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Die letzte große Unbekannte

In einem prächtigen Album ist erstmals das zeichnerische Werk Franz Kafkas in all seiner Vielfalt versammelt. Der sorgfältig editierte Band zeigt in Bildern und Texten, wie sich Kafka in seinem künstlerischen Schaffen vom brutalen Realismus seiner Zeit löste.

Seinen Zeichnungen habe Franz Kafka geradezu feindlich gegenüber gestanden, erinnert sich sein Freund und Erbe Max Brod in dem Band »Franz Kafkas Glauben und Lehre«, in dem einige der bislang bekannten Zeichnungen des wohl berühmtesten Prager Beamten aller Zeiten veröffentlicht waren. »Was ich nicht gerettet habe, ist untergegangen. Ich ließ mir die ‚Schmierereien‘ von ihm schenken, oder holte sie aus dem Papierkorb heraus, – ja eine Anzahl habe ich von den Rändern der juristischen Kollegienbücher abgeschnitten«, liest man da.

Kafkas Haltung seinen Zeichnungen gegenüber unterscheidet sich nicht vor der Verachtung, die er seinem restlichen Werk entgegengebracht hat. In seiner letzten Bitte an den Freund Brod schrieb er: »Alles, was sich in meinem Nachlass (also im Buchkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch, zu Hause und im Büro, oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und dir auffällt) an Tagebüchern. Manuskripten, Briefen, fremden und eignen, Gezeichnetem und so weiter findet, restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das du oder andre, die du in meinem Namen darum bitten sollst, haben.«

Andreas Kilcher (Hrsg). Franz Kafka – Die Zeichnungen. Verlag C.H.Beck 2021. 368 Seiten. 45,00 Euro. Hier bestellen

Ob sich Brod als Freund diskreditiert oder gerade ausgezeichnet hat, indem er sich an keines dieser Wörter gehalten und der Welt eines der wertvollsten literarischen Werke erhalten hat, ist nahezu unerheblich, gäbe es da nicht die diversen Rechtsstreitigkeiten mit den Erben seines Besitzes. Brod hatte sein Archiv mit Büchern, Schriften und Manuskripten seiner Mitarbeiterin Ilse Ester Hoffe vermacht, die wiederum ihre Töchter als Erben eintrug. Nicht dazu gehörte Kafkas Werk, das hatte Brod Hoffe schon zu Lebzeiten geschenkt. Auf beides, Archiv und Kafkas Nachlass, hatte aber der Staat Israel Anspruch erhoben, weil Brod zu Lebzeiten erklärt haben soll, dass er es einer öffentlichen Institution Israels übergeben wolle. So entwickelte sich ein jahrelanger Rechtsstreit zwischen Hoffes Töchtern und dem Staat Israel, an dessen Ende vor fünf Jahren das Oberste Gericht Israels den Nachlass Max Brods der israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem zugesprochen hatte. Erst durch diese Entscheidung wurden zahlreiche Zeichnungen zugängig, die der voluminöse Band mit Kafkas Zeichnungen nun versammelt und damit die letzte große Unbekannte seines Werks zur Entschlüsselung freigibt.

Bild: Verlag C.H.Beck

Herausgeber Andreas Kilcher zeichnet in dem Band »Franz Kafa – Die Zeichnungen« detailliert die Überlieferungsgeschichte von Kafkas Zeichnungen nach und ordnet in einem lesenswerten Essay die Zeichnungen in Kafkas Gesamtwerk ein. »Das Scheitern des Schreibens«, so schreibt der Kulturwissenschaftler, »wird vom Bildmedium aufgefangen. Indem Kafka dieses Scheitern bildlich zu thematisieren vermag, kommt dem Zeichnen eine ästhetische Vorrangstellung zu.«

Dergestalt macht Kilcher, der selbst schon vielfältig zu Kafka gearbeitet und publiziert hat, deutlich, wie sich Kafka selbst immer wieder mit der bildenden Kunst auseinandersetzte und arbeitet heraus, dass Kafkas zeichnerisches Werk editorisch, kunsthistorisch und literaturwissenschaftlich ein ernsthafter Gegenstand des Gesamtwerks ist. So legt er einen Aspekt zu Kafkas Leben und Schreiben offen, der in Reiner Stachs hervorragender dreibändigen Kafka-Biografie etwas zu kurz kommt. Seine ausführliche Einführung ist gespickt mit Anekdoten, die selbst kafkaesk anmuten. Etwa dass Ester Hoffe in den achtziger Jahren den damaligen Hanser-Verleger Michael Krüger mit einem Gespräch im Treppenhaus abspeiste, als er sie aufsuchte. Er wollte zu Kafkas 100. Geburtstag dessen Zeichnungen verlegen, ohne Kenntnis zu haben, »wie viele Zeichnungen existierten noch wie das Copyright zu lösen war«. Hoffe verwies Krüger damals an einen Zürcher Anwalt, der ihn wissen ließ, dass allein das anschauen der Zeichnungen 100.000 Euro kosten würde, »über die Kosten der Druckgenehmigungen könne man dann später reden.« Was für eine Geschichte.

