Literatur, Roman

Das lange Wippen auf dem Sprungbrett

Peter Richter beschreibt in seinem Erinnerungsroman »89/90« den letzten Sommer des Sozialismus in aller Eindringlichkeit. Es ist das Jahr zwischen dem letzten sozialistischen Wehrkundeunterricht und der ersten Klassenfahrt nach Paris, in dem pausenlos getrunken, diskutiert und politisiert wurde – wenn man nicht gerade im Freibad lag.

Am Anfang von 89/90 wohnt der Leser einem Get-Together in einem Dresdener Freibad bei, wo es in vielerlei Weise zugeht wie auf einer feucht-fröhlichen Party. Es wird gequatscht, getobt und getrunken, und in Büschen wild geknutscht. Und es gilt, was auf jeder Party gilt: »Man bekommt einen Haufen Leute vorgestellt und kann sich keinen Namen merken. Wer interessant ist, stellt sich dann mit der Zeit schon von alleine raus.«

Dieses Prinzip ist für Peter Richters Hammerschlag gegen jede nostalgische Verklärung der Wende eine wichtige Stütze, denn Namen gibt es hier gleich gar nicht. Dennoch lernt man schnell die wichtigsten Menschen seines erzählenden Alter Ego kennen. Etwa den besten Freund S., der mit 15 Jahren schon eine Hundertfünfziger fuhr und um dessen Hüften sich dabei immer irgendein Mädel schlang. Er war es auch, der den Erzähler in den stürmischen Zeiten zwischen dem letzten Wehrkundeunterricht im Mai 1989 und der ersten Klassenfahrt nach Paris im Oktober 1990 immer zu irgendwem mitgeschleppt hat, weil er » zehntausendmal mehr Leute aus hunderttausendmal abseitigen Submilieus« kannte. Oder L., die große Liebe des Erzählers, der er nie nah kam, weil sie sich als »Gewissen des wahren und eigentlichen und schulbuchmäßig korrekten Kommunismus« immer hinter eben jenem versteckte, als es darum ging, ihn zu stürzen. Als Trost bleibt da die Erinnerung an die Geschwister F., weil sie als echte »Superweiber« nicht nur hübsch, sondern betörend waren.

Sie alle waren in der Erinnerung des Erzählers auch in dem Freibad, bevor die Polizei das Vergnügen auflöste. Dieser Einsatz war im Mai 1989 noch ein unschuldiges Fest, ein Narrenspiel zwischen Vopos und der noch brav rebellierenden Jugend, bevor alles anders werden wird. Aber wie fern ist doch das Morgen, wenn das Jetzt so lebendig ist. Oder anders gesagt: »Wie hätten wir denn bitte damals schon, in diesem Moment, eine Ahnung haben sollen, was in diesem Jahr noch alles passieren sollte? Was in den nächsten Minuten passieren würde, war in jedem Fall spannender.«

Diese Spannung im Hier und Jetzt zieht sich vollkommen durch die Erinnerungen des New Yorker Kulturkorrespondenten der Süddeutschen Zeitung Peter Richter. Er veröffentlichte bislang mehrere literarische Sachbücher, etwa Über das Trinken oder über die Blühenden Landschaften in Ost und West, mit Gran Vie. Spanische Vorkommnisse aber auch einen faktenbasierten Roman, der ein wenig mit dem Sachbuch flirtet. Sein neuer Roman hat eine ähnliche Anlage und nimmt das finale Jahr der DDR aus der Perspektive der letzten Generation, die noch einmal das komplette Indoktrinierungsprogramm durchlaufen musste, in den Blick.

Kein einfaches Unterfangen, ist doch über das Taumeln und Stürzen von Heranwachsenden aus der DDR im Zuge der Wende schon mehrfach eindringlich geschrieben worden. Etwa in Als wir träumten, dem gerade von Andreas Dresen verfilmten Sozialroman des Leipzigers Clemens Meyer, aber auch in der ansteckenden Ferienlagerprosa des Romans Schneckenmühle von Jochen Schmidt, in der suchenden Milieustudie Eisenkinder der Brandenburger Journalistin Sabine Rennefanz oder in dem comicalen Tischtennisabenteuer Kinderland von Markus Witzel alias Mawil, der, wie auch Schmidt, in Berlin groß geworden ist. Nun erscheint mit 89/90 ein weiterer Wende(jugend)roman, der nach Leipzig und Berlin nun den Fokus nach Dresden, ins Tal der Ahnungslosen, richtet.

