Davide Reviatis umwerfender Comic »Dreimal Spucken« erzählt vom Aufwachsen in der italienischen Provinz der sechziger Jahre und dem verheerenden Echo der Verbrechen an den Sinti und Roma im Zweiten Weltkrieg.
Puppenköpfe, Scherben, Patronenhülsen, einmal sogar eine verrostete Pistole. »Verstümmeltes Spielzeug« nennen Grisù, Guido und Annalita die Artefakte, die sie auf dem »Feld der Wunder« finden und wie Beute nach Hause tragen. Auch den Kinderschädel, auf den sie eines Tages stoßen. Den kassiert Annalitas Onkel allerdings gleich wortkarg ein. »Kaninchenknochen. Hasenknochen. So was findet man hier manchmal.« Widerspruch wird nicht geduldet.
Schweigen statt Aufarbeiten, lautet das Motto im Italien der sechziger Jahre, in dem Davide Reviatis große Erzählung »Dreimal spucken« spielt. Am Horizont leuchtet schon das Wirtschaftswachstum auf, den der zunehmende Tourismus verspricht. Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stört nur die Euphorie. Denn noch wirft der Krieg seine langen Schatten über das Land, wo die Zitronen blühen. Der Boden, auf dem sie wachsen, gibt nur langsam seine grausamen Hinterlassenschaften frei. Und die Kinder sammeln sie ein.
Auf diesem Boden zieht Grisùs Vater eigene Bäume, indem er eine edle Sorte auf eine robuste Sorte pfropft. »Wenn eine Pflanze festwachsen will, wächst sie fest, egal wo«, erklärt er seinem Jungen einmal. Das gilt auch für Lorettas Familie, die in einem Wagen neben einer verfallenen Scheune abseits des Dorfes lebt. Die Stančičs waren in den vierziger Jahren aus Slowenien nach Italien gekommen. »Weil die Leute hier an Gott glauben«, soll die Matriarchin der Familie damals gesagt haben.
Die Leute glauben aber auch noch an ganz andere Dinge. Nämlich dass Leute wie die Stančičs »nicht dafür gemacht sind, in Häusern zu leben wie wir.« Mit solchen und anderen Vorurteilen lebt der Zeichner dieser bildgewaltigen Geschichte, der 54-jährige Karikaturist und Drehbuchautor Davide Reviati, auf. Als Europa vor gut zehn Jahren von einer neuen antiziganistischen Welle erfasst wird, erinnert er sich an seine Kindheit in der italienischen Provinz und beginnt mit der Arbeit an seinem Comic, der vor allem von den Figuren lebt.
»Dreimal spucken« ist zwar sein deutschsprachiges Debüt, aber bei weitem nicht seine erste Arbeit. In seiner italienischen Heimat liegen mehrere voluminöse Arbeiten von ihm vor. Geprägt sind sie von einem Interesse an seiner Herkunft aus einfachen Verhältnissen und dem Drang nach Grenzüberschreitung, der der Jugend innewohnt. In »Morto di Sonno« begleitet er beispielsweise das Aufwachsen einiger Jungs, die gemeinsam Fussball spielen und für ihren Verein brennen, später dann mit Drogen und Gewalt experimentieren. In ihrem existenziellen Ringen sind sie miteinander verbunden.
Die Geschichte seines nun hier erscheinenden Comics, das bereits 2016 in Italien publiziert wurde und 2018 in Angoulême um die Europas wichtigste Comicpreise konkurrierte, wird aus der Perspektive von Guido erzählt. Er ist inzwischen erwachsen, hat die Provinz hinter sich gelassen, Literatur, Philosophie und Kunst studiert und ist als Künstler aktiv. Ob es sich dabei um ein Alter Ego von Reviati handelt, ist nicht zweifelsfrei auszumachen, anzunehmen ist es schon. Guido erinnert sich also an seine Kindheit und Jugend, weil er nicht mehr ausweichen, sondern Zeugnis ablegen will. Zeugnis gegenüber seinem Zuhörer, einem älteren Sinto (möglicherweise einer der Stančič-Brüder, auch das ist nicht eindeutig), der so lange geduldig zuhört, bis Guido ins Literarisieren gerät. Dann wird er sauer und fährt ihn an, dass er bei der bitteren Wahrheit bleiben solle, statt sich zum Künstler aufzuschwingen. Die nüchterne Wahrheit, so die Lehre aus dieser kleinen Episode, ist vielsagend genug.
