Mai 2020, Latakia, Syrien. Die Sonne scheint, die Wellen rauschen, Freunde sitzen beieinander. Wüsste man nicht, dass in diesem Land ein Krieg tobt, man könnte es für den Augenblick fast vergessen. Doch die Tatsache, dass ich all das in Berlin auf meinem Handy sehe, ruft die Wirklichkeit in Erinnerung. 2.500 Kilometer Luftlinie entfernt wendet sich der syrische Autor Khaled Khalifa vom Meer ab und geht in das Strandhaus seiner Freunde. Er darf deren Internetzugang nutzen, um mit mir via WhatsApp über seinen neuen Roman »Keine Messer in den Küchen dieser Stadt« und den Seelenzustand der Syrer im zehnten Jahr des Bürgerkriegs zu sprechen.
Herr Khalifa, wir telefonieren über WhatsApp. Ist das ein sicherer Weg, miteinander in Kontakt zu treten?
Ja, machen Sie sich keine Sorgen, wir können frei sprechen.
Wie und wo leben Sie momentan in Syrien?
Seit Corona lebe ich in meinem kleinen Haus in Latakia am Meer. Es ist sehr einfach eingerichtet, deshalb bin ich gerade bei Freunden im Haus. Die haben im Gegensatz zu mir Strom und Internet. Dennoch geht es mir hier ganz gut, ich habe alles, was ich brauche und bin gesund.
Die Welt ist vom Corona-Virus völlig lahmgelegt. Wie wirkt sich das Virus auf den Alltag in Syrien aus?
Die Situation ist für uns Syrer sehr schwierig. Sollte Corona hier wirklich ausbrechen, dann geht das schlimm aus. Wir sind nach all den Kriegsjahren am Ende unserer Kräfte. Dazu kommt, dass es gibt hier keine medizinische Versorgung gibt, die Menschen sind ganz auf sich allein gestellt. Aber bis jetzt sind wir zum Glück verschont geblieben. Es kann ja auch niemand das Virus von außen hierher bringen, denn es gibt keinen Flugverkehr. So seltsam das klingt, aber das ist gerade unser Vorteil. Deshalb sind unsere Herzen bei all denen, die dem Virus ausgesetzt sind. Ich denke gerade viel an meine Freunde in Deutschland, in Italien und überall anders auf der Welt. Die Welt ist gerade ein Dorf, wir stehen alle vor der gleichen Herausforderung. Vielleicht ist das auch eine Chance.
Wir sind es leid, immer wieder auf den Tod zu warten. Wir wollen einen Neuanfang, wollen in die Zukunft aufbrechen.
Khaled Khalifa
Ich verstehe, was Sie meinen. Allerdings ist der Kampf gegen das Virus kein Krieg, wie die Syrer ihn seit fast zehn Jahren erleben.
Naja, es ist eine andere Art Krieg. Aber Sie haben schon recht, für uns Syrer stellt sich das anders dar. Mit Corona ginge für uns das Sterben einfach weiter. Nach zehn Jahren Bürgerkrieg würde es immer noch nicht aufhören. Das wäre schrecklich. Denn wir sind es leid, immer wieder auf den Tod zu warten. Wir wollen einen Neuanfang, wollen in die Zukunft aufbrechen. Wir wissen nur nicht, wann diese neue Zeit beginnt, auf die wir alle warten. Das ist schwer auszuhalten.
Viele syrische Künstler haben das nicht ausgehalten und sind in den vergangenen Jahren geflohen. Warum haben Sie sich dafür entschieden, in Syrien zu bleiben?
Das ist mein Land, ich konnte nicht anders. Mein Herz ist hier bei meinen Landsleuten. Hier zu leben war in den letzten Jahren manchmal kaum auszuhalten. Aber ich bin ein syrischer Schriftsteller und gehöre hierher. Das war mir vom Tag der ersten Aufständen bewusst. Und ich will hier sein, wenn der Tag kommt, an dem dieses Land in die Freiheit aufbricht.

Was beschäftigt Sie im Moment am meisten?
