Sebastian Schipper und Andreas Dresen sind beide im Rennen um die Berlinale-Bären. In ihren Filmen »Victoria« und »Als wir träumten« erzählen sie davon, wie es ist, mit vollem Risiko die Hürde der Erwachsenwerdens zu nehmen. Bei Schipper scheitern fast alle Charaktere an dieser Hürde, bei Dresen kommen sie auf verschiedene Weise ins Straucheln.
Zunächst sieht man in Sebastian Schippers Victoria nahezu nichts, abgesehen von blauen Nebelschwaden und sich bewegenden Schatten. Dafür kracht einem das Wummern der Bässe auf die Ohren, wegen dem viele Touristen nach Berlin kommen. Dann tritt Victoria in Erscheinung, sie tanzt, sie geht zur Bar, bestellt einen Schnaps und flirtet mit dem Barkeeper – eine typische Berlin-Szene.
Dann treten vier Berliner Jungs auf, angetrunken, launig, provozierend, die keinen Einlass in den Klub finden. Victoria wird Sonne, Boxer, Blinker und Fuß wiederbegegnen, wenn sie den Klub verlässt. Gemeinsam werden sie Bier aus einem Spätkauf klauen, Berlins Dächer besteigen, Shit rauchen und einander begegnen – unvoreingenommen und wohlwollend. Die gemeinsame Nacht will nicht enden, doch als der Morgen anbricht, bricht auch die Wirklichkeit in das Leben der Jungs ein. Boxer muss Schulden begleichen, Victoria wird die Jungs unterstützen. Ein Banküberfall, der den Morgen blutrot färben wird, liegt vor ihnen. Der Spielfilm einer verrückten Nacht einer Jugendclique wird zum Thriller.
Sebastian Schipper, der sich mit Absolute Giganten einen Namen in der deutschen Filmszene gemacht hat, ist mit Victoria ein Scoop gelungen. Genrefilme sind im deutschen Kino eine Seltenheit, der Crew um Schipper ist mit diesem Porträt von vier Berliner Jungs und einer spanischen Studentin aber gleich ein besonderer gelungen. Denn die 140 Minuten sind nicht nur durchgehend aufregend, sondern auch durchgehend aufregend gedreht. Schippers Kameramann Sturla Brandth Grøvlen hat den kompletten Film in einem Lauf aufgenommen, ähnlich wie Alexander Sokurows Kameramann Tilman Büttner Russian Ark in einem Take aufgenommen hat. Allerdings hat Grøvlen nicht eine Steady Cam auf Gleisen verwendet, sondern lief fast zweieinhalb Stunden durch das nächtliche Berlin mit der Kamera am Körper. Allein das ist eine beeindruckende Leistung.
Beeindruckend ist die Performanz der fünf jungen Schauspieler Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burat Yigit und Max Mauff, die ihren Charakteren Identität und Tiefe verleihen, wie sie bislang auf diesem Festival noch selten zu sehen war. Sie ziehen den Zuschauer in diesen Film hinein und lassen ihn durch Slang, Habitus und Style daran teilhaben, was Sonne anfangs das »Berlin auf der Straße« nennt. Vor allem von Laia Costa, die die junge spanische Austauschstudentin Victoria und damit die heimliche Hauptrolle spielt, geht eine magische Ausstrahlung aus.
Zu wissen, dass das Drehbuch keine Dialoge enthielt, sondern diese bei den drei Aufnahmeversuchen komplett improvisiert worden sind, lässt diesen Film in einem gleißenden Licht erstrahlen. Es ist einer »hirnrissigen Ladung von übersteigertem Selbstbewusstsein« zu verdanken, dass sich Schippers Team dennoch nicht davon hat abbringen lassen, dieses in Angriff zu nehmen.
Entstanden sind fast zweieinhalb magische Stunden Kino, die irgendwo zwischen Berlinhommage, Milieustudie und Räuberpistole anzusiedeln sind. Lange schon war deutsches Kino nicht mehr so hemmungslos geradeaus nach vorn gedreht, so roh und zugleich glänzend wie ein Diamant.
Von den Straßen Berlins geht es mit Andreas Dresens Wettbewerbsbeitrag Als wir träumten etwa zwanzig Jahre zurück auf die Straße nach Leipzig. Hier leben Dani, Rico, Mark, Pitbull und Paul (Merlin Rose, Julius Nitschkoff, Joel Basman, Marcel Heuperman, Frederic Haselon), die sich die Stadt von ihren Rändern her erobern. Dafür ziehen sie durch die Straßen, klauen und zerstören Autos, trinken und rauchen, grölen und pöbeln. Sie erleben die innere die Revolution, die man Jugend nennt. Dazu gehört es auch, Mädchen aufreißen zu wollen. Mädchen wie Sternchen (Ruby O. Fee), Danis erster großen Liebe.