Diese Wahrheit handelt zunächst von den eingangs erwähnten Kindern und ihren Erlebnissen mit »Loretta, der Irren«. Die junge wilde Tochter der Stančičs zog als kleines Mädchen zunächst das Mitleid der Dorffrauen und später nicht nur die neugierigen Blicke der Männer auf sich, bevor sie den Verstand verlor. Guidos Kindheit ist geborgen, bis sein Vater erkrankt und die Normalität verloren geht. Er hat noch nicht die Schule verlassen, stirbt Guidos Vater an seiner Krankheit und fortan ist er mit seiner überforderten Mutter auf sich allein gestellt. An seiner Seite ist Grisù, der eigentlich Moreno heißt. Von seinen Eltern adoptiert wurde er viele Jahre als Bastard und Kuckuckskind gehänselt. Eine schützende Mauer aus Wut und Aggressivität umgibt ihn. Später gehört auch Katango zu der Clique, der Guido irgendwann gesteht, dass er immer unter der Armut seiner Familie gelitten und sich ausgegrenzt gefühlt habe.
Wer Minderheitenperspektiven vertiefen möchte, findet in dem Sammelband »Erinnerung Stören« eine wunderbare Ergänzung zu dem hier besprochenen Comic. In dem Band werden ausgegrenzte Perspektiven auf die deutsch-deutsche Vereinigung sichtbar gemacht und an die Kämpfe um Teilhabe in den 1980er und 1990er Jahren und die Selbstbehauptung von Jüdi:innen, Migrant:innen sowie Sinti und Roma erinnert. Er enthält zahlreiche Geschichten, u.a. auch den lesenswerten Beitrag »Ein paar Sinti* sind geladen, noch mehr Roma* sind gekommen des Roma-Aktivisten und Politikers Hamze Bytyçi und dem Musiker Janko Lauenberger. Der Band ist jüngst im Verbrecher Verlag (540 Seiten, 20,- Euro) erschienen.
Unsichtbare Fäden verlaufen zwischen diesen Figuren und denen, die sie umgeben, keine ist für sich, alle stehen miteinander in Verbindung. So entsteht die Aura einer Dorfgemeinschaft voller Geheimnisse, in der sich alle kennen, aber niemand wirklich etwas voneinander weiß. Dass hier keiner ohne Schuld ist, wird in winzigen Episoden oder Randbemerkungen deutlich.
Reviatis Erzähler bleibt aber bei seiner Kinder- und Jugendgang, deren Heranwachsen er sich in Erinnerung ruft. So erleben wir Lesenden, wie aus den Kindern, die eben noch über die Felder gezogen und sich über Lorettas rätselhaft-wilde Aura amüsiert haben, plötzlich Jugendliche geworden sind, die am Billardtisch in der Dorfbar rumhängen und sich vor der ungebremsten Aggressivität von Lorettas großen Brüdern fürchten. Die junge Sintiza lockt derweil mit eindeutigen Signalen, auf die sich zumindest Katango mehr als willfährig einlässt.
Am Rande erzählt Reviati, wie die ewig zugezogenen Stančičs für alles Elend der Welt herangezogen werden. Ganz egal, ob Schokolade verschwindet, Kinder abhauen oder wütende Kläffer totgeschlagen werden, stets wird Lorettas Familie verantwortlich gemacht. Den Jungs rund um Guido ist das recht, denn so können sie heimlich ihre Eltern und Nachbarn beklauen und andere Dummheiten machen, wissend, dass der Verdacht nie auf sie fallen wird.
Sieben Jahre lang glich Davide Reviati die Geschichten, die er als Kind aufgeschnappt hat, mit seinen eigenen Erinnerungen und dem, was die Geschichtsbücher sagen, ab. »Dreimal spucken« ist das fulminante Resultat dieser akribischen Selbstbefragung, in der er in die ausgesprochenen und unausgesprochenen Geheimnisse dieser Dorfgesellschaft abtaucht und von der Flucht aus dieser heraus in eine größere Freiheit erzählt.
Die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahre, springt hin und her zwischen Kindheit und Jugend seiner Hauptfiguren. Dabei ist die Kindheitserzählung eng verbunden mit der Provinz, der Suche nach Vorbildern (die Guido in den Helden der Italo-Western ausmacht) und der weit verbreiteten Voreingenommenheit gegenüber Sinti und Roma. Die Jugendjahre erzählen von Sex, Alkohol und Drogen, der Sehnsucht nach Freiheit und der inneren Emanzipation von der dörflichen Struktur.
Mehr Freiheit führt aber auch zu weniger Halt und zu Verunsicherung. Guido und seine Altersgenossen wollen irgendwo dazugehören. Doch nichts gibt es im Leben umsonst. Guido zahlt mit seiner Unschuld, wenn er zähneknirschend über Dinge hinwegsieht, die auf Kosten von Loretta und ihren temperamentvollen Brüdern ausgetragen werden. Etwa wenn seine Jungs einen von Lorettas Brüdern ins pulsierende Rimini mitnehmen, ihn dort abfüllen und ohne Sachen am Strand zurücklassen. Der Grad zwischen Dummerjungenstreich, übernommenen Ressentiments und Rassismus ist ein schmaler, will uns der Erzähler sagen.
