Die Dokumentation »Migropolis« des Kulturwissenschaftlers Wolfgang Scheppe und seiner Studenten an der Universität für Architektur in Venedig zeigt, wie eine Stadt unter die Räder der Globalisierung gerät und zwischen Gentrifizierung, Massentourismus und Migration ihre Identität verliert.
Zwei leere Getränkekisten stehen kopfüber auf dem menschenleeren Platz im Zentrum Venedigs. Auf der einen liegt ein aufgeschlagener Ordner mit Mustern und Vorlagen für Henna-Tattoos. Die andere steht etwa einen Meter dahinter, verformt vom Gewicht des Bangladeschis Zillur, der mehrere Stunden täglich auf der Kiste sitzt und auf Kundschaft wartet. Vor wenigen Minuten hat der irreguläre Einwanderer seinen Arbeitsplatz verlassen – wie übrigens auch die unzähligen Straßenhändler aus dem Senegal, aus China und aus anderen Armenhäusern dieser Welt, die sich sonst neben ihm auf dem Platz tummeln – weil sich eine Polizeipatrouille annähert. Die Polizisten werden an den Kisten vorbeigehen und Zillur wenige Minuten später wieder an seinem Stammplatz auf neugierige Touristen warten.
Venedig braucht Menschen wie Zillur, weil sie die gigantische Touristikmaschine Venedig am Laufen halten. Von den Offiziellen und Sicherheitskräften der Stadt werden die irregulären Einwanderer geflissentlich ignoriert. Festsetzungen oder gar Rückführungen drohen nur denjenigen, die auf frischer Tat ertappt werden. Dies führt zu der absurden Situation, dass die zahlreichen Illegalen, die die Verantwortlichen der Europäischen Union mit einer rigiden Grenzschutzpolitik von Europas Festland fernzuhalten versuchen, in Venedig willkommen sind. Für Venedigs Chartertourismus und seinen mobilen Billigsouvenirmarkt sind sie überlebenswichtig.
Geschichten wie die des Bangladeschis Zillur sind keine Seltenheit, wie der knapp 1.350 Seiten umfassende Forschungsband Migropolis beweist. In zwei dicken Bänden gefüllt mit Fotografien, Grafiken, Einzelfallstudien und Bewegungsprofilen sowie unzähligen statistischen Daten werden die Bedeutung und der Einfluss von Reiseverkehr und Einwanderung auf Venedig beleuchtet.
Die technischen und sozialen Entwicklungen der vergangenen Jahre haben unweigerlich zu einer Mobilisierung des Lebens in all seinen Dimensionen geführt. Grenzen scheinen im Zeitalter der Globalisierung nur noch zu existieren, um überwunden zu werden. Sie sind allenfalls temporäre Mauern zwischen einem Innen und einem Außen. Die zwei wesentlichen Mittel zu ihrer Überwindung sind der globale Tourismus und die internationale Migration. Unabhängig voneinander sind diese Bewegungen, die beide – wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise – von Sehnsucht und Hoffnung auf ein anderes Leben erzählen, in der globalen Gesellschaft nicht mehr zu begreifen. Exemplarisch zeigt dies der Band am Beispiel Venedigs.
Die Stadt an der Adriaküste ist einerseits der urbane Prototyp der Festung Europa – eine finanzstarkes, nach kapitalistischen Regeln funktionierendes System, vor dessen Toren ein Millionenheer irregulärer Migranten wartet, von denen jeder Einzelne auf ein besseres Leben hofft. Andererseits ist Venedig mit seinen historischen Gebäuden und Wasserwegen jedoch auch ein einzigartiger Besuchermagnet. Die Stadt ist für Touristen ebenso wie für Migranten ein Sehnsuchtsort sondergleichen.
Demzufolge prallen Migration und Tourismus in der norditalienischen Stadt frontal aufeinander. Während die Einwohner Venedigs dem täglichen Ansturm der Besucher und der Einwanderer entfliehen und der Stadt den Rücken zudrehen, kulminieren in Venedigs Zentrum die globalisierten Menschenströme in einem einzigartigen Prozess der Verwicklung. Chinesische Touristen kaufen in der Stadt von irregulär eingewanderten Straßenhändlern billige Kopien »echter« italienischer Erinnerungsstücke, von denen nur Sekunden vorher das Etikett »Made in China« entfernt wurde. Amerikaner, Briten und Russen mieten sich in klassische Hotels mit italienischem Ambiente ein und ahnen nichts davon, dass rumänische und moldawische Zimmermädchen ihre Betten aufschütteln. Deutsche und Australier genießen ihre italienische Pizza und loben die cucina italiana, die sich Ägypter und Marokkaner akribisch angeeignet haben. Nur mit ihrer Hilfe kann das System der Dumpingpreise aufrechterhalten werden. Solche mit der Globalisierung einhergehenden Prozesse verändern im Hintergrund die Realitäten, um im Vordergrund ein illusionär-romantisches Bild zu bewahren. Der Maskenball als venezianische Folklore erhält hier eine beängstigende Ambiguität.
