Comic, Interviews & Porträts

»Genau das ist Kafka«

Ein Satz beginnt, dann wendet er sich nach links, dann nach oben, rechts herum und geradeaus, etwas später wieder nach unten… und wenn man dann innehält und sich umschaut, dann ist man so weit gekommen. Wie man daraus Comics macht, erklärt der Szenarist David Z. Mairowitz im Interview, der für die comicalen Adaptionen »Kafka für Anfänger«, »Der Process« und »Das Schloss« die Vorlagen geschrieben hat.

K:KafKa in KomiKs heißt eine Ausstellung, die ab dem 8. November im Stuttgarter Literaturhaus zu sehen sein wird und anschließend durch Deutschland und Österreich tourt. Im Mittelpunkt stehen dabei verschiedene Kafka-Comics, für die David Zane Mairowitz das Szenario geschrieben hat. Ich konnte bereits im April mit ihm über seine Arbeiten zu Kafkas Werk sprechen.

Herr Mairowitz, ganze Bibliotheken kann man mit Literatur über Franz Kafka und sein Werk füllen. Nun erscheint eine überarbeitete Auflage von Kafka für Anfänger, einer comicalen Werkbiografie, die sie mit Robert Crumb vor Jahren umgesetzt haben. Warum?

Der Titel wird jetzt nur noch Kafka lauten. Kafka für Anfänger geht zurück auf eine Buchreihe, in der unser Kafka-Band den Titel Kafka for beginners trug. Mit den Büchern sollten jungen Leuten und Studenten die Scheu vor großen Werken genommen werden. Das war aber nie mein eigentliches Anliegen, einen solchen Comic mit Crumb zu machen.

Worin genau bestand denn ihr Anliegen, einen Comic über Franz Kafka zu machen?

Ich rede vom Zweck der Serie, in der ich für die drei Titel zu Franz Kafka, Wilhelm Reich und Albert Camus verantwortlich war. Im Verlag Zweitausendeins erschien dann der Kafka-Band unter dem Titel Kafka kurz und knapp, wobei der Titel vor allem aus verkäuferischen Gründen gewählt wurde. Ich hätte diesen Titel nicht gewählt, er klingt so einschränkend. Umso dankbarer bin ich, dass das Werk nun unter dem schlichten Titel Kafka erscheint.

Worin besteht der Reiz, sich als Comicautor mit Kafka auseinanderzusetzen und seine Erzählungen zu adaptieren?

Wie ich schon sagte, der Zweck der Serie bestand darin, junge Leser an große Namen wie Franz Kafka, Fjodor Dostojewski oder Karl Marx heranzuführen. Bei solchen Namen bestehen oft Vorbehalte, dass ihre Werke schwer zu lesen seien oder man nicht wisse, wo man überhaupt anfangen soll. Mit der Comicserie sollte diesen Menschen ein verständlicherer, aber niveauvoller Zugang zu den Werken solcher Autoren geschaffen werden. Sie sollten beim Lesen der Comics eine Idee davon bekommen, worum es in den Werken immer wieder geht. Wir wollten Leser auf den Geschmack bringen in der Hoffnung, dass sie später in den Originaltexten weiterlesen würden.

Wie ist die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Robert Crumb entstanden?

Ich bekam in den neunziger Jahren den Vorschlag des englischen Verlags Icon Books, einen solchen Comic zu machen. Ich war zu der Zeit mit Robert Crumb befreundet, wir lebten beide in Südfrankreich, und ich wusste, dass er von Kafka fasziniert war. Er hat sich selbst manchmal wie eine Figur aus einer Kafka-Erzählung gefühlt. Er war sofort Feuer und Flamme für das Projekt, weil es ihm die Möglichkeit bot, etwas anderes zu machen als das, was er in den Jahren zuvor gemacht hatte.

Wie passt Robert Crumbs schroffer, anarchistischer Zeichenstil zu dem sensiblen Sprachfilou Franz Kafka?