Bild: Verlag C.H.Beck

Im Zentrum aber versammelt der Band auf fast 200 Seiten sämtliche Zeichnungen Kafkas, chronologisch sortiert und den jeweiligen Quellen zugeordnet. So folgen den 84 Einzelblättern die Abbildungen der Seiten aus Kafkas Skizzenheft sowie zwei Dutzend Zeichnungen, die den Reisetagebüchern, Briefen, Tagebüchern und Notizheften entnommen sind. Ergänzt werden diese von Notizseiten, auf denen sich Ornamente und Muster finden.

Durch diese Welten blätternd hört man nicht auf zu staunen. Diese »Schmierereien« fangen Alltagseindrücke ebenso ein wie Ängste und Illusionen. Gäbe es das Adjektiv nicht schon, müsste man diese die Welt verzerrenden und zuspitzenden Skizzen als kafkaesk bezeichnen. Oder um mit Kilcher zu sprechen: »Kafkas Zeichnungen sind – paradox, aber eigentlich ausgedrückt – unbildliche Bilder.«

Bild: Verlag C.H.Beck

Kafka war zweifelsohne weder ein Paul Klee noch ein George Grosz, aber so manche Fratzen erinnern in ihrem expressiven und dezidiert dekonstruktiven Stil an die beiden deutschen Künstler. Manche erinnern aber auch an die frühen Zeichnungen von Künstlern wie Henri de Toulouse-Lautrec. Nicht selten wirken seine Zeichnungen aber auch einfach nur wie abgebrochene Studien, bestehend aus wenigen Strichen, an Hefträndern und zwischen Notizen. Auch Selbstporträts sind dabei, dann eher ernst, den jungen, ambitionierten Schriftsteller einfangend. Am Skizzenheft werden sich noch Generationen an Interpreten austoben können, die darin enthaltenen Federzeichnungen sind zum Teil ähnlich erratisch wie Miros Tagträume. Interessant zudem die Bilderserien, die Brod in zwei Kuverts aufbewahrte und die sich, aneinandergereiht, wie ein früher Comic lesen (hier mehr zu Kafka im Comic). Kafka war, soviel kann man sagen, auch zeichnend ein Avantgardist.

Dabei wirken seine Zeichnungen nicht wie Illustrationen seines Denkens und Schreibens, sie treten eher daneben, ergänzen sie oder fügen ihnen eine neue Dimension zu, wie die Kulturwissenschaftlerin Judith Butler in ihrem Essay zu »Kafkas Skizzen körperlichen Lebens« deutlich macht. »Auch wenn die graphische Linie sowohl in der Schrift als auch in der Zeichnung präsent ist, funktioniert sie in beiden doch sehr unterschiedlich«, so Butler. »In Kafkas Zeichnungen übt sie Kritik an dem, was die Schrift leisten kann, und löst sich von der sprachlichen Beschränkung. Außerdem wird hier der Körper ohne Schwerkraft, ohne Boden skizziert – leicht schwebend, reduziert, aber auch phantastisch in seiner Ausdehnung und Bewegung. Kafkas Zeichnungen sind gerade keine literarischen Bilder, sondern gleichsam Bilder, die sich von der Schrift befreit haben, auch wenn sie in einem anderen Register einige von deren fundamentalsten Anliegen wieder holen.«

Bild: Verlag C.H.Beck

Um seine Zeichnungen zu verstehen, müsse man daher darauf achten, »wie sich die graphische Dimension der Linie vom geschriebenen Text emanzipiert und neue Formen annimmt«, wie sie an der Bilderserie im Kuvert ausführt. Vor allem aber müsse man die Zeichnungen im Kontext der Texte verstehen, aus denen sie ausbricht, weil sie sie eben nicht illustriert, sondern deren Gedanken fortführt oder bewusst bricht. »Selbst wenn in der Schrift und in der Zeichnung ein ähnliches Thema auftaucht, verändert die Gattung allein schon die Form des Themas, die Art seiner Anordnung, sogar die Bedingungen seiner Erkennbarkeit.«

Das Thema, von dem Butler hier schreibt, ist die »Unmöglichkeit, den Boden zu berühren«, das sowohl das Schreiben als auch das – oft beiläufige – Zeichnen von Franz Kafka prägt. Dem nachzuspüren, sich ihm hinzugeben, ist nicht nur für Kafka-Liebhaber eine faszinierend kribbelnde und zauberhaft erhebende Erfahrung.

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