Philippe van Leeuws erschütternder Spielfilm zeigt den Krieg in Syrien aus der Perspektive von drei Frauen und macht dabei deutlich, wie ausgeliefert die Zivilbevölkerung ist.
Es passiert nicht oft, dass man nach einem Kinofilm das Bedürfnis hat, die vor zwei Stunden noch unbekannte Zuschauerin neben sich in den Arm zu nehmen. Der belgisch-libanesische Beitrag Insyriated ist aber so ein Film. Halb tröstend angesichts der unübersehbaren Betroffenheit, halb dankend dafür, die letzten eineinhalb Stunden neben mir gleichermaßen physisch gebangt und gelitten zu haben, umarme ich Jasmin. Und sie umarmt mich. Eine Geste, die uns gegenseitig versichert, empathisch und menschlich zu sein. Sie ist ebenso nötig, um uns spüren zu lassen, wer wir sind, wie dieser Film notwendig ist, um zu verstehen, was es heißt, in Syrien oder einem anderen Kriegsgebiet zu leben.
Er beginnt mit einem Blick auf einen Hinterhof oder Parkplatz, auf dem sich eine Gruppe Männer um eine Schubkarre versammelt, als plötzlich ein Schuss in ihrer Nähe einschlägt. Es folgen weitere Schüsse, offenbar sind sie ins Visier eines Scharfschützen geraten. Etwas später sieht das philippinische Hausmädchen Delhani (Juliette Navis), wie an der gleichen Stelle ein junger Mann von einer Kugel getroffen wird. Der Mann bleibt regungslos hinter einer ausgeschlachteten Karosserie liegen, ob tot oder lebendig – wer weiß das schon genau. Delhani weiß aber genau, dass es sich bei dem Beschossenen um den Mann der jungen Frau handelt, die ihre Hausherrin Oum gemeinsam mit einem kleinen Baby bei sich aufgenommen hat. Denn die Familie ist die letzte, die noch in diesem Haus mitten in der Kriegszone von Damaskus wohnt.
Die resolute Hausherrin rät dazu, der jungen Halima erst einmal nichts zu sagen, die Situation ist ohnehin angespannt genug. Die näher rückenden Detonationen erschüttern das Haus in seinen Grundfesten, die Sicherheit der Familie in dieser Wohnung ist prekär. Die geschlossenen Fenster, die zugezogenen Vorhänge und die mehrfach verriegelte Wohnungstür machen das deutlich. Oum, großartig verkörpert von der bekannten palästinensischen Schauspielerin Hiam Abbas (Lemon Tree, Paradise Now, Die syrische Braut) versucht in dieser beklemmenden Situation, den ihr Anvertrauten ein Gefühl zu geben, das schon längst verloren gegangen ist: das Gefühl von Ordnung und Sicherheit.
2013 hat der belgische Regisseur Philippe van Leeuw angefangen, das Drehbuch zu schreiben, der Krieg in Syrien tobte damals vorwiegend abseits der Weltöffentlichkeit. Wut über die Ignoranz der Welt gegenüber dem Schicksal der Syrer und Syrerinnen veranlasste ihn, diesen Film mit Darstellern aus der Region zu machen. Schon in seinem Regiedebüt The Day God Walked Away hat sich der Belgier mit dem Leben in einer Ausnahmesituation auseinandergesetzt, dem Völkermord in Ruanda.
Sein zweiter Film zeigt wie kein anderer, was es für die Menschen und insbesondere für die Frauen heißt, in einem Krieg zu leben. Er zeigt, wie allgegenwärtig die Angst und wie hilflos sie der brutalen Gewalt anderer ausgeliefert sind. Dafür bildet er einen Tag im Wahnsinn des Krieges ab. Nach den 85 Minuten wünschte man sich, dass das Krachen der Gewehrsalven und Bombeneinschläge das Bedrohlichste gewesen wäre.
Der Film zeigt anfangs die »kleinen Sorgen« des Alltags, die Schwierigkeiten, an Brot zu gelangen, den Wassermangel, die räumliche Enge. Doch das Unheil rückt immer näher, erst vernehmen sie Stimmen im Hausflur, dann Schritte in der Wohnung über ihnen und schließlich klopft es an der verriegelten Wohnungstür. Ihr Mann sei nicht zuhause, sagt Oum den drei fremden Männern, die vor der Tür stehen. Sie gehen unverrichteter Dinge, doch sie werden zurückkommen. Auf grausame Weise werden sie die junge Mutter Halima spüren lassen, was es heißt, Macht über sie zu haben.
