Bae Suahs Roman »Weisse Nacht« ist surreales Märchen, unheimliche Geisterbeschwörung und doppelbödiger Hitzetraum. Magischer Realismus asian style.
Im Mittelpunkt steht die Theaterschauspielerin Ayami, die in einem Hörtheater – also einem Theater, in dem man Aufführungen nur akustisch geniesst – jobbt. Der Roman setzt am letzten Abend dieses Kulturortes ein, denn das Theater wird mangels Besucher:innen schließen. In dem Raum nimmt Ayami eine Art akustische Rückkopplung wahr, sie hört, nein fühlt Stimmen, wie man auf den ersten Seiten erfährt, wenn längst alle Mikros abgedreht sind.
Dieses nicht greifbare Gefühl, das Ayami zu Beginn beschleicht, geht auf die Lesenden über, denn Bae Suah webt das Ungewisse in ihren Text ein. Die zwischen Deutschland und Korea pendelnde Autorin, die laut Verlag eine der originellsten koreanischen Stimmen ist, hat sich hier einiges von Kafka abgeschaut, dessen Texte sie – neben denen von W.G. Sebald und Christian Kracht – ins Koreanische übertragen hat. Und wie bei Kafka geht es ihr weniger um eine logische Handlung, als vielmehr um Atmosphäre, die sich hier intuitiv zu einem Bild des Unheimlichen, des Surrealen fügt. Denn Ayami wird mit dem Theaterdirektor durch das nächtliche Seoul ziehen, von dem es nur heißt, dass es »unter einem feuchtheißen, dampfenden Erdhaufen langsam erstickte.«
Nun kann man in einer Stadt wie Seoul der Hitze entgehen, kaum ein Appartement ist nicht mit Klimaanlage ausgestattet. Ayami aber ist davon ausgenommen, sie lebt in beklemmenden und ärmlichen Verhältnissen. Das Motiv der permanenten Hitze, der sie nicht ausweichen kann, spiegelt auch ihren sozialen Status. Sie ist den Temperaturen, aber auch der Stadt vollkommen ausgeliefert. Zugleich zeigt sie sich als offen für die Menschen, die ihr begegnen, ganz egal, ob es ein alter Besucher des Hörtheaters oder ein angereister Krimiautor ist.
Überhaupt lebt dieser dichte und intensive Text, den Sebastian Bring in ein souverän ins Deutsche übertragen hat, von der permanenten Wiederholung und Abwandlung von Bildern und Motiven. Immer wieder taucht ein Paar auf, das offenbar kurz vor der Trennung steht, ohne das klar wird, wer sich eigentlich von wem trennt. Da ist der Roman »Die blinde Eule«, den Ayami mit ihrer deutschen Übersetzerin liest, dessen persischer Autor Sadegh Hedayat im Roman aber auch eine Rolle spielt. Und immer wieder tauchen Teile einer Kriminalgeschichte auf, die von einem Mann handeln, dem ein Nagel in den Schädel geschlagen worden sein soll. Diese Geschichte ist ein Gerücht, das sich im koreanischen Umfeld der Autorin hartnäckig hält, für das es aber keine wirklichen Belege gibt. Sie hat dieses Gerücht in seine Einzelteile zerlegt und flicht es in ihre Erzählung ein.
Die Hauptfigur in Bae Suahs Roman ist ein seltsames Wesen, halb anwesend, halb abwesend geistert sie durch Seoul und diesen Roman. Das liegt, so erklärt die Koreanerin, daran, dass Ayami kein koreanischer Name ist. Das erschließt sich den deutschen Leser:innen nicht sofort, aber erklärt, warum sie Lost in Translation und Medium in einer Figur verbindet. Ayami komme aus der schamanischen Kultur, erklärt Suah beim 21. Internationalen Literaturfestival in Berlin. Der Name meine einen Geist, der flüsternd die Geheimnisse anderer verrät. Die Figur sei lebendiger Mensch und Geist in einem, multipel, rätselhaft und irritierend. Aber eben auch verführerisch, weshalb man ihrem Blick und den Menschen, denen sie in »Weisse Nacht« begegnet, gespannt folgt.
Dieses Buch führt den magischen Realismus in eine der modernsten asiatischen Metropolen. Eine faszinierende Erfahrung.