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Paul Gauguin und der Sehnsuchtsort Südsee

Nachdem vor zwölf Jahren in Paris die größte Werkschau von Paul Gauguin seit 1949 gezeigt wurde, präsentiert die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel noch bis Ende Juni nun eine etwas kleinere Retrospektive des Werks eines der wichtigsten Wegbereiter der klassischen Moderne.

Im nasskalten Spätherbst 2003 reihten sich vor dem Grand Palais in Paris die Interessierten an Paul Gauguins Tahiti-Bildern geduldig über hunderte Meter in Schlangenlinien ein, um in die Schau mit über 90 Gemälden und 30 Plastiken zu kommen. Auch der Autor stand sich über zwei Stunden lang die Beine in den Bauch, um Meter für Meter den heiligen Hallen näher zu kommen, in denen die seit 1949 größte Gauguin-Ausstellung zu Gast war, nachdem sie in Boston debütierte. Gut zehn Jahre später wird so manchen Besucher im kleinen Dorf Riehen bei Basel ein déjà vu-Erlebnis beschleichen. Die renommierte Fondation Beyeler zeigt in den von Renzo Piano in die idyllische Landschaft gezauberten Hallen über fünfzig Meisterwerke aus dem fliegenden Atelier des europamüden Weltenwanderers Paul Gauguin. Die Schau ist die kleine Schwester der Pariser Retrospektive. Das ist deshalb beachtlich, weil Gauguins Werk über die ganze Welt verstreut ist. Sechs Jahre Vorbereitung hat es gebraucht, um die nun ausgestellten Werke aus dreizehn Ländern aus den Sammlungen großer Häuser und von Privatiers für diese Schau zu lösen. Wesentlich Neues wird dabei nicht gezeigt, Gauguins Kunst ist erschlossen und hinreichend gedeutet. Auch diesmal ordnet sich das Werk um die Zyklen seiner beiden Südsee-Aufenthalte an, was – wie schon anno 2003 in Paris – die Massen anzieht. Die Menschen schieben sich fast durch die weiten Räume des Hauses, bereits vor Abschluss der Halbzeit der Werkschau wurde die einhunderttausendste Besucherin begrüßt.

Die Inaugenscheinnahme dieses außerordentlichen Werkes lohnt aber allein wegen der Gegenüberstellung des verstreuten Ganzen, weil die Verhältnisse und Beziehungen zwischen den Bildern nie besser sichtbar werden, als in der Werkschau. Paul Gauguin gehört zu den Granden der Klassischen Moderne. Vincent van Gogh (mit dem er sich zunächst in einer Künstler-WG zusammentat, um sich dann zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn zu entzweien), Paul Cézanne und Camille Pissaro gehörten zu seinen Weggefährten, in seinen Gemälden sieht man Bezüge zu Edgar Dégas, Sandro Botticelli und Lucas Cranach, aber auch zur altägyptischen Malerei oder der buddhistischen Tempelkultur. Und ohne seinen kühnen Umgang mit Farben und Formen, das Aufbrechen des Impressionismus zugunsten von Emotionen und Stimmungen, wäre die Kunst von Ernst Ludwig Kirchner, Henri Matisse oder Pablo Picasso undenkbar.

Vor allem seine innere Unruhe, die ihn einem Kolumbus gleich nahezu alle Meere und Ecken der Welt haben bereisen lassen, wird in seiner zeitkritischen Kunst sichtbar. Diese Unruhe scheint ihm in die Wiege gelegt. Als Sohn eines exilierten französischen Journalisten wuchs er in Perus Hauptstadt Lima auf, bevor er als Heranwachsender der Marine diente und mehrmals den Atlantischen Ozean überquerte, bevor er überhaupt den ersten Pinselstrich tat. Erst im Alter von 34 Jahren beschließt er, die Künstlerlaufbahn einzuschlagen. Er trennt sich von seiner ersten Frau und den Kindern und gründet in der Bretagne eine Künstlerkolonie. Als Herzstück und Kopf der »Schule von Pont-Avenue« fand Gauguin in der rauen nordfranzösischen Landschaft seinen Stil, der ihn bekannt machen sollte. Die stark kontrastierende und konturierende Verwendung von leuchtenden, reinen Farben, die das Bild in seiner Flächigkeit ausweiten, wird als Synthetismus in die Kunstgeschichte eingehen. Er ist das Brückenstück zwischen Impressionismus und Expressionismus. Kaum ein Werk macht dies so deutlich wie das von Paul Gauguin.