Der belgische Regisseur schont die Zuschauer nicht. Fast zehn Minuten lang dauert die Szene an, in der die beiden Männer Halima bedrohen, schlagen und schließlich dazu bringen, sich ihnen »freiwillig« auszuliefern, um ihr Kind zu schonen. Es geht ihm dabei nicht um Voyeurismus, sondern darum, zu zeigen, was männliche Gewalt in der Seele einer Frau anrichtet. Deshalb ist die Kamera in dieser kaum zu ertragenden Szene im Gesicht der jungen Frau und zeigt, wie sich in diesem das Grauen, der Ekel, die Scham und die nackte Panik abbilden. Halimas Opfer wird alle anderen Bewohner der Schicksalsgemeinschaft an diesem Tag schützen. Aber eben nur an diesem einen Tag.
Es ist gleichermaßen bewundernswert wie unbegreiflich, mit welcher Energie die junge libanesische Schauspielerin Diamand Bou Abboud diese Szene spielt, immer wissend, dass solche Vergewaltigungen kaum einhundert Kilometer von Beirut ein Teil des Kriegsalltags – vor allem von Frauen – sind. Nach der Premiere räumt die junge Frau auch ein, dass sie diese Szene, ja der ganze Film nicht loslässt. »Der Film ist ein Teil von mir geworden, er bleibt und will nicht gehen.«
Der Krieg, wie ihn Philippe van Leeuw abbildet, tobt aktuell in Syrien. Aber so wie diese Wohnung, in die man hier anderthalb Stunden mit eingesperrt ist, nur eine von vielen möglichen in Syrien ist, in die man schauen könnte, ist Syrien nur eines von vielen Kriegsländern auf der Welt, in denen die Zivilbevölkerung diesem Grauen ausgeliefert ist oder war.
Dem belgischen Regisseur gelingt neben der Abbildung der Brutalität und des Grauens aber auch die Demonstration von menschlicher Würde. Wenn die syrische Krise eine Krise der Menschlichkeit ist, dann ist diese Wohnung ein Hort der Hoffnung. Denn sie ist bei aller Gewalt auch und vor allem voller Menschlichkeit. Nicht nur, weil diese Zwangsgemeinschaft einander in haltlosen Zeiten Halt gibt, sondern weil die drei Frauen beweisen, dass der Mensch über Kräfte verfügt, die ihn selbst die unvorstellbarsten Ausnahmesituationen überstehen lassen, ohne sein Menschsein aufgeben zu müssen. Noch bevor die Katastrophe über die Gemeinschaft hereinbricht, kommt es zu einem unschuldigen Kuss zwischen Halima und dem jungen Kadheem. Es ist ihre Art, sich zu vergewissern, immer noch Mensch zu sein.
Ob Damaskus oder Aleppo heute, Sarajevo vor 25 Jahren oder Berlin anno 1945 – Grausamkeit und Menschlichkeit liegen und lagen in Kriegen immer eng beieinander – nicht nur in dieser Hinsicht ist Insyriated universell. Wenn die öffentlich-rechtlichen Sender ihren Bildungsauftrag ernst nehmen wollen, können sie kaum etwas besseres tun, als diesen Film schnellstmöglich einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Menschen aus Syrien und andere Schutzsuchende werden hierzulande viel zu oft (und nicht nur von den Rechtspopulisten) als »Eindringlinge« betrachtet. Viel zu oft wird ihnen jede menschliche Würde abgesprochen. Entsprechend werden sie behandelt. Dies werde sich erst ändern, »wenn die Menschen sehen und begreifen, wie schmerzhaft all das für uns ist«, sagte ein syrischer Flüchtling im Publikum nach der Premiere. Dieser Film vermag das wie kein anderer auf der diesjährigen Berlinale. Mit diesem filmischen Schlag in die Magengrube ist dem Regisseur und seinen Darstellern etwas gelungen, was fünf Jahre Nachrichten nicht geschafft haben. Sie haben den Zuschauern eine Idee davon gegeben, was es heißt, im kriegszerrütteten Syrien zu leben, was es heißt, »insyriated« zu sein. Einen wichtigeren Film wird man auf der Berlinale 2017 nicht mehr sehen.
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