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Unterhaltsam, erhellend, gewichtig

Foto: Thomas Hummitzsch

Der Doppelband »Lyrics« versammelt nicht nur die wichtigsten Songs von Paul McCartney, sondern weitet den Blick auf dieses Gesamtkunstwerk mit überraschenden, persönlichen und klugen Texten, die tiefe Einblicke in die Künstlerwerkstatt des berühmtesten lebenden Beatles geben.

Auch wenn alle Welt darauf wartet, wird sie wohl nie erscheinen, die alles erklärende Biografie eines der Beatles, die mit allen offenen Fragen, Rätseln und Mysterien aufräumt. Paul McCartney wäre wohl noch am ehesten prädestiniert gewesen, das zu tun, doch in dem voluminösen Doppelband »Lyrics« bereitet er dem eine Absage. Er habe keine Aufzeichnungen oder Tagebücher, auf die er zurückgreifen könne, um sich an vergangene Ereignisse zu erinnern. »Was ich habe, sind meine Songs – hunderte – und eigentlich erfüllen sie denselben Zweck.«

Man sollte Lyrics dennoch nicht als Biografie lesen, auch wenn ein Aufkleber auf dem Band »Mein Leben in 154 Songs« ankündigt, sondern eher wie einen Spaziergang durch das Werk eines der größten Songwriter aller Zeiten. Gemeinsam mit dem nordirischen Pulitzer-Preisträger Paul Muldoon, hat er zwischen 2015 und 2020 diverse Spaziergänge unternommen und sich dabei angeregt, klug, witzig und erkenntnisreich über 154 seiner Songs gesprochen, die man damit wohl als standardisiert bezeichnen kann. Das Ergebnis versammeln diese beiden Bände, die nicht nur äußerlich jedes Buchregal schmücken, sondern die vor allem inhaltlich eine Wucht sind.

© Verlag C. H. Beck

Die Überlegungen über sich selbst und sein Werk erstrecken sich von den ersten Kompositionen aus der Kindheit im Jahr 1956 über die legendäre Zeit mit den Beatles und seine Solokarriere bis in die Gegenwart. Dass man dabei nicht in die biografische Falle tappt, dafür sorgt die alphabetische Anordnung der Songs, die so nicht Opfer einer wie auch immer geartete n»Das-eine-kommt-zum-anderen«-Erzählung werden, sondern jeder für sich selbst stehen und glänzen kann. Dabei kommt zur Sprache, wie die Songs entstanden sind, welche Menschen und Orte ihn inspiriert und beeinflusst haben und welchen Blick er heute auf die Songs wirft. In Muldoon fand er dabei einen perfekten Gegenüber, der es offensichtlich verstand, persönliche, gesellschaftspolitische und literarische Motive aus ihm herauszukitzeln. Das Destillat dieser Gespräche sind großartige Song-Testimonials, die Muldoon daraus gemacht hat. in Ihnen erfährt man natürlich viel Bekanntes, aber auch so manche Neuigkeit, Witziges und Trauriges, Triviales wie Beachtliches.

An Muldoon habe er geschätzt, dass der kein Biograf sei, »der Klatsch oder Geheimnisse hören wollte oder hoffte, mehr über irgendeine vermeintliche Fehde zwischen mir und John oder Yoko zu erfahren. Auch war er kein übertriebener Fan, der sich zum Autor aufschwingen und jedes gesprochene Wort in heilige Schrift überführen wollte«, schreibt McCartney in seinem sehr persönlichen Vorwort. Vielmehr habe er sich in ihm als Dichter wiedererkannt gefühlt. »Wie ich mag er Worte und versteht deren Poetik – er weiß, dass Texte an sich schon eine Form von Musik sind, die im Zusammenspiel mit einer Melodie eine noch größere Magie gewinnen können.«

