InSzeniert, Literatur, Roman

Erinnerungsfetzen für die Ewigkeit

Beim 21. Internationalen Literaturfestival in Berlin stellte der bosnisch-amerikanische Autor Aleksandar Hemon am Sonntagabend sein literarisches Doppelalbum »Meine Eltern / Alles nicht dein Eigen« vor.

Bücher, die man sowohl von vorn als auch von hinten lesen kann, sind zwar kein Novum, aber dennoch eine Seltenheit. Benjamin Steins »Die Leinwand« ist ein Beispiel für die gelungene Form eines solchen Experiments, Mark Z. Danielewskis »Only Revolutions« erst recht, wenngleich der Amerikaner darin das literarische Spiel mit der Leserichtung auf die Spitze treibt.

Das neue Werk von Aleksandar Hemon gehört nicht in die Reihe dieser ungewöhnlichen Werke, wenngleich es haptisch ähnlich daherkommt. Denn es hat zwei Titel, je nachdem, auf welche Seite man es dreht, sieht man das Foto einer Familie unter der Überschrift »Meine Eltern« oder das Foto eines kleinen Kindes unter der Überschrift »Alles nicht dein Eigen«. Getrennt werden diese beiden Bücher von Fotos aus dem Familienarchiv. Während Stein und Danielewski jedoch mit Leserichtung und Lesereihenfolge ihrer Wendebücher spielen, schreibt Hemon von beiden Seiten strikt linear. Denn sein neues Werk ist ein Doppelalbum, es sind zwei Bücher in einem, die Rücken an Rücken stehen und deren Lektüre nacheinander erfolgen kann.

Dabei bietet es sich an, mit der Elternseite zu beginnen. In »Meine Eltern« erzählt Hemon in literarischen, ja poetischen Zügen die Geschichte von Mama und Tata anhand seiner Erinnerungen. Er erzählt von ihrem Leben in der mittleren Oberschicht – »In Bosnien hatte meine Familie Besitz« –, von ihren Entbehrungen und Verlusten im Krieg und dem Dasein nach der Flucht in Kanada. Er berichtet, wie das alte Leben das neue durchdringt und seine Eltern mithilfe von Wetterberichten und ausgemalten potentiellen Katastrophen versuchen, ihr aus den Fugen geratenes Leben in festen Bahnen zu halten. Die Zäsur des Krieges und der Flucht, »das Unvorstellbare« hatte zur Folge gehabt, dass seine Eltern jeder Stabilität misstrauten. »Wenn ich über meine Eltern schreibe, muss ich zwangsläufig darauf hinweisen, dass ihre Vertreibung, diese entscheidende Zäsur in ihrem Leben, alles in ein Vorher und ein Nachher unterteilt«, schreibt er deshalb auch in »Meine Eltern«.

Das Gegenstück zu dieser Erzählung ist die unkonventionelle Sammlung »Nicht alles dein Eigen«, in der Hemon Erinnerungsfragmente der eigenen Kindheit versammelt hat. Gut einhundert dieser rauen Vignetten stehen zehn Kapiteln einfühlsamen Elterngeschichte gegenüber. Spannend an dieser autobiografischen Kurzprosa ist, dass sie ausgehend von konkreten Objekten persönlichen Erinnerungen und Eindrücken den Weg bereitet. Mit den Erinnerungen sei es ohnehin so einer Sache, sagte Hemon beim 21. Internationalen Literaturfestival im Gespräch mit Literaturübersetzer Bernhard Robben, der zuletzt Werke von John Burnside, Ta-Nehisi Coates, Ian McEwan oder John Wray ins Deutsche übertragen hat. Man erinnere nicht das konkrete Ereignis, sondern die Geschichte, die mit diesem Ereignis verbunden ist, so Hemon. Daher verändere das autobiografische Schreiben die Erinnerung – die eigene und die der anderen.