Ich kannte alles, was Crumb bis in die Neunziger hinein gemacht hat, auch seine privaten Skizzen und Zeichnungen. Wenn er eine Skizze sieht, etwa von Georg Grosz, dann kann er den Stil sofort nachzeichnen. Robert Crumb ist ein Meister der Imitation, ich kenne ganz klassische Zeichnungen von ihm. Das, was sie meisten von ihm kennen, also Fritz, the Cat oder Mr. Natural, das ist nur die Oberfläche seiner Zeichenkunst. Seine bekanntesten Objekte, die voluminösen und sexuell aufgeblasenen Frauen, sind vor allem Ausdruck seiner Sehnsüchte und Ängste. Seine Fähigkeiten gehen aber weit über all das hinaus. Alles was es brauchte, um diese Fähigkeiten heraus zu kitzeln, war ein Projekt, für das er sich interessierte. Und Kafka war ein solches Projekt.

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David Zane Mairowitz, Robert Crumb: Kafka. Aus dem Amerikanischen von Ursula Grützmacher-Tabori. Handlettering von Marianne Nuß. Reprodukt Verlag 2013. 176 Seiten. 17,- Euro. Hier bestellen

Was die an Georg Grosz und Otto Dix erinnernden Zeichnungen in dem Band erklärt.

Vollkommen richtig. Es ist auch nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass Robert Crumbs Stil von den deutschen Expressionisten stark beeinflusst ist.

Sie denken in Kafka über den Franz Kafka anhand seiner zentralen Erzählungen nach und arbeiten drei Kernthemen heraus: Kafkas schwieriges Verhältnis zu seinem Vater, sein ambivalentes Verhältnis zu allem Körperlichem und Sexuellem und sein Ringen mit seiner jüdischen Identität. Liegen in diesen drei Themen auch die wesentlichen Motive seines Schreibens?

Ich könnte dem jetzt zustimmen, denn falsch ist es nicht. Aber das Problem einer solchen Aussage besteht darin, dass man über Kafka nicht einfach sagen kann, dass er auf diese oder jene Art schreibt. Das Material ist so reichhaltig und so vielfältig interpretierbar, dass es mehr als einen Weg gibt, es zu verstehen. Entsprechend ist auch – abgesehen von Shakespeare – über keinen anderen Autoren so viel geschrieben worden, wie über Franz Kafka. Es gibt viel mehr Text über ihn als von ihm.

Man kann Kafka nicht auf diese drei Themen reduzieren, sie spielen aber schon eine große Rolle. Letztendlich können sie zu einem viel größeren Thema zusammengeführt werden. Es ging Kafka bei seinem Schreiben immer darum, sich selbst zu vernichten – eine Konsequenz der Biografie. Kafka hat sehr viel mit sich selbst ausgemacht, lebte sehr introvertiert, aber mit kritischem Bewusstsein. Mit diesem Bewusstsein ist er als Jude in einem antisemitischen Klima und als Feigling an der Seite seines monsterhaften Vaters aufgewachsen. Die Sensibilität, wie sie Kafka für alles hatte, was mit ihm und um ihn herum geschah, fehlt wahrscheinlich 99,9 Prozent aller Menschen. Er hat alles, aber wirklich alles wahrgenommen. Das was hinten und vorn passierte ebenso wie das, was oben und unten stattgefunden hat. Und wenn man Kafka liest, kann man genau das erfahren. Ein Satz beginnt, dann wendet er sich nach links, dann nach oben, rechts herum und geradeaus, etwas später wieder nach unten… und wenn man dann innehält und sich umschaut, dann ist man so weit gekommen. Es ist unfassbar, wie weit man nach einem Absatz vom Anfang entfernt ist. Genau das ist Kafka.

Dieser sensible Kafka war von seiner Kindheit, seinem Vater, dem jüdischen Umfeld und der strengen Prager Umgebung derart geprägt, dass sein Schreiben für ihn immer eine Art Überlebenskampf in dieser Umgebung war. Irrsinniger Weise bestand Kafkas Art, zu überleben, darin, sich schreibend immer wieder selbst zu vernichten. Es ging dabei nicht um Selbstmord, sondern um eine psychologische Verarbeitung des Erlebten. Wenn also der Vater sagte »Ich werde Dich wie einen Käfer zertreten«, dann nahm Kafka in seinem Werk die Rolle des Käfers an und ließ sich von seinem Vater mit einem geworfenen Apfel vernichten. Er hat all die hässlichen Angriffe und Attacken in sich aufgenommen und in seiner Literatur kommen sie dann wieder aus ihm heraus. Er machte sich so klein wie möglich. Etwa als er schrieb, dass ein Bild seiner Existenz »eine nutzlose, mit Schnee … überdeckte, schief in den Erdboden leicht eingebohrte Stange auf einem … aufgewühlten Feld am Rande einer großen Ebene in einer dunklen Winternacht« sei. Oder er machte sich zu Käfern, Mäusen oder Maulwürfen. Dies Kreaturen, in die sich Kafka in seinen Romanen verwandelte, sind Tiere, die auf dem Bauch kriechen. Im jüdischen Glauben sind solche Tiere nicht koscher. Schweine- oder Krebsfleisch dürfen Juden nicht essen, weil die Tiere auf dem Bauch kriechen. Meine Theorie ist, dass Kafka sich nicht nur als Mensch, sondern auch als Jude vernichten wollte, wenn er sich in diese Rollen versetzte.

