Nadav Kanders Fotografien des längsten Flusses Asiens bezeugen die Unaufhaltsamkeit der ressourcenvernichtenden Moderne.
Surreal wirkt die Szenerie, die der britische Fotograf Nadav Kander am chinesischen Yangtze, dem längsten Fluss Asiens, eingefangen hat. In einer geradezu trügerischen Idylle sitzt eine Gruppe junger Chinesen unter den tragenden Pfeilern einer Schnellbahn an einem Tisch. Der Untergrund, auf dem sie sich niedergelassen haben, besteht aus Geröll und Plastikmüll. Dennoch sitzen sie sich entspannt, ja fast freudig erregt gegenüber, wie bei einem Familienausflug in die grüne Natur. Keine drei Meter neben ihnen fließt nicht nur der größte, sondern auch einer der dreckigsten Flüsse Asiens. Nebel steigt aus dem zähfließenden, quecksilbrig schimmernden Gewässer auf. Die drohende Gefahr ist selbst angesichts dieser märchenhaften Szenerie nicht zu übersehen. Es ist eine trügerische Geborgenheit, die der Platz unter der Straße bietet, denn schaut man genauer hin, sieht man in der Tiefe des Bildes noch einige andere Personen, die sich ihr Leben unter der Schnellstraße eingerichtet haben.
Die von Nadav Kander eingefangene Szenerie wurde als Titelbild des Katalogs zum Prix Pictet 2009 ausgewählt, einem von einer Schweizer Privatbank gestifteten Fotografiepreis zum Thema Nachhaltigkeit. Der in Israel geborene Kander überzeugte die Jury mit seinen Bildern vom Gelben Fluss und gewann damit den Preis. Die komplette Serie der in China entstandenen Fotos liegt jetzt als Leinenband im Verlag Hatje Cantz vor.
Drei Jahre lang ist Kander flussaufwärts von der Mündung zur Quelle gereist und hat dabei die umstürzlerischen Veränderungen festgehalten, denen Land und Menschen seit dem Siegeszug des chinesischen Sondermodells der »Sozialistischen Marktwirtschaft« ausgesetzt sind. Dabei zeigt er, wie die Umwälzungen der Moderne die Menschen überrollen. Auf den Fotografien sieht man die Menschen oft fassungslos vor der gigantischen Architektur der Moderne Chinas, winzig klein und verloren wirken sie angesichts der Betonwände, die in den vergangenen Jahren die Macht über ihr Leben übernommen haben. Menschen, die noch tief in den Traditionen einer jahrhundertealten Kultur verwurzelt sind, sind täglich schonungslos mit einer Natur verschlingenden Moderne konfrontiert und bleiben verwundet zurück.
Der Yangtze bildet den Rahmen, der die verschiedenen Motive von Kanders dreijähriger Reise einrahmt. Der Fluss selbst ist in seinem gigantisch verschmutzten Zustand zum Symbol der Moderne Chinas geworden. Die Fotografien des metaphorisch als Lebensader bezeichneten Gewässers sind so auch eine fotografische Allegorie auf die sterbende Natur Chinas. Über allen Bildern ein Dunstfilm, die Dämpfe des Fortschritts.
Diese sensiblen Fotografien des Gelben Flusses, die in metaphorischer Übertragung von der geschichtsvergessenen Veränderung Chinas erzählen, haben die größte Beachtung in der Jury gefunden. Sie sind das Dokument des rücksichtslosen Wirtschaftswachstums des gelben Riesen, dessen politische Verantwortungsträger auf ihre Bevölkerung keine Rücksicht nehmen.
Einer der Chinesen, auf die Kander während seiner Arbeiten traf, stellte dem Briten eine einfache und doch kaum zu beantwortende Frage: »Warum müssen wir erst zerstören, um uns zu entwickeln?« Kander fand darauf keine Antwort. Es wurde ihm aber eines dabei bewusst: Während er selbst noch an die Orte seiner Kindheit zurückkehren konnte, ist dies den meisten Chinesen unmöglich, denn das rasante Wachstum hat kaum einen Winkel des Landes unberührt gelassen und für immer bis zur Unkenntlichkeit verändert. Nadav Kander hat dies festgehalten, seine Bilder sind nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Dystopische Bilder einer Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne an den Rändern eines sterbenden Flusses.
[…] von Poschmann nennen, träfe damit irgendwie den Punkt und zielte doch daran vorbei. Wie bei Nadav Kanders Fotografien liegt der Zauber ihrer Texte nicht an der Oberfläche, sondern in der Tiefe, der Komposition, im […]