Literatur, Roman
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Ein Leben in Augenblicken

Der Wiener Autor Robert Seethaler entführt die Leser seines neuen Romans in ein abgelegenes Alpental, wo Andreas Egger »Ein ganzes Leben« verbringt. Nach dem großen Erfolg seines Wien-Romans »Der Trafikant« legt Seethaler ein weiteres Wunderwerk der Überlieferung vor.

»Man kann einem Mann seine Stunden abkaufen, man kann ihm seine Tage stehlen, oder ihm sein ganzes Leben rauben. Aber niemand kann einem Mann auch nur einen einzigen Augenblick nehmen. So ist das, und jetzt lass mich in Frieden!« Mit diesen Worten wirft der Prokurist der Seilbahnfirma Bittermann & Söhne den Angestellten Andreas Egger aus seinem Büro, nachdem dieser erfolgreich einen höheren Stundenlohn verhandelt hat. »Weil ich nämlich eine Familie haben werde«, begründet Egger sein Anliegen. Dem kann dann nicht einmal der knurrige Buchhalter noch etwas entgegnen, will er Egger halten. Und er will den verschlossenen Bergmann halten, denn dieser ist ein harter Hund, wie man im Volksmund sagt.

Seine Mutter hatte Egger früh verloren und kam mit vier Jahren in das abgeschiedene Tal zu seinem gewalttätigen Onkel, der von dem zusätzlichen Maul, was er nun zu stopfen hatte, Gegenleistung erwartete. Für ihn war er »ein Geschöpf, das zu arbeiten, zu beten und seinen Hintern der Haselnussgerte entgegenzustrecken hatte.« Dass der kleine Andreas aber niemals schrie, wenn die Schläge auf ihn niedersausten, trieb den Bauern nur zu härteren Hieben. Bis ihm eines Tages der Schlag entglitt und durch die brachiale Gewalt des Aufschlags »im rechten Bein irgendetwas in Unordnung geraten« war. Seither hinkt Eggers zwar, aber er kann eben auch einiges wegstecken. Männer wie ihn braucht Bittermann & Söhne, um bei Wind und Wetter Schneisen in die Wälder der Alpen zu schneiden.

Andreas Egger, dessen ganzes Leben der Wiener Schauspieler und Autor Robert Seethaler niedergeschrieben hat, ist ein einfacher Mensch. Ganz sicher kein Sympathieträger, aber auch keiner, dem man irgendetwas allzu krumm nimmt. Ein wortkarger Typ, ein Eigenbrötler, der sich seinen Teil denkt, wenn andere längst ihre Ansichten von sich geben. Andreas Egger ist eine Art Urmensch, der irgendwie schon immer da war und aus diesem da auch nicht entlassen wird. In Seethalers Roman heißt es: »Er war schon so lange auf der Welt, er hatte gesehen, wie sie sich veränderte und sich mit dem Jahr schneller zu drehen schien, und es kam ihm vor, als wäre er ein Überbleibsel aus einer längst verschütteten Zeit, ein dorniges Unkraut, das sich, solange es irgendwie ging, der Sonne entgegenstreckte.«

Eggers Erinnerungen, so wie sie Seethaler aufgeschrieben hat, wirken zerfranst und bruchstückhaft. Letztendlich sind es aber die das Leben prägenden Augenblicke, die hier versammelt sind. Zu Eggers Augenblicken gehören die Schläge des Onkels ebenso selbstverständlich wie der aufflammende Name »Marie« an den gerade gerodeten Hängen. So gewann er die Liebe seines Lebens für sich. Auch der Moment, als es »dem jungen Holzhacker Gustl Grollerer seinen rechten Arm abhieb« oder als ihm der halbtote Hörnerhannes von seinem Rücken sprang und in den ewigen Schnee floh, sind solche nie vergessenen Schlaglichter eines Lebens. Und natürlich auch die verheerende Schneelawine, die ihm nicht nur beide Beine, sondern auch das Herz brach, weil sie ihm das wertvollste, was er jemals darin getragen hat, herausriss. Es passiert etwa in der Mitte des Romans und den Leser beschleicht der Gedanke, der Berg hätte sich für das gewaltsame Rasieren und Perforieren durch Egger und seine Brigade rächen wollen.

