Film

Der Ozean als Lebensquelle und Todeszone

Ein »Perlmuttknopf« dient als Faustpfand für ein Kind, viele Jahre später ist er der einzige Beweis eines schrecklichen Verbrechens. Patricio Guzmán zieht eine Linie zwischen der Zerstörung der indigenen Völker Chiles und den Verbrechen Pinochets.

Der Untergang der chilenischen Völker des Südens begann mit der Ankunft des weißen Mannes Ende des 17. Jahrhunderts. Mit den Europäern kamen die Krankheitskeime der Zivilisation, gegen die die etwa 8.000 Ureinwohner Patagoniens keine Abwehrkräfte hatten. Viele von denen, die die Krankheitswelle überlebten, wurden Opfer der Menschenjäger. Die wenigen hundert Nachkommen der »Wasservölker«, die es Ende des 19. Jahrhunderts noch gab, endeten meist alkoholkrank und in absoluter Armut. Heute leben noch zwanzig direkte Nachkommen. Sie sind die letzten, die diese Sprache und Kultur kennen und weitergeben können.

Der chilenischen Filmemacher Patricio Guzmán hat am Sonntag den einzigen Dokumentarfilm im Wettbewerb vorgestellt. Der Perlmuttknopf heißt sein Beitrag, in dem er sich wie in all seinen anderen Arbeiten, mit der brüchigen Vergangenheit seiner Heimat und den Tiefen Wunden, die diese in seinem Volk hinterlassen hat, auseinandersetzt.

Ein Perlmuttknopf war es auch, mit dem die Engländer die Familie eines Kindes der Ureinwohner Patagoniens Anfang des 18. Jahrhunderts überreden konnten, um den Jungen mit nach England zu nehmen und ihn Jahre später wieder zurückzubringen. Jemmy Button wurde der Junge deshalb genannt, er trug den Faustpfand quasi in seinem Namen. Als er nach Jahren der britischen Erziehung und »Zivilisierung« zurückgebracht wurde, war er seiner Identität beraubt.

So wie die Chilenen ihrer Identität beraubt sind, wie Guzmán in seinem Film argumentiert, in dem er erst die Ausrottung der chilenischen Wasservölker und dann von den Verbrechen während der Pinochet-Diktatur erzählt. Er verbindet diese Geschichte mit einer universellen Erzählung der Elemente, doch im Gegensatz zu seinem letzten Film, in dem die chilenische Wüste im Norden des Landes die Kulisse seiner Erzählung bot, spielt dieser Film im zerklüfteten Süden. Dort hat Guzmán die letzten Nachfahren der Wasservölker zu ihrem traditionellen Leben befragt.

»Alles ist Wasser«, erfahren die Zuschauer zu Beginn, und im Laufe des Films wird die erschreckende Bedeutung dieser Worte bewusst. Zunächst aber zeigt Guzmán traumhafte Aufnahmen der chilenischen Wasserlandschaften, bevor er auf die Ausrottung der Wasservölker ein- und dazu übergeht, dass sich die Chilenen die eigene Natur haben austreiben lassen. Weder Land noch seine Bewohner haben noch irgendeine Beziehung zum Meer, obwohl kein Land der Welt über eine längere Ozeanküste verfügt.

Aber es ist auch kein Wunder, dass das Verhältnis zum Meer gespalten ist, schließlich ließen die Schergen von Pinochet Folteropfer aus Hubschraubern über dem Meer abwerfen. Die chilenischen Killing Fields sind nicht an Land, sondern unter Wasser. Dort findet man heute noch Schienenteile, die den Toten umgebunden wurden, damit sie nicht als sichtbare Opfer des Regimes an Land getrieben werden. Roberto Bolaño hat in seinen Romanen Chilenisches Nachtstück und Stern der Finsternis schonungslos wie kein anderer vor ihm von den Methoden der Militärjunta geschrieben.

Viele Jahre lang hat die konservative Partei die Verbrechen unter General Pinochet geleugnet. Auch die Schienen konnten daran zunächst wenig ändern, niemand konnte beweisen, dass diese zum beschweren von Leichen dienten. Die organischen Überreste der Opfer waren fast 40 Jahre nach ihrem Tod im Meer längst vollkommen aufgelöst. Bis eines Tages eine Schiene gefunden wurde, an der ein Perlmuttknopf klebt. Es ist ein Knopf wie der, mit dem die Briten Jemmy Buton ausgelöst haben.

Es gibt eine unsichtbare Linie zwischen diesem Jungen und dem Chile heute. Dank Guzmán haben wir eine Ahnung, wo sie verläuft.

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