Ein weiteres Mittel seiner Literatur ist das Motiv des Sich-selbst-Auslieferns. Oft heißt es, in Kafkas Romanen gehe es um Totalitarismus, Autoritarismus und Bürokratie, das ist in meinen Augen aber Unsinn. Wenngleich immer eine Autorität im Raum steht, ist sie nie erreichbar. Die Richter von Josef K. im Process sind nicht greifbar. Vielmehr ist es so, dass Josef K. eines Tages in Verdacht gerät und er ab diesem Moment immer weiter danach sucht, wie er sich entschulden kann, ohne dass dies jemand verlangt. Es ist, als würde er seinem Urteil entgegenlaufen. Die Autoritäten in Kafkas Romanen sind auch nicht furchterregend oder sinister, sondern lächerlich. Sie verhalten sich auch absolut inkohärent, das was sie machen, ergibt überhaupt keinen Sinn. Aber die, die davon betroffen sind, suchen einen Sinn in ihrem Verhalten. Sie liefern sich permanent selbst aus, um sich für etwas entschuldigen zu können, was sie nicht gemacht haben. Dieses Motiv des Sich-Servierens, das nicht von oben gefordert, sondern von unten freiwillig gegeben wird, mutet fast als eine Art Sklavendasein an. Auch das führt zurück zu Kafkas wichtigstem Thema, sich zu vernichten oder klein zu machen.

Kafka diskutierte bei all dem natürlich ein großes Thema, das der Gehorsamkeit. Kaum kommt ein Vorwurf auf – wie bei Josef K. der Verdacht –, nimmt der Mensch die Schuld an und sucht einen Weg, sich zu entschulden. Gegen Autorität zu schreiben ist einfach. Autoritäten sind einfache Ziele. Aber darum geht es bei Kafka nicht. Ihm ging es um unsere Reaktion auf Autorität.

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David Zane Mairowitz, Jaromír 99: Das Schloss. Knesebeck Verlag 2013. 144 Seiten. 22,- Euro. Erscheint im Frühjahr 2014.

In Kafkas Romanen und Erzählungen gibt es nie einen festen Boden. Alles wackelt, alles bröckelt, alles löst sich in sich selbst auf – was übrigens ganz wunderbar in dem Comic Der Process deutlich wird, den Sie mit Chantal Montellier umgesetzt haben.

In dem Moment, wo man denkt, Kafka verstanden zu haben, kommt immer etwas Neues. Das beste Beispiel bietet Das Schloss mit der Geschichte der zwei Schwestern Olga und Amalia. Ihre Familiengeschichte entwickelt sich zu einem tiefgründigen Erzählwerk, in dem aus einer kleinen Geschichte das ganze Universum der Erzählung entsteht. Bei Kafka eröffnen sich ständig neue Möglichkeiten und Ausgangssituationen für weitere Geschichten und aus diesen wiederum für noch mehr Geschichten. Und so geht es immer weiter. Es gibt keinen festen Boden.

Frauen spielen bei Franz Kafka eine große Rolle, wie ja auch bei Robert Crumb. Das Maß des Expliziten scheint mir nur unterschiedlich. Treffen mit Kafka und Crumb zwei unterschiedliche Menschen aufeinander oder eher zwei Brüder im Geiste?

