dem nichts zu tun«, schluchzt er.
Waad Al-Khateabs Mann Hamza ist zu Beginn des Films einer von 32 Ärzten, die noch in Aleppo leben. Als es zu Beginn der Aufstände darum ging, zu gehen oder zu bleiben, entschied er sich dafür, zu bleiben und verließ seine langjährige Partnerin. Im Laufe der ersten Kriegsmonate nähern sich der Arzt und die Journalistin an. Später versprechen sie einander, heiraten und bekommen mit Sama ihr erstes Kind. Als das so weit ist, leitet Hamza schon eine der letzten neun Kliniken in der Stadt. Im Dezember 2016 ist seine – zu diesem Zeitpunkt längst geheime – Klinik die letzte, die noch existiert. Alle anderen sind vom Assad-Regime bereits zerstört.
Die Klinik wird Zentrum des Films, auch weil es irgendwann zu gefährlich ist, Freunde und Bekannte in der Stadt zu besuchen. In der Klinik treffen sich Familie und Freunde (die irgendwann Familie sind), hier stehen die Mutigen und Tapferen Seite an Seite und kämpfen einen verzweifelten Kampf für die Menschen in Aleppo. Hier prallen die Schicksale aufeinander, beginnt und endet Leben, fließen Tränen des Glücks und Tränen des Schmerzes. Manchmal, so kommentiert die Regisseurin nach einem besonders verlustreichen Tag, fühlt es sich so an, als würden hier alle »blutige Tränen« weinen.
In einer anderen Szene sieht man, wie der Mann von Waads bester Freundin seine Kinder ins Bett bringt. Die Gute-Nacht-Geschichte, die er ihnen erzählt, handelt von Bombenangriffen und den Verlusten, die ein kleiner Junge erleidet. Nicht nur, weil das die grauenhafte Normalität für die Kinder dieses Krieges ist, sondern weil die Moral dieser Geschichte davon handelt, dass das Heulen der Granaten ein anderes ist als das der Sirenen. So lernen die Kinder noch beim Zubettgehen, wann sie alles stehen und liegen lassen müssen, um in den nächsten Schutzraum zu rennen.
Es ist dieses Nebeneinander von Privatem und Öffentlichem, von Liebe und Krieg, von Freundschaft und Zerstörung, von Hoffnung und Not, das diesen Film so unmittelbar bedrückend macht. Die Menschen, die Waad Al-Khateab gefilmt hat, sind Menschen wie du und ich, die von einem Tag auf den anderen damit konfrontiert sind, um ihr Leben und das ihrer Liebsten zu kämpfen. Die plötzlich vor der existenziellsten aller Fragen stehen: weglaufen und das Leben um jeden Preis retten? Oder bleiben und für das Leben kämpfen, für das es sich zu kämpfen lohnt.?Die Ängste und Zweifel, die mit dieser Frage einhergehen, bringt die Regisseurin und Journalistin zu Sprache, indem sie aus dem Off für ihre Tochter Sama kommentiert, was ihr durch den Kopf geht.
»For Sama« gewann bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes 2019 den Preis für den besten Dokumentarfilm, wurde bei den britischen BAFTA-Awards ausgezeichnet und war für einen Oscar nominiert. Im Gegensatz zur die Geschehnisse in einer Wohnung während des syrischen Bürgerkrieges einfangenden Doku-Fiktion »Innen Leben« von Philippe van Leeuw, die 2017 bei der Berlinale völlig zurecht mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde, zeigt Waad Al-Khateab vom heldenhaften Überleben der einfachen Menschen in Aleppo – auf der Straße, in ihren Wohnungen und in der klandestinen Klinik ihres Mannes Hamza. Ihren Blick wendet sie den Menschen zu, während die Ereignisse mit den Jahren des andauernden Krieges vorbeiziehen. Man kann diese Perspektive weiblich nennen, sie ist aber vor allem dezidiert menschlich.
Als im Dezember 2016 Aleppo fällt, wissen Waad und Hamza sowie ihre Freunde und Weggefährten, dass sie die Stadt verlassen müssen, wollen sie nicht in die Hände der mordenden Regierungstruppen geraten. Denn als Betreiber einer illegalen Klinik, die allen hilft, stehen sie längst auf der Liste der Regierungsfeinde. Verzweiflung macht sich breit, Tränen fließen, Angst packt jene, die jahrelang der Furcht getrotzt haben. Und dennoch bieten sie ihr noch einmal entschlossen die Stirn, evakuieren in den bereitgestellten Bussen erst alle Patienten und Helfer, bevor sie versuchen, sich selbst in Sicherheit zu bringen.
»Es geht nicht um den Platz, sondern um all die Menschen«, sagt Hamza mit Tränen in den Augen, als er seine Klinik schließen muss. Mit der Klinik drohen sie in der Geschichte der Zeit zu verschwinden. »For Sama« gelingt es, das zu verhindern. Der Film baut den Menschen ein Denkmal, die in dieser Klinik gearbeitet, gelebt und (manche vergeblich) um anderer Leben gekämpft haben. Aber auch jenen, die dies in anderen Teilen von Syrien getan haben und noch jeden Tag tun. Weil sie etwas wollten, was wir ganz selbstverständlich (und zuweilen selbstvergessen) genießen: Freiheit!
Spät in der Nacht verlassen Hamza, Waad und Sama Al-Khateab im eigenen Auto die Stadt. Wenige Stunden zuvor aber ging Waad noch einmal auf die Straße und schickt ihre Kamera in den Himmel über Aleppo. Schnee liegt über den Ruinen der Stadt, es wirkt nahezu friedlich. »Die Menschen, die ich gefilmt habe, werden mich nie verlassen«, kommentiert ihre Stimme aus dem Off. Ihr Film sorgt dafür, dass sie auch uns nicht verlassen. Und dass wir Wut und Scham darüber empfinden, über all das hinweggesehen zu haben. Ja, es die Zeit, damit aufzuhören, ist längst gekommen. Bis jetzt nicht genau hingesehen zu haben, mag kein Ruhmesblatt sein. Aber es ist kein Grund, nicht jetzt endlich damit anzufangen und zu handeln.
[…] Hier meine ausführliche Kritik. […]
[…] Rote Tränen für Aleppo […]