Film

Keine Haftung

Mark Ruffalo in »Vergiftete Wahrheit« von Todd Haynes | © Tobis Film

Todd Haynes erzählt in seinem dokumentarischen Spielfilm »Vergiftete Wahrheit«, wie sich ein Industrieanwalt auf die Seite der kleinen Leute stellt und aufdeckt, dass der Großkonzern DuPont für die Vermarktung von Teflon über Leichen geht.

Robert Bilott verteidigt als Firmenanwalt erfolgreich Großkonzerne gegen lästige Kläger. Ob Chemieriese, Energiekonzern oder Waffenproduzent, die Kanzlei, in der Bilott zum Partner aufgestiegen ist, ist eine der besten Adressen, wenn die Großindustrie Gesetze, Verordnungen und Grenzen umgehen will. Bilott selbst war ein Spezialist, wenn es darum ging, Chemiekonzerne rauszuhauen.

Umso ungewöhnlicher, als eines Tages ein Mann im groben Holzfällerhemd und derber Jacke in seinem Büro steht, der ihn um seine Hilfe bittet. Auf der Farm von Wilbur Tennant sterben die Kühe wie die Fliegen, seit der Chemiekonzern DuPont eine Mülldeponie neben seinem Grundstück aufgemacht hat. Der Bauer will, dass ihm Bilott hilft, den Konzern zu verklagen, doch der wehrt sich zunächst. Wenn man jahrelang auf der Seite der Konzerne steht, legt man die Reflexe nicht so schnell ab. Und käme der Farmer nicht aus Bilotts Heimatort, wahrscheinlich wäre es bei dessen kurzen Besuch in der Kanzlei geblieben. So aber lässt sich der Anwalt darauf ein, sich die Sache einmal vor Ort anzuschauen. Und was er sieht, lässt ihn schaudern. Dutzende Grabhügel reihen sich auf dem Grundstück des Farmers aneinander, darunter liegen die Kadaver seiner entstellten Rinder. Anfangs habe er sie noch einzeln vergraben, inzwischen verdecken die meisten Hügel ein Massengrab. Als der Farmer dem Anwalt dann auch noch entnommene Organe seiner Tiere zeigt, die völlig entstellt sind, blüht es auch dem, dass hier etwas – auch im wahrsten Sinne des Wortes – zum Himmel stinkt.

Mark Ruffalo als nimmermüder Anwalt Robert Bilott, der sich noch in die kleinsten Details einarbeitet | © Tobis Film

Bei den örtlichen Behörden ist Tennant erfolglos geblieben, all seine Beschwerden wurden beiseite geschoben. Dass DuPont in dem Ort vom Gemeindezentrum bis zum Sportplatz alles finanziert, spielt dabei sicherlich eine Rolle. Bilott sichert dem Farmer zu, ein paar Recherchen anzustellen. DuPont gehört zu den Kunden seiner Kanzlei, »Besser leben mit Chemie« lautet der Slogan des Unternehmens. Der Anwalt sucht zunächst den direkten Weg, stößt jedoch auf Widerstand, Ausreden, Vertröstungen. Er kennt das aus seinem Alltag, es sind die klassischen Strategien, wenn man etwas zu verbergen hat. Wenn man Prozesse in die Länge ziehen und Kläger mürbe machen möchte, um am Ende einen billigen Vergleich zu erzielen.

Doch je länger er weiter nach Ursachen sucht, desto stärker belasten seine Recherchen die Beziehungen zwischen der Kanzlei und dem Konzern. Immer stärker gerät er unter Druck, sein Chef fordert ihn auf, dem ganzen ein Ende zu machen. Bilott überzeugt ihn, weiter am Ball bleiben zu dürfen, da es doch für die ganze Branche langfristig sinnvoll sei, wenn eine so renommierte Kanzlei nicht nur blind Konzerne vertrete, sondern auch für den kleinen Mann einstehe. Und je länger er recherchiert, desto tiefer gräbt er sich in einen Fall, der sich nicht nur als gigantischer Umweltskandal erweisen wird, sondern der auch dazu führt, dass der zweifache Vater die Seiten wechseln wird.