Robert Crumb hat genau dieselbe Angst vor Frauen wie Franz Kafka. Wenn sich Crumb selbst als kleinen und zitternden Wicht vor den kräftigen Frauen mit großen Ärschen zeichnet, dann macht er sich da genauso klein, wie sich Kafka in seinen Werken klein macht. Crumbs Frauen sind immer riesengroß und drohen ihn aufzufressen. Kafka hat dieselbe Angst vor Frauen. Er spricht davon ja auch in seinem Tagebuch. Da beschreibt er seine Angst vor dem Geschlechtsverkehr, spricht von der Sexualität als der »Sehnsucht nach Schmutz« und vom »Koitus als die Bestrafung für das Glück des Beisammenseins«. Ich glaube, wenn man so offen darüber schreibt, ist ein Teil davon immer doppeldeutig. Die Angst ist zugleich auch Ausdruck der Faszination. In Crumbs Zeichnungen kann man das auch gut nachvollziehen. Kafka und Crumb »funktionieren« genau so.

Hat sich Crumb in dem Kafka-Band auch selbst gezeichnet?

Ja, etwa die Figur in den Zeichnungen zum Prozess, das ist Crumb selbst. Er hat sich selbst an die Stelle von Josef K. gesetzt. Vielleicht, weil er sich selbst auch so verloren in der Welt fühlte.

In dem Kafka-Band sind alle wichtigen Kafka-Romane auszugsweise grafisch wiedergegeben. Hat Crumb jemals darüber nachgedacht, Kafkas Werke oder eines komplett zu adaptieren?

Das weiß ich nicht. Ich erinnere mich, dass ihm diese Arbeit an Kafka enorm viel Spaß gemacht hat. Soweit ich weiß, ist unser Kafka-Band in der Liste der 100 berühmtesten Comics weltweit, was sicherlich hauptsächlich mit seinen Zeichnungen zu tun hat. Aber von selbst wäre er auf das Thema wohl nicht gestoßen, ich habe ihn darauf gebracht. Ich bin mir nicht sicher, ob er an Kafka heute noch einmal ganz allein arbeiten würde.

Neben Die Verwandlung ist Der Process wohl Kafkas bedeutendste Erzählung. Gemeinsam mit Chantal Montellier haben sie die Erzählung als Comic adaptiert. Wie reduziert man eine über 200 Seiten lange Erzählung auf ein handhabbares Comicscript?

Ich mache seit Jahren Bühnen- und Hörspieladaptionen von großen Romanen wie Moby Dick. Da besteht immer die Frage, wie man sicke Wälzer in einem zweistündigen Stück umsetzen kann. Man muss zu Beginn sehr streng kürzen, aber man muss dann auch viel hörbar machen, was sonst wegfällt. Beim Comic muss man das dann eben in Zeichnungen umsetzen. Meine Aufgabe besteht dabei darin, den Roman für die Augen zu kürzen. Das ist im Falle von Der Process insofern interessant, weil ich diesen Text schon mehrmals bearbeitet habe. Ich habe schon ein Theaterstück und einen Comic daraus gemacht, und gerade arbeite ich an einem zehnteiligen Hörspiel. Und jedes Mal ist das Ergebnis meiner Arbeit ein anderes.

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David Zane Mairowitz, Chantal Montellier: Der Process. Knesebeck Verlag 2013. 130 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen

Chantal Montellier ist in Frankreich für ihr fantastisches Repertoire sehr bekannt. In dem Moment, wo sie den Stoff angefasst hat, begann sie, zu assoziieren und Ideen zu entwickeln. So hatte sie die Idee des Skeletts, das auf fast allen Seiten auftaucht. Sie wollte auch, dass der Geburtstag von Josef K. immer wieder genannt wird. Das waren alles nicht meine Ideen, die hat sie frei entwickelt, als sie begann, zu zeichnen.

Hat sie Ihnen erklärt, was es mit dem kleinen Skelett auf sich hat. Es wirkt wie ein morbider Kommentar aus dem Off.

Es ist für sie wie eine Icon für den Tod. Schließlich geht es in dem Roman auch ständig um den Tod. Er ist von Anfang an anwesend. Ein zweites Symbol ist die Uhr, die auch immer wieder auftaucht. Das sind die persönlichen Symbole von Chantal Montellier, die sie meines Erachtens weniger bewusst als vielmehr intuitiv eingesetzt hat.

Chantal Montellier hat in ihrer Adaption die Doppelbödigkeit von Kafkas Erzählstil unfassbar genial, fast magisch umgesetzt. Panel lösen sich teilweise selbst auf oder brechen großteilig weg. Auf manchen Seiten fällt dann das Skelett durch die Panel wie der Leser durch die Geschichte.