Zugleich suchte der Franzose in seinen Bildern nach einer tieferen Wahrheit unter der Oberfläche seiner Landschaftsidyllen und Heiligenbilder. Es ist, als würde er die Fläche weiten, um Platz zu schaffen für die Tiefe. Die felsige bretonische Landschaft hat ihren Teil dazu beigetragen: »Ich liebe die Bretagne, ich finde hier Wildnis und Primitivität. Wenn meine Holzschuhe auf dem Granitboden klingen, höre ich den dumpfen, eingehüllten, mächtigen Ton, den ich in meinen Bildern suche.« Dieser Ton ist dabei durchaus musikalisch und nicht ausschließlich in Bezug auf die Farbgebung zu verstehen, denn Gauguin stellte an seine Kunst den Anspruch, alle Sinne zu umfassen. »Die Malerei ist die Schönste aller Künste; sie ist die Summe allen Fühlens.« An anderer Stelle heißt es: »Der Musiker ist privilegiert. Töne, Harmonien – und sonst nichts. Er hält sich in einer Sonderwelt auf. Daran sollte auch die Malerei Anteil haben. Als Schwester der Musik lebt sie von Formen und Farben.« Dieser Aspekt wurde auf kluge und zeitgemäße Weise in die Ausstellung eingebunden, indem bekannte Persönlichkeiten und Besucher mehrere Playlists zusammengestellt haben, die unter #GauguinSounds auf der Ausstellungswebsite angehört werden können.

Überhaupt ist die Einbindung moderner museumspädagogischer Mittel in dieser Schau vorbildlich gelöst. Vom kindgerechten Audioguide (der auch jedes Erwachsenenherz erfreut) über den die Ausstellung abschließenden Lebensstrahl bis hin zur interaktiven Weltkarte, auf der sämtliche Reisen Gauguins in chronologischer Reihenfolge nachgezeichnet werden und die eine beeindruckende Bewegungslandkarte ans Tageslicht bringt, lässt die Ausstellung in dieser Hinsicht keine Wünsche offen. Vielmehr noch setzt sie Maßstäbe über die Schweizer Landesgrenzen hinaus.

Der rastlose Weltbürger Gauguin begegnet dem Besucher bereits im zweiten Raum der Ausstellung. Hier befindet sich eines der schönsten und symbolischsten Bilder dieser Werkschau. Bonjour Monsieur Gauguin von 1889 ist ein außergewöhnliches Selbstporträt, das den Künstler vor einem verschlossenen Gartentor zeigt, während sich am Himmel im Hintergrund ein Unwetter zusammenzuziehen scheint. Dort kräuseln sich die Wolken wie auf dem Gemälde Sternennacht von Vincent van Gogh. Die Anspielung auf den Impressionismus ist unübersehbar, zugleich aber will dieser Künstler hier weiter. Bereit weiterzuwandern steht er vor dem Gartentor. Ob die Frau, von der wir nur die Rückansicht geboten bekommen, das Tor öffnen will oder den Zutritt verweigert, bleibt der Entscheidung des Betrachters überlassen. Lässt dieser seinen Blick schweifen hin zur Landschaft jenseits des Gartens der Fondation Beyeler, dann kann er sich denken, dass hier niemand ankommt, sondern Abschied nimmt. Abschied von der Gesellschaft, die ihn nicht will und in der er nicht das findet, was er sucht.