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Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. Hanser Berlin 2014. 156 Seiten. 17,90 Euro. Hier bestellen

Dennoch wird Egger viele Jahre für Bittermann & Söhne arbeiten. Der Krieg ruft ihn, als er schon auf dem letzten Loch pfeift. Nachdem der hinkende Bergmann erst als für die Waffe ungeeignet eingestuft wurde, muss er nun doch als letzte Reserve an die Ostfront. Jahre später kehrt er zurück, die Welt dreht sich inzwischen noch schneller. Mit dem Drehmoment der Moderne hat auch das Drehmoment der Seilbahnen zugenommen, die Eggers jetzt wartet. Er füllt mit dieser Tätigkeit die »schweigende Zeit, die sich nur langsam und unmerklich wieder mit Leben füllte«. Die Einsamkeit aber, die der Verlust von Marie in ihm hinterließ, wird er nicht mehr füllen können.

Man kann ein solches Leben natürlich nur mit dem Mittel der Dehnung und Streckung der Zeit erzählen. So wie hier zehn Jahre gern mal innerhalb von drei Seiten an uns vorüberziehen, dehnen sich die Augenblicke eines Lebens über viele Seiten aus. Ein ganzes Leben führt so eindringlich die wenigen Augenblicke vor Augen, auf die es im Leben ankommt und lässt den lapidaren Rest im Nebel der Zeit verschwinden. So steigt dieser Roman mit aller Sprachgewalt auf die Bremsen der schnelllebigen Gegenwart und holt uns aus dieser heraus.

Als Leser fällt man mit diesem Roman durch die Zeit, bis man an der Seite von Andreas Egger landet. Seethaler, der mit seiner wunderbaren Wien-Geschichte um den Trafikanten Franz Huchel und seinen Stammkunden Sigmund Freud mit einer »unerklärlichen Leichtigkeit des Schreibens« (Andreas Platthaus) den Zustand des Unterstromstehens vor Augen führte, erzählt dies auch hier mit einer so selbstverständlich leichten und verblüffend bilderreichen Sprache, dass wir lesend an der Seite seines tragischen Helden durch dieses Leben, das immer wieder auch ein Hundeleben ist, gehen. Mit Andreas Egger bestaunen wir die Wunder des Daseins, sind entsetzt über so manche Wege des Schicksals und fallen mit jedem weiteren Jahr ein Stück mehr aus der Zeit hinaus.

Seethalers Roman ist in mehrfacher Hinsicht ein Beleg dafür, wie wunderbar Literatur sein kann. Während Reiner Stach das äußerlich recht ereignislose Leben Franz Kafkas auf über 2.000 Seiten entblättert, um diese Figur begreifbar zu machen, geht Robert Seethaler den umgekehrten Weg, indem er uns Andreas Eggers ganzes Leben auf gerade einmal 154 Seiten präsentiert, ohne dass etwas fehlt.

Hinter diesen lobenden Worten ist aber auch eine schreckliche Erkenntnis verborgen, nämlich dass Literatur erschöpflich ist. Denn wenngleich man sich wünschte, dass dieser so federleichte und zugleich bedeutungsschwere Roman – in dieser Hinsicht vielleicht allein mit Wolfgang Herrndorfs Tschick vergleichbar – noch tausende Seiten weitergeht, muss man einsehen, dass ein Leben einfach nicht mehr hergibt als das, was Seethaler aufgeschrieben hat. »Er hatte seine Kindheit, einen Krieg und eine Lawine überlebt. Er hatte geliebt. Und er hatte eine Ahnung davon bekommen, wohin die Liebe führen konnte.«

Die Klammer, die sich um das Leben von Andreas Egger schließt, ist die Temperatur. So wie das Licht im Laufe der Jahre zwar heller, aber auch kälter geworden ist, so wird es auch um Egger immer greller und frostiger. Am Anfang dieses Buches stehen die von Körper- und Seelenwärme geprägten Begegnungen Eggers mit Hörnerhannes und Marie. Am Ende begegnet Egger ihnen noch einmal anders: Der Ziegenhirte ist dann ein zusammengekrümmter Eisklotz, Eggers Marie die kalte Frau, die über die Berge und durch die Täler schleicht und sich nimmt, was sie braucht. »Die kalte Frau kommt, nimmt und geht. Das ist alles. Im Vorbeigehen packt sie dich und nimmt dich mit und steckt dich in irgendein Loch. Und im letzten Stück Himmel, das du siehst, bevor sie dich endgültig zuschaufeln, taucht sie noch einmal auf und haucht dich an. Und alles, was dir dann noch bleibt, ist die Dunkelheit. Und die Kälte.«

Ein ganzes Leben ist nichts weniger als ein literarisches Elixier. Dieser viel zu kurze und dennoch vollkommene Roman ist eine wertvolle Essenz dessen, was wir Literatur nennen. Dass er dennoch auf keiner Buchpreisliste zu finden ist, kann nur einen Grund haben: Er hat diese Aufmerksamkeit nicht nötig.

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