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Fragwürdiger Armutsvoyeurismus: Das Bild des »Zigeuners«

»Wer Macht über Bilder hat, hat gleichzeitig Deutungsmacht über Menschen«, schreibt Frank Reuter in seiner hochaktuellen Studie »Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des ‚Zigeuners’«. Er fordert dazu auf, die eigenen Sehgewohnheiten kritisch zu hinterfragen und statt der simplifizierenden Bildikone die Verschiedenheit innerhalb der Minderheit zu entdecken.

Es reicht ein oberflächlicher Blick auf die bundespolitische Debatte um die sogenannte »Armutsmigration«, um die Aktualität der fundamentalen und bislang einzigartigen Studie des Heidelberger Wissenschaftlers Frank Reuter vor Augen geführt zu bekommen. Glaubt man denjenigen, die diese Debatte immer wieder befeuern, sind es Sinti, Roma, Fahrende oder einfach »Zigeuner«, die vermeintlich massenhaft nach Deutschland einwandern, um in den Genuss der hiesigen Sozialleistungen zu kommen.

Dieses von konservativen, »christlichen« Politikern forcierte Bild ist Teil der Mär der »Überwanderung«, die die bundesdeutsche Debatte über Fragen der Einwanderung seit Monaten vergiftet und den Pegidisten den roten Teppich ausgerollt hat. Zu dieser Mär gehört auch das Bild der »Asylrekordzahlen«, die Monat für Monat vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vermeldet und vom Bundesinnenministerium verbreitet werden, obwohl sie weit von den tatsächlichen Rekordzahlen anno 1994 entfernt sind. Gemeinsam bilden sie das Panoptikum der sozialen Belastung durch Zuwanderung, das den kruden Scheinargumenten der Zuwanderungsgegner den Weg bereitet hat.

Eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes führte kürzlich die Konsequenzen dieser These vor Augen, indem sie zeigte, dass die Mehrheit der Befragten der Roma-Minderheit gleichgültig bis ablehnend gegenübersteht. Amnesty International forderte erst vor wenigen Monaten die EU-Mitgliedstaaten auf, entschlossener gegen die Diskriminierung von Sinti und Roma vorzugehen. In einem Interview des Autors mit den Roma-Interessensvertretern Hamze Bytyci und Zvonko Salijevic sowie dem Soziologen Christoph Leucht bewerten diese das politische Engagement in Europa gegen den tiefsitzenden Antiziganismus als gescheitert.

Während das Argument der »Belastung« durch Flüchtlinge ein relativ junges ist, bei dem in Vergessenheit gerät, dass ein Großteil der bundesdeutschen Bevölkerung vor 70 Jahren selbst auf der Flucht war, ist das »Zigeuner«-Stereotyp in der Debatte um die Zuwanderung aus Südosteuropa ein geradezu altvertrautes Muster. Die Hartnäckigkeit, mit der sich die mit dem »Antibürger«-Vorwurf verbundenen Vorurteile in der aufgeklärten Gesellschaft halten, ist erschreckend. Nachdem man Frank Reuters preiswürdige Untersuchung von Genese und Pflege der denunziatorischen Imagination des »Zigeuner«-Stereotyps gelesen hat, löst der Blick auf diese Diskussion, aber auch auf so manche Bildikone der modernen Fotografie eine umso größere Beklemmung aus.

Frank Reuter hat auch die Ausstellung über die Verfolgung von Sinti und Roma in Auschwitz konzipiert. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg weiß er nicht nur, wovon er in seiner Untersuchung der denunziatorischen Ikonografie des »Zigeuners« spricht, als Historiker weiß er auch, in welcher Geisteshaltung diese Bilddeutung ihre Wurzeln hat, und als Kurator schließlich versteht er es, dies sensibel mit Bildmaterial zu belegen. Das »Zigeuner«-Stereotyp beruhe auf der Ambivalenz aus romantischer Idealisierung und Abscheu, der »Zigeuner« sei in erster Linie »zum erträumten wie gefürchteten Gegenentwurf einer von Enge und Selbstzucht bestimmten bürgerlichen Existenz avanciert«, schreibt er, der in seiner nomadenhaften, geschichtslosen Existenz vor der eigenen Haustür stets und ständig an den eigenen wilden Ursprung erinnere. Auf dieser Annahme fußt der eiskalte Blick der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik.