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Hrsg. Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Raphaël Bouvier, Martin Schwander: Paul Gauguin. Texte von Raphaël Bouvier, Isabelle Cahn, Lukas Gloor, Gloria Groom, Sam Keller, Martin Schwander, Alastair Wright, Gestaltung von Hans Werner Holzwarth. Hatje Cantz Verlag 2015. 230 Seiten. 160 Abb. 68,- Euro. Hier bestellen

Es ist das Ursprüngliche, das Gauguin in der Südsee vermutet, die damalige ethnografische Forschung hat die Angst vor dem Ungewissen genommen und die Neugier auf das Unbekannte geweckt. 1891 wandert er ein erstes Mal nach Tahiti aus. Doch statt des unberührten Paradieses, in dem er sich – von der wilden Natur inspiriert – weiterentwickeln kann, findet er einen weitgehend kolonialisierten, christianisierten und entzauberten »Sehnsuchtsort« vor. Sein Gemälde Ta matete von 1892 zeigt zwar einheimische Frauen, aber sie sind aller Traditionen beraubt. Nur noch eine von sechs abgebildeten Schönheiten trägt die traditionelle Kleidung der Einheimischen, während die fünf auf einer Bank angeordneten Frauen zwar bunte, aber züchtig zugeknöpfte Missionarskleider tragen. Viele seiner farbenprächtigen, naiv-mythisch aufgeladenen Gemälde zeigen eher das, was Gauguin in der Südsee vorzufinden erhoffte: junge Tahitianerinnen in einer unberührten Tropenlandschaft. Gemeint sind hier etwa die Idylle der ursprünglichen Dorfgemeinschaft auf Te raau rahi von 1891 oder die Konfrontation von Tradition und einfallender Moderne auf Nafea faaipoipo von 1892.

Vor allem die Naturmythologie Tahitis hatte es Paul Gauguin angetan. Die malerische Verarbeitung dieses Naturglaubens findet sich etwa auf dem Gemälde Hina Te Fatu von 1893 wieder, das die nackte Göttin Hina vor einer fast surreal anmutenden Naturlandschaft zeigt, aus deren Hintergrund uns ihr Sohn und Gott der Erde Fatu anschaut. Zentral für die Auseinandersetzung mit der maorischen Kultur ist Gauguins monumentales Gemälde D’où venons-nous? Que sommes-nous? Où allons-nous?, das er in den Jahren 1897-98, also während seines zweiten, finalen Tahiti-Aufenthalts angefertigt hat. Das sechs Meter breite und über zwei Meter hohe Gemälde bildet das Herzstück der Ausstellung. Es zeigt verschiedene Szenen eines Lebens und damit nicht nur den ewigen Kreislauf des Lebens, sondern bildet das Verhältnis des Menschen zur Natur und der Welt ab. In den oberen Ecken ist erkennbar, dass es auf einem goldenen Grund angefertigt wurde, unter der symbolisch vollen Oberfläche befindet sich also eine noch in die Tiefe gehende Symbolik.

Diese wird auf dem Gemälde Rupe Rupe sichtbar, das Gauguin ein Jahr später angefertigt hat und das einen Saal weiter seinen Platz gefunden hat. Zu sehen sind drei Frauenfiguren in einer paradiesischen Landschaft auf goldfarbenem Grund – Mensch und Natur ergeben hier ein harmonisches Ganzes. Im selben Jahr schrieb Gauguin in einem Brief an seinen Freund André Fontaines: »Sinnenreizende Gestalten stehen da, unbeweglich wie Statuen. Im Rhythmus ihrer Gebärden, selbst in ihrer Regungslosigkeit, offenbart sich Uraltes, Erhabenes – Religion. In ihren verschleierten, träumenden Augen – ein unergründliches Rätsel.« Tatsächlich bieten die Augen der von Gauguin gemalten Menschen Anlass zu rätseln. Ihr Blick zielt immer in die Ferne oder ins Leere. Was dort die unberührte Kindfrau Judith, Faaturuma, Madeleine Bernard oder das junge Mädchen Vaïte Goupil sehen, bleibt ihr Geheimnis. Vielleicht ist es der wehmütige Blick dahin, wo Gauguin selbst das Paradies vermutet, aber eine Kolonie des europäischen Hochmuts vorgefunden hatte.