Mich wühlt auf, dass wir einfach nicht zur Ruhe kommen. Der Krieg ist ja immer noch nicht beendet. Wir haben in den vergangenen Jahren mehrere Invasionen erlebt; die Russen, die Türken, die Amerikaner, alle mischen hier mit. Über dieses Land bestimmen gerade nicht wir Syrer, sondern andere. Das beunruhigt mich sehr.
Sie haben während des Krieges viel Zeit in Damaskus verbracht. Wie gefährlich war dort der Alltag.
Nun ja, gewiss nicht so gefährlich wie das Leben in Aleppo. Aber um ehrlich zu sein, der Krieg ist immer gefährlich, ganz egal, wo man sich aufhält. Es gibt einfach keine Sicherheit hier in Syrien, nicht in Damaskus, nicht in Latakia und schon gar nicht in Aleppo. Ich habe mehrmals Bombardements und Luftangriffe erlebt, manchmal sind nur wenige Meter von mir entfern Granaten eingeschlagen. Besonders schlimm war es zwischen 2013 und 2015, als fast ununterbrochen Angriffe geflogen wurden. Es gab Nächte, da hielten mich die Bomben wach, heute sind es die Erinnerungen an diese Zeit, die mich nicht schlafen lassen. Und so geht es vielen. Neun Jahre Krieg hinterlassen einfach deutliche Spuren.
Mich interessiert als Schriftsteller am meisten das Leben in Syrien unter der Diktatur.
Khaled Khalifa
Wie sehr sind diese Spuren denn in Ihre Literatur eingedrungen?
Bislang spielt der Krieg nur in meinem Roman »Der Tod ist ein mühseliges Geschäft« eine Rolle, alle anderen Bücher handeln von anderen Zeiten. Mich interessiert als Schriftsteller am meisten das Leben in Syrien unter der Diktatur.
Darum geht es auch in Ihrem neuen Roman »Keine Messer in den Küchen dieser Stadt«.
Ja, und auch in all meinen anderen Romanen, die noch nicht in Deutschland erschienen sind. Ich bin mit dieser Zeit auch noch nicht fertig. Sie zieht mich immer wieder magisch an. Auch jetzt, in diesen Tagen und Wochen. Ich sitze gerade an einem Buch, dass in der selben Zeit spielt wie mein neuer Roman. Es wird wieder um das Leben in der Diktatur in den achtziger und neunziger Jahren gehen, nur die Perspektive wird eine andere sein.

Warum zieht Sie diese Zeit so magisch an?
Die Jahrzehnte unter sowjetischem Einfluss prägen uns wie kaum eine andere Zeit, bis heute. Mit den Kriegsjahren kam das nächste Trauma für unsere Gesellschaft. Wenn der Krieg vorbei ist, werden viele Bücher über die jüngere syrische Geschichte geschrieben. Es werden Filme und Theaterstücke entstehen, da bin ich mir sicher. Wir haben hier noch so viel aufzuarbeiten.
Wie meinen Sie das?
Wenn wir unsere Geschichte nicht verstehen, verstehen wir auch die Gegenwart nicht. Das gilt für uns Syrer umso mehr, denn man darf nicht vergessen, dass wir zwischen 1946 und 1966 mal ein unabhängiger demokratischer Staat waren. Daran kann man sehen, dass wir Syrer die gleichen Träume hatten wie die Menschen in der Schweiz oder in Deutschland. Um zu verstehen, warum sich diese nicht erfüllt haben, ist es wichtig, sich die Geschichte genau anzusehen. Und da erkennen wir, dass sich nicht nur in Syrien, sondern in der gesamten arabischen Welt antidemokratische politische Strukturen durchgesetzt haben. Es scheint fast so, als wäre die Demokratie in der arabischen Welt nicht erwünscht.
Literatur lässt uns erfahren, was andere erlebt haben. Sie lässt uns verstehen, was Menschen empfinden – im Guten wie im Schlechten.
Khaled Khalifa
Was bedeutet es für Sie als Autor, solche politisch brisanten Themen in ihrer Literatur zu verarbeiten?
