Comic

Der Bär ist los

Der Italiener Stefano Ricci wirft in seinem stilistisch und erzählerisch unkonventionellen Comicalbum »Die Geschichte des Bären« viele Fragen auf, deren Antworten aber im Verborgenen bleiben.

Im Frühsommer 2006 hielt »JJ1« alias »Bruno« ganz Mitteleuropa in Atem. Der aus einem italienischen Naturpark ausgebüxte Braunbär wanderte zwischen Tirol und Slowenien hin und her und riss im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet einige Schafe und Ziegen. Das brachte ihm nach anfänglicher Euphorie ob des seltenen Gastes den unleidlichen Ruf des »Problembären« ein, den es erst schnellstens einzufangen und dann zu liquidieren galt.

Bruno ist Ausgangs- und immer wieder auch vermeintlicher Bezugspunkt in Stefano Riccis düsterer Fabel »Die Geschichte des Bären«, die er auf dem 14. Internationalen Literaturfestival in Berlin präsentieren wird. Der in Bologna geborene Künstler lebt und arbeitet seit 2005 in Hamburg. Wie auch seine Frau Anke Feuchtenberger, deren Comics ebenfalls im Berliner avant-Verlag erscheinen, hat er einen Lehrauftrag an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Hier haben beide in den vergangenen Jahren nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass eine ganze Generation an Zeichnern seit einigen Jahren die deutsche Comicszene belebt. Künstler wie Birgit Weyhe (gerade mit dem höchstdotierten deutschen Comicpreis, dem Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung, ausgezeichnet), Marjipol und Simon Schwarz, die bei Feuchtenberger und Ricci studiert haben, zählen inzwischen zu den wichtigsten Autoren der deutschen Alternativcomicszene.

Alternativ ist aus mehreren Gründen ein gutes Stichwort, wenn es um die fast 450 Seiten zählende »Geschichte des Bären« geht. Zum einen ist der Stil, auf den Ricci hier zurückgreift, alles andere als konventionell. Mit schwarzer Acrylkreide hat er seine groben und abstrakten Zeichnungen auf Kunstkarton aufgetragen. Teils macht es den Eindruck, als hätte er noch transparente Stoffe über seine Zeichnungen geklebt oder auf diese zusätzlich Weiß- und Grautöne aufgetragen, um Konturen und Lichteffekte zu schaffen oder Unschärfen herauszuarbeiten. Den Blick über die Bilder schweifend stellt sich der Wunsch ein, diesem Künstler einmal über die Schulter schauen zu können.

Stefano Ricci: Die Geschichte des Bären. Aus dem Intalienischen von Myriam Alfano. avant-Verlag 2014. 432 Seiten. 34,95 Euro. Hier bestellen

Kühn ist auch das Format, in das Ricci seine Erzählung gebracht hat. Als dicker Quader kommt sein Buch daher, fast quadratisch im Seitenformat. Die eigenwillige Architektur der Einzelseiten sieht zwei untereinander angeordnete, breite Bilder vor, die ohne »Panelgraben« gestaltet sind. Wären da nicht die Erzähltexte über und unter den Einzelbildern, die in ihrer unterbrochenen Anordnung auf eine nochmalige Unterteilung der Panorama-ähnlichen Bilder hinweisen. Auf einigen Bildern sieht man auch noch die dünnen Striche irgendwo im Zentrum der breiten Panels, die den schmalen Bildgraben andeuten, der immer wieder auch unter aufgetragenen, konturgebenden Farbmassen oder hinter den Zeichnungen verschwindet. Das was der Panelgraben leisten soll, nämlich rhythmisieren und Raum für das Überbrücken der Bilder im Kopf bieten, leisten diese verschwindenden Konturen jedoch nicht. Auch das Buchcover selbst wirkt angesichts des Titels »Die Geschichte eines Bären« ungewöhnlich, da es einen Hasen im Weißkittel zeigt. All das lässt erahnen, dass man es mit einem ambitionierten, aber auch sperrigen Werk zu tun hat.

Tatsächlich zeichnet Riccis Album eine überbordende Kunstfertigkeit aus. Das Vage und Nebelhafte, das sich hinter seinem unscharfen Strich verbirgt, wird sowohl in der gewählten Erzählform als auch in der zu erzählenden Geschichte verstärkt. Die Form ist die der Fabel, denn hinter der »Geschichte des Bären« verbirgt sich eine Reflektion gesellschaftlicher Umstände. Die Fabel hat in der Neunten Kunst eine lange Tradition. Den Anfang machte Walt Kelly mit seinen »Pogo«-Strips, später kamen die Funnies von Walt Disney und Co. Art Spiegelman gab der Verbindung zwischen Comic und Fabel mit seiner im wahrsten Sinne des Wortes Fabel-hafte Verarbeitung des Holocaust in seinen »Maus«-Comics eine neue Bedeutung. Inzwischen zeigen aber auch Künstler wie Anders Nilsen (»Große Fragen«), was die Neunte Kunst als erzählerisches Medium zu leisten imstande ist. Ricci fügt dieser Tradition mit seiner bildgewaltigen Geschichte zweifellos einen neuen Aspekt hinzu.