© Verlag C. H. Beck

Dass sich die beiden auf der Ebene der Literatur nicht nur trafen, sondern wie Schicksalsverwandte erkannten, wird auch in den Doppelbänden erkennbar. William Shakespeare, Allen Ginsberg, Dylan Thomas und immer wieder Lewis Carroll tauchen dort auf. Im den Band begleitenden Interview sagt McCartney. »Ich denke, ich werde immer wieder auf Lewis Carroll zurückgreifen, weil das jemand war, den John und ich beide mochten. Das hat uns sehr verbunden und sich befreiend ausgewirkt, weil seine Texte so völlig verrückt sind, dass wir uns auch berechtigt gefühlt haben, so zu schreiben. Ich würde sagen, dass er sehr wichtig war.« Vor allem habe ihn aber die Entwicklung des Rock’n Roll geprägt, Chuck Berry, Buddy Holly, Bob Dylan sind drei wichtige Inspirationsquellen für ihn.

Diese Inspirationen sind für Liebhaber zweifellos spannend, noch interessanter sind aber die emotionalen Vertiefungen, die McCartney seinem Gesprächspartner gegenüber angeboten hat. Etwa wenn er den Song »No for One« als »Song über das Gefühl der Zurückweisung« erklärt und auf seine Trennung von Jane Asher eingeht, zu der er sich entschlossen hatte, weil »kleine Tteile des Puzzles nicht so ganz gepasst« haben. Oder wenn Sir Paul McCartney zum Song »Her Majesty« erklärt, dass er davon überzeugt ist, dass sie oft der Kitt sei, der die Nation zusammenhält. Oder dass er immer noch an John denkt, wenn er »Hey Jude« singt, weil er den Song für dessen Sohn Julian geschrieben habe. Es sind diese persönlichen Anmerkungen, die ausgehend von den Songtexten die den Blick auf ein einzigartiges Leben weiten. Sie machen Muldoons Texte, die Conny Lösch elegant ins Deutsche übertragen hat, unbedingt lesenswert.

© Verlag C. H. Beck

»Lyrics« ist nicht nur ein fulminantes Songtext-Album, sondern auch ein herausragender Bildband, für den McCartney sein Privatarchiv durchgesehen hat. Neben den längst legendären Aufnahmen aus seiner Karriere enthält der Band Skizzen, Notizen, Briefe, erste Songentwürfe, Fotografien von Konzerten, Studioaufnahmen oder Backstage, Plattencover, Gemälde, Tickets, Kontaktbögen und vieles mehr. Diese editorische Meisterleistung machen diese zwei Bände im edlen Leinenschuber zu einem echten Hingucker und veritablen Pageturner.

Natürlich sind die zwei Bände auch ein ziemlicher Ziegelstein. Als ich ein Bild des Verlags aus der Druckerei gesehen habe, wo mitten in der Papierkrise dutzende Paletten mit diesem Coffeetable-Doppelband zu sehen waren, dachte ich kurz, was für ein Wahnsinn. Nach Sichtung kann ich nur sagen, dass es tatsächlich ein Wahnsinn ist, aber ein grandios unterhaltsamer. Dass der Verlag dazu noch eine Playlist zu den zwei »Lyrics«-Bänden zusammengestellt hat, ist ein hübsches Vergnügen für alle, die sich damit ein Wochenende oder mehr um die Ohren schlagen und nicht auf die eigenen Beatles-Scheiben zurückgreifen können.

Paul Muldoon (Hrsg.): Paul McCartney. Lyrics. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Verlag C. H. Beck 2021. 912 Seiten mit 647 Abbildungen. 78,00 Euro. Hier bestellen

Dem bekanntesten lebenden Beatle beim Schwelgen in der Vergangenheit beizuwohnen, ist ein unbändiges Vergnügen. Es ist ein bisschen so, wie mit den Eltern oder Großeltern im Fotoalbum zu blättern und ihren Geschichten zu lauschen. Dass man dabei nicht alles zu genau nehmen sollte, ist klar. Dass das ein einmaliges Geschenkt ist, aber auch.

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