Es gibt Leute, die sagen, meine Bücher sind wie Haschisch. Sie sind verboten, aber unter dem Ladentisch kann man sie überall bekommen. (lacht) Spaß beiseite, meine Bücher sind hier verboten. Ich schreibe dennoch, was ich schreiben will. Das lasse ich mir nicht nehmen. Meine Bücher finden trotz Zensur ihre Leser, ob im Original oder als Kopie auf dem Schwarzmarkt ist mir egal.
Welchen Wert hat Literatur im Krieg?
Ganz einfach, sie macht unser Leben erträglicher. Wir haben alle Fragen an das Leben, in der Literatur finden wir Antworten. Ohne Literatur gibt es keine Schönheit, keine Philosophie, keine Gerechtigkeit. Ohne sie gibt es auch keine Menschlichkeit. Literatur lässt uns erfahren, was andere erlebt haben. Sie lässt uns verstehen, was Menschen empfinden – im Guten wie im Schlechten. Und sie lässt uns Mitgefühl für Menschen entwickeln, denen wir nie begegnet sind. Literatur bringt die guten Seiten in uns Menschen zum Vorschein.

Haben Sie als Autor so etwas wie eine moralische Verpflichtung?
Nein, das nicht. Aber ich bin mir meiner Verantwortung bewusst. Sehen Sie, es wird ein neues Syrien geben und dann werden die Menschen zur Literatur greifen, um etwas über das Leben in Syrien zu erfahren. Aber syrisches Leben ist mehr als die Gegenwartsliteratur. Wir haben eine jahrtausendealte Kultur und wir haben eine Zukunft vor uns, in die wir all unsere Hoffnungen legen. Wer etwas über uns Syrer verstehen will, der muss all das in Betracht ziehen.
Ihr Roman »Der Tod ist ein mühseliges Geschäft« ist sehr skurril, der schwarze Humor erinnert an Samuel Beckett und Franz Kafka. Wie wichtig sind solche Autoren für Sie?
Wenn man über die Bedeutung des Lebens schreiben will, kommt man an Kafka gar nicht vorbei. Er ist ein Gigant. Deshalb wird sich Literatur, die sich grundsätzlichen Fragen des Lebens widmet, auch immer wieder auf ihn beziehen. In den letzten Jahren waren wir hier mit so vielen existenziellen Fragen und Situationen konfrontiert, im Grunde hat Kafka unter uns gelebt. Das hat sich bis heute nicht geändert.
Ihr neuer Roman spielt in wesentlichen Teilen in Aleppo, der Stadt, die in den letzten Jahren mit am heftigsten umkämpft war. Was haben Sie im Kopf, wenn Sie an die Stadt denken?
Aleppo, ach Aleppo… eine Stadt voller Geheimnisse und Mysterien. Sie müssen wissen, Aleppo hat eine unglaublich lange Geschichte und Kultur. Wir sprechen hier über eine zehntausend Jahre lange Geschichte. Aleppo war immer ein Sehnsuchtsort, für Glückssucher und Machthaber gleichermaßen. Die aleppinische Kultur erstreckt sich von der besonderen Küche über Philosophie und Religion bis hin zu Musik und Literatur. All das wirkt sich natürlich auf den Mythos der Stadt aus, der bis heute wirkt.
Aleppo – Deconstruction | Reconstruction

Christine Gedeon erkundet in »Aleppo« mit Kartenzeichnungen sowie Geschichten und Erinnerungen Orte in Syrien vor dem Bürgerkrieg, die zu ihrer persönlichen Geschichte zwischen Alltag und Tragik gehören. In Unkenntnis des gegenwärtigen Zustands der Stadt hat die Künstlerin eine Version von Aleppo erschaffen, die nur durch die Erinnerung zugänglich ist.
Inwiefern?
Für uns Syrer bedeutet die Stadt alles. Wenn Aleppo fällt, stirbt ein Teil von uns, wenn wir Aleppo halten, müssen wir uns um nichts sorgen. Die Stadt ist der Hort unserer Kultur und unser wirtschaftliches Zentrum. Achtzig Prozent aller Produkte kommen aus Aleppo und der umliegenden Region. Damaskus ist die Hauptstadt Syriens, Aleppo das Herz der Syrer.