Die Erzählung weitet sich über Träume, Berichte und Rückblicke schnell zu einer komplexen Geschichte, in deren Mittelpunkt ein Stefano steht, den es aus seiner italienischen Heimat nach Mecklenburg-Vorpommern verschlagen hat; womit die gesichert autobiografischen Züge dieser Erzählung genannt sind, alles andere bleibt zumindest nebulös. Stefano – der Hase auf dem Titelbild – arbeitet als Rettungsassistent und fährt gemeinsam mit Renzo – der uns im Comic als Schimpanse am Lenkrad anschaut – von einem Einsatz zum nächsten. Diese beschreibt Stefano in Briefen an sein »Augensternchen«, gleitet dabei aber in Erinnerungen, Traumsequenzen und Hoffnungsbilder ab, die den Leser weit von der eigentlichen Geschichte wegführen. So verloren wie der Leser scheint aber auch Stefano in den weiten Landschaften Mecklenburg-Vorpommerns zu sein. »Hier sind die Straßen alle wie Tunnels aus Bäumen, Eichen und Kastanien, alle vier Meter ein Baum, endlos«, schreibt er an die unbekannte Empfängerin seiner Nachrichten.

Die Verbindung zwischen Stefano und dem Bären Bruno liegt in dem gemeinsamen Schicksal der Wanderung. Sie sind beide paneuropäische Migranten, die ihr Glück fern ihrer Heimat suchen. Dem Bären Bruno stellt Ricci einen Begleiter an die Seite, den Tierflüsterer Manfred. Am Ende des Comics lesen wir, dass Manfred dem deutschen Verhaltensforscher und Wildschweinexperten Heinz Meynhardt nachempfunden ist – weshalb hier auch einige Wildsäue ihren Auftritt haben. Als sei das noch nicht genug, hat Stefano Ricci in diese ohnehin schon überkomplexe und nebulöse Geschichte die Ebene der deutsch-italienischen Geschichte im 20. Jahrhundert eingefügt. In einem langen Bericht wird die Geschichte des Großvaters erzählt, der erst an der Seite der Faschisten kämpfte und dann zu den Partisanen überlief. Ob dieser Großvater ein Vorfahr Riccis ist, womit dies Teil der autobiografischen Aufarbeitung von Familiengeschichte wäre, oder ob es sich dabei um einen weiteren fiktiven Winkelzug handelt; man kann es nur mutmaßen. So wie auch die Bedeutung der Nachwendegeschichte, die im Hintergrund der gesamten Erzählung immer wieder aufleuchtet. In all dem scheint viel Autobiografisches zu stecken, gesichert ist das jedoch nicht. Atmosphärisch bleibt die Erzählung immer existenziell bedrohlich, möglicherweise auch das ein Hinweis auf Seelenzustände des Autors in der Ferne. Aber warum das so ist, bleibt diffus. Vielleicht weil der Mensch des Menschen Wolf ist? Oder weil er eine nicht abzustreifende zweite Haut namens Heimat hat und braucht? Oder weil in jedem Menschen auch ein Tier steckt? Fragen über Fragen.

Dieser Comic will viel und immer wieder auch zu viel. Zugleich vermittelt er zu wenig von dem, was ihm wichtig ist. Zwar hat es durchaus geniale Züge, mit welchen künstlerischen Mitteln Stefano Ricci den Streifzug des »Problembärs« Bruno mit dem eigenen Herumirren in Europa, der Biografie des Verhaltensforschers Heinz Meynhardt und der abgründigen europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert verbindet. Aber dieser Stream of Consciousness in Wort und Bild, dieses ständige Auflösen der Grenzen – zwischen Mensch und Tier, Vergangenheit und Gegenwart sowie Leben und Tod – führt dazu, dass die Konturen im stilistischen und erzählerischen Nebel zum Teil so deutlich verschwinden, dass auch kaum noch etwas bleibt, an dem man sich bei der Lektüre festhalten könnte. Irgendwo zwischen Ravenna und Putbus, zwischen 1512 und 2014 verläuft sich diese Geschichte wie anno 2006 der Bär Bruno in den mitteleuropäischen Wäldern.

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