Nathaniel Rich: Losing Earth. Aus dem Englischen von Willi Winkler. 242 Seiten. 21,- Euro. Hier bestellen.

»Vergiftete Wahrheit« ist ein klassischer Whistleblower-Film, der aus der Perspektive des unermüdlichen Aufklärers Missstände und deren Vertuschung aufdeckt. Er steht damit in der Tradition von Michael Manns »Insider«, Tom McCarthys »Spotlight«, Sonia Kennebecks »National Bird« oder jüngst Scott Z. Burns »The Report«. Dabei basiert er auf einem Porträt, dass der Journalist Nathaniel Rich, hierzulande für sein Buch »Losing Earth« bekannt, im New York Times Magazin geschrieben hat und in dem er Bilott als »The Lawyer who became DuPont’s worst nightmare« beschreibt. Denn hartnäckig bleibt er dran, selbst als ihn DuPont mit hunderten Kisten Informationen zuschüttet. Gegnerische Anwälte mit unnützen Informationen zu überfrachten, um die wenigen Happen harter Fakten zu verbergen, ist eine typische Taktik, wie Bilott weiß. Die wenigsten wühlen den sprichwörtlichen Heuhaufen nach der Nadel durch, die den Skandal zutage bringt. Bilott – der in Haynes Film auch einen Cameo-Auftritt bekommt – gehört dazu.

1998 reicht Bilott Klage gegen den Chemiekonzern ein, da weiß er noch gar nicht, auf was genau er beim Wühlen in den Unterlagen noch stoßen wird. Tage-, wochen-, monate- ja sogar jahrelang beschäftigt er sich mit den Dokumenten des Konzerns und bringt dabei zutage, was DuPont mit viel Geld, Beziehungen und politischem Einfluss seit Jahrzehnten zu verbergen versucht hat. Nämlich das bei der Produktion ihres Kunststoff-Bestsellers Teflon hochgiftiger Staub und Schlick anfällt, den das Unternehmen auf getarnten Mülldeponien billig entsorgt. C8 lautet der chemische Name des giftigen Stoffes, der seit Jahrzehnten rund um die Fabriken des Konzerns in ganz Amerika ins Grundwasser sickert. So verseucht der Konzern ganze Landstriche, Tiere und Menschen, während er gleichzeitig Milliarden Dollar mit Teflon verdient.

Todd Haynes (»Carol«, »I’m not there«) Film, in dem Mark Ruffalo (»Spotlight«) den nimmermüden Anwalt Robert Bilott verkörpert, hat den fast zwanzigjährigen Rechtsstreit, der diesen Skandal aufdeckte, wie einen Thriller verfilm. Er zeigt eindrucksvoll, wie ein ehrgeiziger Wirtschaftsanwalt, der sich seine Menschlichkeit bewahrt hat, zum glühenden Aktivisten gegen ein System wird, das auf dem Rücken der Menschen seine Geschäfte führt. Unzählige Fakten rund um den Prozess und die Beweisführung trägt der Film in verdichteter Form zusammen, um zu zeigen, wie sich Großkonzerne gegen lästige Kleinkläger zur Wehr setzen.

Erst 2015 – also 17 Jahre, nachdem Bilott die Klage eingereicht hat und acht Jahre, nachdem sein Klient William Tennant an den Folgen der langsamen Vergiftung mit C8 gestorben ist – wird DuPont zu einer Strafe von 650 Millionen Dollar Schadensersatz verurteilt. Zuvor hatte die mit 69.000 Bluttests größte epidemiologische Untersuchung, die in den USA jemals durchgeführt wurde, nachgewiesen, dass C8 ursächlich für die Krebserkrankung tausender Menschen ist und DuPont diese Gefährdung wissentlich hingenommen hat. Einmalig 650 Millionen Dollar bei einer Milliarde Verdienst an den Teflon-Rechten pro Jahr.

»Ist das nicht ein Wahnsinn?«, fragt Bilott am Ende des Films. Das ist es. Das Ausmaß dieses Wahnsinns macht Todd Haynes sehenswerter Film sichtbar.