Film

Die dunkle Seite Indiens

2008 erhielt der damals 33-jährige Journalist und Schriftsteller Aravind Adiga in London für seinen Debütroman »Der weiße Tiger« den wichtigsten britischen Literaturpreis. Was sich wie die Vorlage für ein Drehbuch las, war offenbar doch nicht so einfach zu verfilmen. Nun läuft »Der weiße Tiger« auf Netflix.

Aravind Adiga erzählt in seinem Roman die Geschichte des sozialen Aufsteigers Balram Halwai. Als dieser im Radio hört, dass der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao sein Heimatland besuchen möchte, beschließt er, diesem in Briefform vom echten Indien fern der Luxushotels zu erzählen. In sieben Nächten schreibt Balram dem chinesischen Politiker von seinem Leben in der größten Demokratie der Welt.

Balram wächst als Kind in einem kleinen indischen Dorf als Sohn eines Rikschafahrers auf. Er ist nicht nur das klügste Kind in der Großfamilie, sondern übertrumpfte mit seiner Cleverness das ganze Dorf. Er ist »der weiße Tiger«, derjenige, der auffällt und zu Größerem geboren scheint. Und das will was heißen in einem Land, in dem nichts die Lebenschancen und Möglichkeiten so sehr bestimmt, wie der soziale Status der Kaste, in die man hineingeboren wird.

Balrams Geschichte zeigt, dass das Kastensystem in Indien trotz Demokratie bestens funktioniert. Er muss zunächst im örtlichen Teehaus arbeiten, wie alle anderen aus seiner Kaste. Schließlich ist er ein Halwai, ein Zuckerbäcker, die traditionell in Teehäusern zu arbeiten haben. Als ihn der reichste Mann im Ort als Fahrer engagiert und er mit dessen Sohn nach Delhi gehen muss, beginnt der unaufhaltsame Aufstieg des Balram H.

Als Chauffeur in Delhi begreift er schnell, warum die indische Kastengesellschaft bislang nahezu unangetastet blieb und auch weiterhin Bestand haben wird. Die Selbstverständlichkeit, mit der die meisten Menschen in Indien ihr Leben hinnehmen und sich diesem Fügen, nimmt einfach kein Ende. Zugleich bleibt die soziale Ächtung bestehen, wenn jemand aus diesem System auszubrechen versucht. Es wird automatisch zum anormalen Außenseiter, der gegen die bestehenden Verhältnisse aufzubegehren versucht.

Aravind Adiga: Der weiße Tiger. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Verlag C.H.Beck 2008. 318 Seiten. 19,90 Euro.

Während die Mitglieder der oberen Kasten ganz selbstverständlich auf Kosten der Mitglieder der niedrigen Kasten das Leben in vollen Zügen genießen, liefern sich die unteren Kasten einer freiwilligen Knechtschaft aus, die sie sich mit billigem Alkohol schön trinken. Das Resultat ist, dass die Parallelgesellschaften der Kasten Parallelwelten in der Wirklichkeit kreieren. Während an der Oberfläche die Schönen und Reichen ihr Leben in teuren Bars und Edelkinos genießen, trinken deren Diener eine Etage tiefer billigen Fusel und begnügen sich mit billigen Pornos. Aufbegehren gegen die herrschenden Zustände? Weitgehend Fehlanzeige. Balram scheint der Einzige zu sein, den dieses System in Rage bringt.

Er wird für seine Revolte belohnt werden, dass weiß der Leser von Beginn an, denn schließlich schreibt nicht der geknechtet Fahrer Balram Halwai aus Delhi, sondern der erfolgreiche Unternehmer namens »Weißer Tiger« aus Bangalore. Doch der Preis war hoch, wie der Leser erfahren wird. Und doch blieb ihm nichts anderes übrig, als ihn zu zahlen, denn ohne persönliche Opfer scheint kein Aufstieg möglich.

Zwölf Jahre hat es gedauert, bis dieser fulminante Text endlich für die Leinwand adaptiert wurde. Zwölf Jahre! Oder in anderen Maßstäben: in vier weiteren Büchern ist Adiga seither dem indischen »Homo Hierarchicus« auf den Grund zu gehen. Im Interview sagte er mir vor Jahren: »Mich interessieren, wenn Sie so wollen, die Triebkräfte hinter der Hoffnung auf ein besseres Leben als der soziale Aufstieg.«

Die Schließung der Kinos hat nun dazu geführt, dass er auf Netflix startet. Ebenso bilder- wie actionreich erzählt Balram – hier eindrucksvoll gespielt von Newcomer Adarsh Gourav – dem chinesischen Ministerpräsidenten, wie er es vom Teekocher zum Chauffeur und schließlich zum Taxiunternehmer geschafft hat.

Der Amerikaner Ramin Bahrani, dessen »Fahrenheit 451«-Verfilmung der ein oder andere kennen könnte, hat Adigas Geschichte von Lüge und Korruption, Gewalt und Skrupellosigkeit, Ehrgeiz und Überlebenswillen in düsteren Bildern aus dem sonst leuchtend bunten Indien übersetzt. Seine Verfilmung liefert ein brutal ehrliches Bild des modernen Indien, in dem es nur die brutalsten Raubtiere nach oben schaffen.

Wer hinter die Bollywood-Fassaden von Danny Boyles mit zahlreichen Oscars ausgezeichneter »Slumdog Millionaire«-Erzählung schauen will, die ironischerweise kurz nach Adidas Booker-Prize-Triumph in die Kinos kam, der kann das mit diesem Film tun.