Aleksandar Hemon: Meine Eltern / Alles nicht Dein Eigen. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. Claassen Verlag 2021. 416 Seiten. 24,00 Euro. Hier bestellen

Gerade das scheint aber dem Schriftsteller mehr Freiheiten zu geben, schließlich ist Erinnerungsarbeit immer auch ein Ergebnis eines Auswahlprozesses, was man aufnimmt und was man auslässt. So entsteht in Hemons Kopf eine Geschichte, die nur er so erzählen kann. Und Erzählen sei eine familiäre Tradition, wie er im Buch deutlich macht: »Er (der Vater) geht davon aus, dass jeder eine Geschichte zu erzählen hat, vor allem sein Sohn, der Profigeschichtenerzähler. … Das Schweigen ist der Tod des Geschichtenerzählens und somit der Liebe.«

Das klingt profan, aber Hemon macht im Gespräch deutlich, dass es das für ihn keineswegs ist. Denn nach seiner Flucht vor dem jugoslawischen Bürgerkrieg war der Autor seiner Instrumente beraubt: der Sprache und ihrer Feinheiten. Mit Vladimir Nabokovs »Lolita« brachte er sich selbst Englisch bei, fünf Jahre gab er sich, bis er seinen ersten englischsprachigen Text veröffentlichen wollte. Es dauerte dann nur drei Jahre. Mit »Nowhere Man«, »Lazarus« und »Zombie Wars« sind seither drei Romane erschienen. Dazu kommen zwei Erzählungsbände und das autobiografische »Buch meiner Leben«. Sein Doppelalbum nun ist sein zweites nicht-fiktionales, selbstreferentielles Werk.

Erinnerung und Sprache sind dabei eng verbunden. Hemon erinnert in »Meine Eltern / Alles nicht dein Eigen« in einer faszinierenden Lebendigkeit Situationen in Englisch, die nie in Englisch stattgefunden haben. Weil sie in seiner bosnischen Kindheit liegen. Allein das ist schon die Lektüre von »Meine Eltern« wert, auch weil die deutsche Übersetzung von Henning Ahrens diese Lebendigkeit hält. Seine Mehrsprachigkeit sei dabei ein Vorteil, so Hemon, weil jede Formulierung an mehreren Sprachen vorbei müsse. Dabei klopfe er sein Schreiben ab, nicht hinsichtlich einer wie auch immer gearteten sprachlich-literarischen Perfektion, sondern hinsichtlich seines grundsätzlichen Gehalts, seiner Transformationsfähigkeit.

In seinen Fragmenten setzt sich Hemon mit dem Wesen des Erinnerns auseinander: »Erinnert man sich, wenn man an eine Erinnerung denkt? Denkt man, wenn an eine Erinnerung heraufbeschwört?« Diesen und anderen Fragen geht er hier auf den Grund, wobei er, wie Bernhard Robben feststellt, wie Proust bei seinen Madeleines, bei Einzelheiten und Kleinigkeiten startet, um zum Allgemeinen zu finden. Dabei verzichtet Hemon auf eine literarisch verbundene Form, er vertraut dem assoziativen Gefüge seiner Erinnerungsfetzen, dem »Vieldinggesplitter«, wie es der kenianische Journalist Binyawanga Wainaina in seinen Memoiren nennt. Er stellt sie schlicht nebeneinander, Rücken an Rücken, wenn man so will, wie diese beiden Bücher, die aneinander stehen und einander ergänzen. Wahrscheinlich funktionieren sie auch nur in dieser Form zusammen. Einzeln gelesen blieben diese Erinnerungen ohne Echo. In dieser Form wachsen sie sich aus zu einem Echo der Vergangenheit?

»Solange ich mich erinnere, weiß ich nicht nur, dass ich gelebt habe, sondern dass ich lebendig bin«, sagte Hemon am Sonntag Abend in Berlin. Ein Echo dieses Satzes findet sich auch in »Alles nicht dein Eigen« wieder. Dort heißt es: »Erinnert man sich im Jenseits an das Diesseits?« Eine Antwort bleibt der in den USA lebende Bosnier schuldig. Aber sollte dem nicht so sein, dann kann man ihm nur wünschen, dass es dieses Doppelalbum irgendwie ins Jenseits schafft. Damit er darin lesen kann, dass er nicht nur gelebt hat, sondern lebendig war.