Doch schnell spielen im Leben der Jungs andere Dinge eine wichtige Rolle. Bässe etwa, denn die Neunziger, das waren die Jahre des Techno. Die fünf Jungs haben das früh erkannt und in einer verlassenen Fabrik einen Underground-Club gegründet. Doch als der Club richtig läuft, taucht die Nazibande um Kehlmann auf und schlägt den Laden kurz und klein. Der Konflikt zwischen den fünf Jungs und den »Hautköpfen« wird den Film und damit auch die Erfahrung des Erwachsenwerdens der Jugendlichen im Osten in dieser Zeit prägen.
Der Film wirkt in seinen Themen nicht zwangsläufig wie der einer Jugend in den Neuen Bundesländern, sondern wirkt zunächst universell. Und doch enthält er in den Jugendbiografien etwas zutiefst Ostdeutsches: die Abwesenheit oder mindestens die Verlorenheit der eigenen Eltern. Als wir träumten ist ein Porträt des wilden jugendlichen Lebens in Leipzig in den Neunziger Jahren und lenkt damit den Blick auf diese Generation, die in den zwei Welten vor und nach der Wende gleichermaßen zuhause und verloren war. Mit Rückblenden in ihre Zeit als Jungpioniere zeigt Dresen immer wieder, woher diese Jungs kommen, welche Werte sie gerade stürzen oder stützen, was weggekrochen und erhalten geblieben ist.
Erzählt hat diese Geschichte 2006 der Leipziger Autor Clemens Meyer in seinem gleichnamigen autobiografischen Roman. Die Vorlage bot daher einigen Stoff für Charakterstudien, die Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase für den Film adaptiert hat. Dabei ist aber einiges auf der Strecke geblieben, so dass aus den Charakterstudien Meyers ein vorwiegend ereignisgetriebener Film geworden ist. Dass die Ereignisse dabei manchmal klein sind, liegt am Sujet des Erwachsenwerdens, in dem die kleinen Dinge zuweilen die größte Wirkung entfalten.
Andreas Dresen, der zuletzt mit dem sensiblen Familiendrama Halt auf freier Strecke zahlreiche Preise gewinnen konnte, erzählt in seinem neuen, mit einer ganzen Riege deutscher Nachwuchsschauspieler besetzten und vorwiegend in Leipzig gedrehten Film, in eindringlichen und schonungslosen Bildern die Geschichte des Erwachsenwerdens zwischen zwei Welten, in der jeder sein Schicksal sucht und herausfordert. Dani etwa muss nach einer Prügelei mit den Nazis für einen Monat in den Jugendarrest einfahren, Boxer rastet bei einem Kampf gegen seinen Erzrivalen aus und muss seine Handschuhe an den Nagel hängen, Pittbull wird zum Dealer der Clique und liefert am Ende Mark den Stoff, der ihm das Leben kosten wird. Und Sternchen, die im Leben verlorene, wird erst sich als Nazibraut und dann als Topless-Tänzerin in einer schmuddeligen Bar versuchen.
Die Jugend, das ist eine Zeit voller Träume, aber auch voller Desillusion – dies wird sowohl in Dresens als auch in Schippers Wettbewerbsbeitrag deutlich. Es ist »eine wilde Zeit, in der man abstürzt«, ein Tanz auf Messers Schneide, sagte Dresen am Montag in Berlin. Die Schärfe der Gewalt hat Dresen mit einer sanften Melancholie und Zartheit unterlegt. Es geht ihm nicht um ein Urteil, sondern um ein Porträt, das Zeigen dieser auf sich selbst gestellten Jugendlichen.
Bei Schipper werden am Morgen mehr Leichen die Straßen pflastern, als einem lieb sein kann, bei Dresen scheitern viele an der Hürde des Erwachsenwerdens. Sie halten sich an Alkohol, Drogen und Verzweiflung fest, und warten darauf, dass die Liebe sie mal packt. Das Ausmaß der Gewalt ist bei Dresen immens, viele hat das gewundert. Aber schon Meyers Romanvorlage ist durchtränkt von Prügeleien und Verfolgungsjagden. Die Neunziger hätten die Menschen nicht mit Samthandschuhen angefasst, »Gewalt gehört zu dieser Clique und zur Zeit dazu«, erklärte Dresen auf der Pressekonferenz zum Film. Als Zuschauer muss man sie ertragen, zum Glück aber nicht durchleben.
Auf dieser von starken Frauenfiguren und einer Quotendebatte geprägten Berlinale bilden die beiden deutschen Wettbewerbsbeiträge zum Aufwachsen in schwierigen Zeiten eine Ausnahme, da sie auch die Jungs in den Mittelpunkt rücken, die sich selbst in einer Welt suchen, die noch nicht weiß, ob sie etwas mit anfangen kann und will. Das ist in seiner Beklemmung nicht immer leicht zu ertragen, aber tolles und begeisterungsfähiges deutsches Kino, mit Schauspielern, die im Gegensatz zu ihren Rollen eine Zukunft vor sich haben.
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