Die Täuschung basiert auf einer kollektiven Blendung, der Wahrnehmung eines ikonografischen Bilds von Venedig, das in der Realität maximal noch ansatzweise Niederschlag findet. Der Ort des täglichen Spektakels ist eine mit Wunschdenken und Idealen aufgefüllte Kulisse. Die Paläste hinter den metergroßen Plakaten der globalen Modemarken sind leer, ihrer Funktion beraubt, zu bloßen Werbeträgern verkommen. Die alteingesessenen italienischen Bäckereien und Restaurants sind längst geschlossen und von den immergleichen Modelabels und Fast-Food-Restaurants ersetzt worden. Der Tourist nimmt das nicht wahr. Er sieht nur das, was er sehen will. Die Illusion ist perfekt.
Hinter der Kulisse vollziehen sich höchst komplexe Prozesse, die die Differenzen zwischen Arm und Reich zementieren, wenn nicht sogar weiter verstärken. Die Fahrt auf dem Wasser, dem Venedigbesucher ein unverzichtbares Vergnügen, ist für den Wirtschaftsflüchtling aus Afrika das nicht selten tödliche Himmelfahrtskommando, ohne das seine Einreise kaum möglich ist. Der Mobilisierung des Lebens setzt die industrialisierte Welt die Militarisierung der Grenzen entgegen. Statt allen mehr Chancen zu bieten, manifestiert die Globalisierung so die bestehenden Unterschiede.
Diese »Eskalation der Globalisierung« haben Studenten an der Universität für Architektur in Venedig unter der Ägide des deutschen Philosophen Wolfgang Scheppe in einem bisher einzigartigen Forschungsprojekt untersucht. Daraus entstanden ist ein Kaleidoskop der Globalisierung, in dem sie die sozialen, finanz- und wirtschaftspolitischen sowie kulturellen Bewegungen der Stadt festgehalten haben. Scheppes Studenten belegen auf eindrucksvolle Weise die Auslieferung der Stadt an die sie überrollenden Menschenströme.
Die Autoren schweifen in der linkssozialistischen Tradition des Situationismus durch die unzähligen Aspekte der Zusammenhänge von Kapital, Tourismus und Migration. Das ständige Pendeln zwischen diesen Polen führt jedoch nicht zu einer Bewegungssoziologie ohne Aussage, sondern zu einer strukturierten Betrachtung der einzelnen Aspekte aus den verschiedensten Perspektiven. Essayistisch werden die unzähligen statistischen Daten mit situativ-subjektiven Informationen verbunden und grafische sowie fotografisch in Szene gesetzt. Die Komplexität der Welt wird hier im Kleinen abgebildet und begreifbar gemacht. Derart ist eine kritische Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Gesellschaft als solcher entstanden, in der sich die Wirtschaft als verselbständigte Macht über das Menschliche erhebt und Lebensbedingungen diktiert.
Zugleich ist dieser Band auch ein Stück Kunstgegenstand. Bereits in seiner Grundanlage wird die Kunst deutlich, dieses hochkomplexe Thema von all seinen Seiten zu beleuchten. Die eigentliche Schwierigkeit solcher Publikationen besteht jedoch darin, das unzählige statistische Grundlagenmaterial attraktiv und vielfältig aufzubereiten, um den Leser nicht mit Balken- und Kreisdiagrammen zu erschlagen und in die einschläfernde Monotonie zu treiben. In diesem bereich glänzt der Band durch einen selten gesehenen Einfallsreichtum. Attraktiver und abwechslungsreicher kann man statistische Daten nicht aufbereiten, als es Scheppe und seine Studenten getan haben. Zugleich ist es ihnen gelungen, durch intelligente Grafiken die Aussagekraft der statistischen Grunddaten eindrucksvoll zu maximieren, so dass dem Leserin zahlreichen Fällen die Bedeutung dieser Daten erstmals in all ihren Ausmaßen bewusst wird.
Es gibt keinen besseren Gegenwartsreport, als diesen quantitativ und qualitativ hoch kompakten »Atlas einer globalen Situation«.
[…] Migration, Marktwirtschaft und Massentourismus entstehen. Die wichtigste Erkenntnis aus dem Projekt Migropolis lautete: strukturelle Eindeutigkeiten heben sich zunehmend auf. Die Komplexität einer Welt, in der […]
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