Studenten proben in einer der zahlreichen afrikanischen Diktaturen ein Bühnenstück von Beckett, als Unruhen aufkommen. Für den Erzähler in Edem Amuweys kraftvollem Exilroman ist das nur der Anfang einer Odyssee.
Ito Baraka liest Sokrates, Mark Aurel, Rousseau und Kant, als in seinem Land »Die Revolution« ausbricht. Nur was macht man mit all den Rationalisten, wenn die Vernunft entgleitet? Der Held in Edem Awumeys Roman »Nächtliche Erklärungen« legt sie zur Seite und wendet sich Samuel Becketts »Endspiel« zu. Ein Freund aus seinem Studierkreis hat das Stück gerade in der Unibibliothek ausgeliehen.
Was für ein beängstigendes Gleichnis; während sich auf der Straße die Leichen stapeln, studieren Ito Baraka und seine Freunde Becketts Endzeit-Bühnenstück ein, in dem eine Gesellschaft an ihren eigenen Verkommenheit zugrunde geht. Eine der Studenten erkrankt jedoch während der Proben so sehr, dass Ito Baraka und seine Freunde die geplante Aufführung absagen müssen. Sie beschließen, wenigstens die Satzfetzen, die ihnen im Gedächtnis geblieben sind, als Flugblätter unters Volk zu bringen. Sie erlauben sich dabei eine Spielerei, indem sie ans Ende von Becketts Versen jeweils einen eigenen Satz ergänzen.
Wie ist das Wetter?
Wie gewöhnlich.
Schau dir die Erde an.
Ich habe sie angeschaut.
Unsere Erde ist von der Dummheit ausgehöhlt
und von Blut verdreckt.
Es ist grau… Grau! Grau!
Grau! Sagtest du grau?
Hellschwarz, allüberall.
Schwarz. In unseren Köpfen, unseren Vierteln.
Das herrschende Regime vermutet in den Flugblättern umstürzlerische Absichten und wirft ihrerseits die Propagandamaschine an, indem sie von einem Komplott und drohenden Staatsstreich spricht. Sie schafft damit die Grundlage, um mit umso härterer Hand gegen Regierungsgegner vorzugehen. Bei den folgenden Razzien wird Ito Baraka gefangen genommen, um ihm anschließend den Prozess zu machen.
Gut zwanzig Jahre später sitzt der 45-Jährige in Quebec in einem feuchten Kellerloch, dass er seine Wohnung nennt. Frau und Tochter haben ihn verlassen, seine lange Mittellosigkeit als Bühnenautor, das Leben in Armut sowie und sein Leid an den traumatischen Folgen seiner Gefangenschaft hat seine Frau von ihm weggetrieben. Zwar hat er inzwischen eine neue Lebensgefährtin an seiner Seite, aber der Krebs hat sich tief in seinen Körper zerfressen. Ihm bleiben nur noch wenige Monate, in denen er Kimi Blue dieses eine Buch diktieren will, in dem er von seiner Gefangenschaft in einem der Straflager einer nicht näher genannten afrikanischen Diktatur erzählt.
Und diese Erzählung ist ebenso zart wie grausam. Grausam, weil sie schonungslos von einer Welt berichtet, in der schwerste Misshandlungen an der Tagesordnung sind und sadistische Wärter sich ein Spiel daraus machen, ihre Macht auf perverseste Weise jeden tag neu auszuüben. Zart ist diese Erzählung, weil sie von einer Freundschaft berichtet, die es kein zweites Mal gibt. In der zwei Männer nicht nur einander, sondern auch Erlösung in der Literatur finden, die der Ito Baraka einem geblendeten Alten namens Koli Lem vorliest.
Dieser Wiedergänger von Giacomettis schreitendem Mann wurde mehr als nur ein Freund für Ito Baraka. »Koli war mein Mentor geworden, mein blinder Charon auf der Fahrt in den Tod«, diktiert er Kimi Blue in sein Buch, der ihm zeigte, wie man, umgeben von Strafgefangenen, unter anderen Menschen sein konnte. So handelt diese Geschichte auch von der Kraft der Literatur, indem sie selbst Teil eines Kanons wird, irgendwo zwischen Michael Bulgakows »Meister und Margarita«, Imre Kertész »Roman eines Schicksallosen«, Albert Camus »Der Fremde«, Chinua Achebes »Alles zerfällt«, Günter Grass »Blechtrommel« und Claude Lévi-Strauss »Traurige Tropen«.
»Nächtliche Erklärungen« ist Edem Awumeys vierter Roman, Stefan Weidle hat ihn im Zuge geplanten Gastland-Auftritts Kanadas bei der diesjährigen Buchmesse für den deutschen Sprachraum entdeckt. Seine Übersetzung aus dem französischen Original ist glänzend, denn sie wahrt das drängende Element des Textes, seine Unmittelbarkeit, sowohl in der Gewalterfahrung als auch in der Zuneigung, die sich in der Freundschaft zu Koli Lem und zur Literatur ausdrückt.
Awumey ist in Togo geboren, in Frankreich aufgewachsen und später nach Kanada ausgewandert. Dort ist auch sein Debütroman »Port-Melo« erschienen, für den er den Grand prix littéraire d’Afrique erhielt. Mit seinem zweiten Roman war er für den renommierten Prix Goncourt nominiert.
Mit Edem Awumey kann man einen aufregenden Erzähler entdecken, der immer wieder die Erfahrung der Gewalt, der Flucht und des Exils in düster schillernde, kraftvolle Literatur bringt. Viel aktuellere und dringendere Literatur kann man angesichts einer Welt, in der diese Erfahrung von Millionen still geteilt wird, kaum lesen. Awumey gibt diesen Millionen eine Stimme, holt sie in unser Bewusstsein und schafft ein Gefühl für die Zeit, in der wir leben. »Das ist das Zeitalter der Strafkolonie, das Jahrhundert des ganzen Wahnsinns und des Scheiterns, das, von dem Ito Baraka in einem Buch zu erzählen versucht, seinem letzten, mit allem, was ihm an Blut und flüchtigem Erinnern bleibt.«
Poesie ist nie harmlos gewesen, erklärt eine Freundin Ito Baraka, als er das Risiko der Flugblatt-Aktion erkennt. Dieser Roman ist der beste Beleg dafür.
[…] Studenten proben in einer der zahlreichen afrikanischen Diktaturen ein Bühnenstück von Beckett, als Unruhen aufkommen. Für den Erzähler in Edem Amuweys kraftvollem Exilroman ist das nur der Anfang einer Odyssee. Mit dem in Togo geborenen, in Frankreich aufgewachsenen und nach Kanada ausgewanderten Awumey kann man einen aufregenden Erzähler entdecken, der immer wieder die Erfahrung der Gewalt, der Flucht und des Exils in düster schillernde, kraftvolle Literatur bringt. Viel aktuellere und dringendere Literatur, hier erstmals übersetzt von Stefan Weidle, kann man angesichts einer Welt, in der diese Erfahrung von Millionen still geteilt wird, kaum lesen. Hier gehts zur ausführlichen Rezension. […]