Es freut mich, wenn Ihnen der Comic gefällt. Ja, sie hat das gut umgesetzt. Das finde ich auch. Im Zeichenprozess arbeite ich immer eng mit den Zeichnern zusammen. Sobald zehn, zwanzig Seiten fertig entworfen sind, bekomme ich die Entwürfe und dann arbeiten wir zusammen an den Seiten. Das heißt, meine Arbeit geht parallel mit der Grafik immer weiter. Ich schlage dann etwas vor und dann schauen wir gemeinsam, was umsetzbar ist.

Für ihre grafische Adaption hat sich Montellier von Robert Crumb und Jacques Tardi inspirieren lassen. Es sind zum Teil Zeichnungen aus der Kafka-Werkbiografie im Original übernommen. Wie kam es dazu? Konnte man das besser als Crumb nicht mehr machen?

Crumb und Tardi sind einfach zwei wahre Meister ihres Fachs. Chantal Montellier erwähnt ja an den entsprechenden Stellen, dass diese Zeichnungen nicht von ihr stammen beziehungsweise inspiriert sind. Warum sie das an den einzelnen Stellen gemacht hat, weiß ich nicht, Entweder sie dachte, sie könnte das selbst nicht besser machen oder sie war an dem Tag faul. Ich weiß es nicht.

Ihrer Kafka-Werkbiografie, die sie gemeinsam mit Robert Crumb umgesetzt haben, liegt auch eine Kritik zugrunde. Sie beklagen, dass Franz Kafka zum alles- und zugleich nichtssagenden Adjektiv »kafkaesk« verkommen ist.

Ich denke, wenn Kafka vielleicht Blumental oder Mairowitz geheißen hätte, hätte niemand ein -esk angefügt. »Kafkaesk« klingt einfach gut, so dass dieses Adjektiv entstanden ist. Was man allerdings heute damit bezeichnet, hat überhaupt nichts mit Kafka zu tun. Seine Literatur zeichnet das Motiv der Selbstvernichtung aus, die Neigung, sich selbst klein zu machen vor der Welt. Wenn aber heutzutage kafkaesk verwendet wird, ist damit meist eine gegenwärtige Diktatur- und Bürokratiekritik verbunden.

Ich hasse den Begriff »Zeitgenossen«. Shakespeare ist ein Zeitgenosse, denn er hat für seine Zeit geschrieben. Aber was er geschrieben hat, geht weit darüber hinaus. Gleiches gilt für Diderot, den ich gerade wieder gelesen habe. Seine Ideen sind so revolutionär, er ist seiner Zeit weit voraus. Kafka aber hat keine bestimmte Zeit, seine Schriften sind zeitlos. Kafka, der Mensch, gehört seiner Zeit. Was er geschrieben hat, gehört aber nicht seiner Zeit.

Warum müssen wir heute immer noch Kafka lesen?

Kafka ist für mich der Autor der Autoren. Nicht, weil ich meine, jeder Schriftsteller sollte so schreiben, sondern weil für Kafka Schreiben alles im Leben war. Auch wenn er nicht so viel geschrieben hat wie andere, aber hatte er einmal angefangen, konnte er nicht damit aufhören. Das zeigen auch seine Briefe. Er hat täglich bis zu zehn lange Briefe mit der Hand geschrieben. Einmal begonnen schrieb und schrieb und schrieb er. Das hörte nicht mehr auf. Es ging ihm nicht darum, vom Anfang zu einem Ende zu kommen. Es ging ihm um das Schreiben als solches. Auch deshalb sind die meisten seiner Werke im eigentlichen Sinne unvollendet, weil es ihm nicht um ein Ende ging, sondern um das Weiterschreiben. Die Form ist ihm dabei völlig egal. Wenn man Kafka heute liest, kann es nicht darum gehen, eine Geschichte von Anfang bis zum Ende zu lesen. Es geht um das Erlebnis »Lesen als solches«, weil man zu einem Buch greift und einfach nur liest. Ob der Roman am Schluss auch zu Ende ist? Nun, darum geht es bei Franz Kafka nicht.

Ein schönes Schlusswort. Herr Mairowitz, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Eine kürzere Fassung des Interviews erschien am 14.05.2013 auf der Comicseite vom Berliner Tagesspiegel

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