Und doch ließ ihn die Südsee nicht mehr los. Nachdem er Tahiti vor allem aus finanziellen und gesundheitlichen Gründen 1893 verlassen hatte, brach er schon im Sommer 1895 erneut in die Südsee auf. Der Pariser Hektik entkommen, stellte er schon kurz nach seiner Ankunft fest: »Hier in der Einsamkeit kann man wieder erstarken. Hier löst sich die Poesie von ganz allein.« Doch alle Idylle kann von den finanziellen Nöten nicht ablenken. Enttäuscht vom ausbleibenden künstlerischen Durchbruch und schwer getroffen vom frühen Tod seiner Tochter Aline unternahm er 1898 einen Selbstmordversuch, von dem er sich nie mehr wirklich erholen sollte. Seine in intensive Rot-, Gelb und Grüntöne getauchten Gemälde während seines zweiten Tahiti-Aufenthalts haben nun einen nahezu gleichnishaften Charakter. Sie erzählen, zahlreiche Geschichten und Mythen der Region aufgreifend, vom einträchtigen Miteinander von Mensch und Natur und transportieren dabei vor allem Gauguins Vorstellung eines paradiesischen Lebens, in dem die Natur das göttliche Dasein des Menschen einfasst und rahmt, ja fast inszeniert (Le Cheval blanc, 1898).

Aber in den Verhältnissen auf dem zunehmend europäisierten Tahiti fühlte sich Gauguin unwohl, weshalb er im Herbst 1901 auf die 1500 Kilometer entfernte polynesische Insel Hiva Oa übersiedelte, wo er seine letzten Lebensjahre verbrachte. Auf den ausgestellten, dort entstandenen Gemälden wird zum einen Gauguins beißende Kritik an der Kolonialpolitik Frankreichs (Femme à l’éventail, 1902) sowie die Zerstörung des Paradieses (Cavaliers sur la plage, 1902) sichtbar, indem er entweder die französischen Farben explizit sichtbar machte oder aber stilistisch auf die Kolonialherren anspielte. Die Bilder zeigen auch seine Angst vor dem nahenden Tod, die Gauguin immer wieder im Alkohol zu ertränken versuchte. In Contes Barbares von 1902 zeigt er im Vordergrund das Mädchen Tohotaua, das sich auch auf anderen seiner Gemälden findet sowie eine in buddhistischer Manier sitzende Einheimische. Im Hintergrund hockt teufelsgleich der Maler Jacob Meyer de Haan, der Gauguin ursprünglich in die Südsee begleiten wollte, zu dem Zeitpunkt aber bereits gestorben war. Er symbolisiert den nahenden Dämon Tod, der Paul Gauguin am 8. Mai 1903 im Alter von 54 Jahren ereilen sollte.

Wenn man die Ausstellung verlässt, läuft man an einem der letzten Selbstporträts von 1903 vorbei, dass einen stolzen, aber auch desillusionierten, melancholisch ins Leere blickenden Künstler zeigt. Wie die Frauen auf seinen Bildern, hoffnungsvoll oder furchtsam ahnend, dass unter der Oberfläche mehr ist, als das, was man auf ihr sieht. »Die Malerei ist wie der Mensch: sterblich, aber stets lebendig im Kampf mit der Materie.« Von diesem Kampf mit der Materie, aber vor allem dem inneren Kampf Paul Gauguins mit den Geistern, die er rief, erzählt die Werkschau in Riehen bei Basel, die dort noch bis zum 28. Juni zu sehen ist (alle weiteren Informationen finden Sie hier). Der prächtig bebilderte, das Werk einordnende und darüber hinausführende Ausstellungskatalog ist bei Hatje Cantz erschienen.