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Peter Richter: 89/90. Luchterhand Literaturverlag 2015. 414 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen

Wenderoman aus Dresden, da fällt natürlich umgehend Der Turm von Uwe Tellkamp ein, dessen Titel nicht nur den Ort, sondern auch einen literarischen Anspruch meint. Peter Richters Roman hat mit diesem aber auch gar nichts gemein, sein Erzähler hält sich weder in dem gemeinten Dresdener Villenviertel Weißer Hirsch noch in dem Elfenbeinturm des hier beschriebenen Bildungsmilieus auf. Er wohnt auf der anderen Seite der Stadt – im Westen, dort, wo im real existierenden Sozialismus die Plattenbauarchitektur Einzug gehalten hat. Hier kennt sich Richter bestens aus, vor Jahren promovierte er über den »Plattenbau als Krisengebiet«. Dieses Neubaugebiet ist die ausgeweitete Kampfzone, von der aus der in Dresden aufgewachsene Journalist seinen 16-Jährigen Erzähler im finalen Sommer des Sozialismus seine Erfahrungen machen lässt.

Das ersatzlose Wegbrechen der alten Ordnung, das überdrehte Erobern eigener Freiheiten oder die brutalen Brüche innerhalb von Freundeskreisen – all das kennt man vor allem aus den Romanen von Meyer, Schmidt und Rennefanz. An Charakterstudien, wie sie Clemens Meyer schreibt, kommen ohnehin nur ganz wenige deutsche Autoren heran. Richter geht auf diesen Feldern gar nicht erst in Konkurrenz. Er setzt in 89/90 ganz auf Atmosphäre und Stil, und das gelingt ihm formidabel. Das Verschwinden der linientreuen Lehrer kommentiert er in nüchterner Gleichgültigkeit, die Konflikte zwischen Skins und Linken dagegen in schonungsloser Detailliertheit. Und alles, was mit Frauen zu tun hat, in einer Mischung aus Ratlosigkeit und Euphorie. Einzig der durch Fußnoten und Namenskürzel betonte Hyperrealismus kommt dieser sprachgewaltigen Prosa in die Quere.

Richter erzählt aus subjektiver Perspektive von den kleinen und großen historischen Wegmarken, angefangen von seiner ersten Mai-Demonstration, die zugleich auch die letzte war, über die vorletzte DDR-Meisterschaft für Dynamo Dresden, die zunehmenden Schlägereien mit den Rechten, die Konfrontation mit den Vopos vor dem Dresdener Hauptbahnhof im Oktober 1989, den ersten Ausflug in den Westen nach dem Fall der Mauer, den anschließenden Ausverkauf von Land und Leuten und bis hin zur ersten Klassenfahrt nach Paris.

Weil ein Leben eben nicht so geradlinig und linear verläuft, wie es ein Roman oft tut, muss sich hier die Form dem Inhalt beugen, so dass all die damals mutmaßlich als chaotisch wahrgenommenen Vorkommnisse in einer ebensolchen Unordnung erzählt werden. Der Leser wird so direkt in das Chaos von Weltgeschichte und Schulnews, Cliquenzoff und politischer Auseinandersetzung, gesellschaftlicher Stimmung und subjektiver Gefühligkeit geworfen. Das ist wunderbar, denn so entsteht fast das Gefühl, bei den im Roman geschilderten Ereignissen, die die Geschichte bereits »in ihre Manteltaschen geschoben« hatte, live dabei zu sein – und wenn es nur bei den Konzerten von Bands mit so klangvollen Namen wie Frigitte Hosenhorst Mundschenk, Blechreiz oder Hammer & Eichel ist.

Das kann zuweilen auch bedrückend und beängstigend sein, etwa wenn Richter auf knapp dreißig Seiten die verschiedenen Facetten des Straßenkampfes zwischen Rechts und Links beschreibt. Diese Szenen muss man als Leser auch erst einmal aushalten, denn »alle hatten [damals] einen Baseballschläger, ohne jemals etwas von einem Homerun oder Inning gehört zu haben«. Aber wie heißt es so schön in diesem Roman? »Die Weltgeschichte schreibt einem keine Entschuldigungszettel für den Alltag.« Also muss man da durch und die Birne hinhalten, wenn der Schläger niederkracht, und irgendwie hoffen, dass der Kontrahent schon zu viel Goldkrone intus hat, um noch richtig zu treffen. Als Leser muss man nur noch vermittelt wahrnehmen und hat die Chance, viel von dem zu verstehen, was oft als unverständlich benannt wird.

Man könnte aber »insgesamt wirklich nicht sagen, dass wir keinen Spaß gehabt hätten im letzten Sommer des Sozialismus«, schreibt Richters Erzähler sich an das lange Wippen auf dem Sprungbrett erinnernd, bevor er sich mit breiter Brust in die dunklen Fluten des nächtlichen Freibads warf. Dieses freudige Wippen wandelte sich im Laufe des Jahres in einen Drang, der wie ein Mantra immer wieder die Worte »Man müsste, man müsste, man müsste…« von innen gegen die Stirn warf.

»Ich wäre wirklich gerne entspannter gewesen damals. Konnte ich aber leider nicht«, heißt es am Ende dieses nicht vollkommen neuen, aber doch noch einmal anderen Wenderomans von Peter Richter. Als Leser ist man dankbar, dass er das nicht konnte, weil er deshalb bis zum Rand gefüllt ist mit Leben.

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