In seiner Studie Der Bann des Fremden arbeitet Reuter akribisch zentrale Traditionslinien und vorherrschende Bildmotive des Antiziganismus im 19. und 20. Jahrhundert heraus, indem er nicht nur die eigens angelegten »Zigeuner«-Dateien der Nationalsozialisten auswertete, sondern auch die Vorläufer dieser Aufnahmen im ersten Weltkrieg sowie die fotografische Illustration der Medienberichterstattung seit den 1950er Jahren. Immer wieder stieß er dabei auf den Phänotyp der »rassenanthropologischen Fotografie«, die nur einen Zweck hatte: die angeblich phänotypische Andersartigkeit der ziganistischen Minderheit in Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft zu belegen. Diese spiegelt sich in absichtlich xenophober oder fahrlässig denunziatorischer Weise in der historischen Dokumentarfotografie wieder, etwa wenn »Zigeuner« als ewige Nomaden, als arbeitsscheu oder kriminell inszeniert wurden.

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Frank Reuter: Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des ‚Zigeuners‘. Wallstein Verlag 2014. 568 Seiten. 64 €. Hier bestellen

Doch wer meint, diese Bilder finden sich nur in den Unterlagen der nationalsozialistischen Rassenlehre, der täuscht sich gewaltig. Kein Medium blieb von der stereotypen Einordnung der Fahrenden verschont. Kinder- und Schulbücher, Lexika, Postkarten, Zeitungen, Mode- oder museale Kataloge – seit dem 19. Jahrhundert wurde der stereotype Blick auf den »Gipsy-Look« und die dahinter ruhende Ideenlehre bedient. August Sander machte in seiner epochalen fotografisch-soziologischen Studie Menschen des 20. Jahrhunderts ebenso wenig Halt wie Danis Tanovic in seinem 2013 mit zwei Silbernen Bären ausgezeichneten Sozialdrama An Episode in the Life of an Iron Picker (hier der Trailer). Es sind diese Bilder, die das Sehen und Wahrnehmen von »Zigeunern« bis heute prägen – oftmals unter dem Deckmantel des angeblichen historischen oder kulturellen Gedächtnisses.

Aber das, was »wir historisches oder kulturelles Gedächtnis nennen, gründet sich ganz wesentlich auf Bilder und die damit verknüpften Codes«, schreibt Reuters. Das ist aus zweierlei Gründen fatal. Zum einen werden jene übersehen, die nicht in das stereotype Klischee passen (und die Reuters uns am Ende seiner Studie zeigt). Zum anderen wird durch die Wiederholung des Klischees eine Imagination, die stärker als die Wirklichkeit ist. Deshalb finden wir noch in der aktuellen Berichterstattung den »fragwürdigen Armutsvoyeurismus«, der die Dokumentarfotografie von »Zigeunern« Anfang des 20. Jahrhunderts schon prägte.

Einen echten Paradigmenwechsel der Dokumentar- und Sozialfotografie erkennt Reuter erst mit der Publikation von Das Buch der Sinti Anfang der achtziger Jahre, in dem die Fotografen Jörg Boström, Uschi Dresing, Jürgen Escher und Axel Grünwald den Versuch unternommen haben, über Fotografie nicht Menschen abzubilden, sondern sich ihnen anzunähern. Hier bricht Reuters Studie dann leider ab, die Verdienste der jüngeren Romakünstler, die nicht nur den Blick auf Roma ändern, sondern vor allem auch den Blick von Roma vor Augen führen wollen, wie es etwa die kritisch-künstlerische Plattform The Roma Image Studio in Berlin (die Fotogalerie zeigt Ausschnitte davon) oder das emanzipatorische EU-Kulturprojekt ROMANISTAN. Crossing Spaces in Europe (hier kann man den 122-seitigen Katalog herunterladen) praktiziert haben, finden hier keine Würdigung. Sie könnten Ausgangspunkt einer neuen Studie sein, im Anschluss an Reuters bahnbrechende Arbeit.

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