Warum spielt in Ihren Romanen die Familie so eine wichtige Rolle?
Die Familie ist der Kern der syrischen Gesellschaft und nach neun Jahren Krieg ist sie im wahrsten Sinne des Wortes zum Ort des Lebens geworden. Wie in einer Schicksalsgemeinschaft haben wir uns hier umeinander gekümmert, als alles andere wegbrach. Zudem ist hier jede Familie auch ein kleines Wirtschaftsunternehmen. So wird selbst das wirtschaftliche Überleben stark durch die Familienbande organisiert. Das schafft natürlich Abhängigkeiten, Konkurrenzen und – insbesondere unter Bedingungen der Diktatur – mafiöse Strukturen. Auch darüber schreibe ich in meinen Büchern.
Ich bin mir sicher, dass wir irgendwann in der Zukunft in einem friedlichen und demokratischen Land leben werden.
Khaled Khalifa
In beiden Romanen wird auch explizit über Liebe und Sexualität gesprochen.
Natürlich, das gehört doch zum Leben dazu. Und ich möchte über das Leben schreiben. Denn etwas anderes habe ich nicht. Also schreibe ich über das, was mich umgibt. In »Keine Messer in den Küchen dieser Stadt« geht es auch viel um Homosexualität, auch dabei spielt der Handlungsort Aleppo eine große Rolle. Ich habe viele Freunde aus allen Schichten in der Stadt und einige davon sind homosexuell. Was sie mir aus ihrem Leben erzählt haben, habe ich in diesem Buch verarbeitet.
Eigenschaften, die offenbar auch die Syrer brauchen. Der Bürgerkrieg tobt seit fast zehn Jahren. Was wünschen Sie sich für Ihr Land und Ihre Leute?
Ich wünsche uns Frieden und Demokratie. Und Gerechtigkeit, denn ohne sie werden wir beides nicht erreichen. Aber ich bin mir sicher, dass wir irgendwann in der Zukunft in einem friedlichen und demokratischen Land leben werden.
Keine Messer in den Küchen dieser Stadt
»Keine Wünsche, keine Träume. Keine Zukunft, keine Vergangenheit. Das war mein Glaubensbekenntnis geworden«, räumt der Erzähler in Khaled Khalifas neuem Roman ein. Da herrscht noch die Stille vor dem mörderischen Sturm des Krieges, doch das Assad-Regime hat die Seelen der Menschen längst zerfressen. Musik, Literatur und Geselligkeit sind von Propaganda, Zensur und Misstrauen abgelöst worden. Nirgendwo wird dies so spürbar wie in Aleppo. Mit dieser packenden und sich über vier Jahrzehnte erstreckenden Familiengeschichte verneigt sich Khalifa vor der kulturellen Wiege Syriens und legt das Herz der Syrer:innen frei.

Sie haben mehrere Jahre an unterschiedlichen Orten an diesem Buch geschrieben. Was brauchen Sie, um Schreiben zu können?
Mir reicht ein guter Platz in einem Café oder Teehaus und schon kann es losgehen. Dort entsteht auch der Großteil meiner Bücher. Den ersten Entwurf schreibe ich immer mit der Hand, erst später tippe ich das ab. Aber es gibt eben keine Garantie, dass aus dem, was man im ersten Entwurf aufschreibt, auch ein Roman wird. Es kann sein, dass man in der vierten, fünften oder sechsten Fassung des Textes feststellt, dass man sich verrannt hat. Dann kann man es fallen lassen oder von vorn anfangen, so ist das nun mal. Für gute Literatur benötigt man Ausdauer und Geduld.
Khaled Khalifa, das wünsche ich Ihnen und Ihren Landsleuten von ganzem Herzen. Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview erschien in der Galore Ausgabe 41.
[…] Erscheinen seines Romans »Keine Messer in den Küchen dieser Stadt« konnte ich ein Interview mit dem Syrer per WhatsApp führen. Damals hielt er sich in seinem Ferienhaus in der syrischen Küstenstadt Latakia auf. »Ich […]