Der Comic ist in düsteren Strichen gezeichnet, strahlt etwas Raues, Unmittelbares, Bedrohliches aus. Für die oft unklaren, uneindeutigen und ambivalenten Momente findet Reviati ebenso traumhafte wie albtraumhafte Bilder, um Ängste, Beklemmungen und Hoffnungen visuell habhaft zu werden. Wenn auch stilistisch anders gelöst, erinnert »Dreimal Spucken« von der Stimmung ein wenig an Stefano Riccis »Die Geschichte des Bären«, in dem die Grenzen der Erzählstränge ebenfalls verschwimmen. Tatsächlich scheint sich Reviati auch mit seinem Kollegen beraten zu haben, im Nachwort zu seinem ähnlich voluminösen Album bedankt er sich auch bei ihm.
In einem Filmbeitrag des Italienischen Kulturinstitut in Los Angeles spricht Reviati über seinen künstlerischen Ansatz: »Das beste Bild für einen Comic ist nicht unbedingt das Schönste, sondern das, das am Besten mit dem Text tanzt.«
Reviatis umwerfender Comic ist ein Tanz in Text und Bild, in dem Stimmen, Motive und Ereignisse sich immer wieder kreuzen, voneinander lösen und aufeinander zu bewegen. Indem er die unsortierte und immer wieder auch verwirrende Wirklichkeit abbildet, wirft er grundsätzliche Fragen über den Menschen und die Unantastbarkeit seiner Würde auf. Das reicht vom Kleinen – wie der Würde der Kinder und später Jugendlichen, wenn sie mit der Macht und Ohnmacht ihrer Eltern oder Lehrer konfrontiert sind – bis hin zu den großen historischen Fragen wie der Verschlossenheit und Voreingenommenheit der Welt gegenüber der Volksgruppe der Sinti und Roma.
Es seien Bilder, die das Sehen und Wahrnehmen von »Zigeunern« bis heute prägen – oftmals unter dem Deckmantel des angeblichen historischen oder kulturellen Gedächtnisses, schrieb Frank Reuter in seiner großen Studie »Der Bann des Fremden« über die fotografische Konstruktion des »Zigeuners«. Diese Bilder hinterläuft Reviati, indem er sie entlarvt.
Als Grisù im Technikunterricht heimlich für eine Geschichtsarbeit lernt, nutzt Reviati das für einen historischen Exkurs. Er handelt vom Völkermord, den die Nationalsozialisten an den Sinti und Roma begangen haben, von den rassenhygienischen Forschungen der Deutschen und der Erfindung des »genetisch bedingten Wandertriebs«, um die europaweite Endlösung der Zigeunerfrage – das Verschlingen von mindestens einer halben Million europäischer Sinti und Roma im Schlund des Nationalsozialismus – zu begründen. Vor allem aber erinnert er an die Konzentrationslager in Italien, wo tausende Roma verhungerten, erfroren oder zu Tode gefoltert wurden. In Italien gab es während des Zweiten Weltkriegs über 200 Konzentrationslager, zwei davon ganz in der Nähe des Dorfes, in dem Guido, Grisù und Annalita aufgewachsen sind. »Von vielen ist nichts geblieben, außer der Erinnerung der Überlebenden. Erinnerungen an tote Dinge… verschwunden unter neuen Gebäuden oder in frisch gepflügten Äckern.« Reviatis umwerfender Comic holt diese Dinge aus der Versenkung des Vergessens.
Ganz am Anfang seiner Arbeit stand gar nicht seine eigene Kindheit, sondern die Geschichte der Roma-Dichterin »Papusza« (Romani für Puppe) alias Bronislawa Wajs. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen lernte sie dank der Unterstützung Dritter Lesen und Schreiben. Der polnische Dichter Jerzy Ficowksi entdeckte, übersetzte und veröffentlichte ihre Verse. Weil er sich als Beauftragter für Romafragen für deren Ansiedelung stark machte, wurde Bronislawa Wajs aus ihrem Clan verbannt. Ein Schlag, von dem sie sich nie erholte.
Schläge gibt es in dieser wilden und düster gezeichneten Geschichte unzählige, niemand bleibt von ihnen verschont. Es gibt aber auch Leichtigkeit, Unbeschwertheit, kindliche Naivität. Dass beides nebeneinander existieren darf, macht dieses schwarz-weiße Meisterwerk der Neunten Kunst nicht nur absolut authentisch, sondern zu einem humanistischen Manifest, in dem jeder Strich dazu beiträgt, Schuld abzutragen und den Beteiligten ihre Würde zurückzugeben.
[…] ist – ähnlich wie bei ihrem langjährigen Lebensgefährten Stefano Ricci oder dessen Landsmann Davide Reviati – allgegenwärtig auf diesen Seiten, aber eben auch das Spielerische. Es gibt nicht nur das Eine […]