Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze sortiert in »Sintflut – Die Neuordnung der Welt 1916-1931« die politische Weltkarte der Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und spannt einen Bogen bis in die Gegenwart hinein. Eine Pflichtlektüre für Europas Wirtschaftspolitiker.
Selten war ein Jubiläum intellektuell so fruchtbar wie der hundertste Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs. Den Reigen hervorragender Bücher begann bereits 2012 Die Schlafwandler von Christopher Clark, Jörn Leonhard legte 2014 nach mit Die Büchse der Pandora, dazwischen und danach erschienen etliche lesenswerte Studien zu Beginn und Verlauf des Weltkriegs zwischen 1914 und 1918/19.
Nun kommen langsam das Ende des Krieges und seine Folgen in den Blick der Historikerinnen und Historiker. Der Autor Adam Tooze des hier vorliegenden Werkes ist ein britischer Wirtschaftshistoriker mit exzellenten Kenntnissen der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Im Jahr 2007 verfasste er die Studie Ökonomie der Zerstörung – Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus. Seit 2009 ist er Professor für moderne deutsche Geschichte an der Yale University und leitet dort als Direktor das Institut für Internationale Sicherheitsstudien. Mit dem absolut lesenswerten Buch Sintflut – Die Neuordnung der Welt 1916-1931 legt er eine neue, eine andere Erzählung der Folgen des Großen Krieges vor, eine Erzählung, die noch nicht beendet ist, sondern wirkungsmächtig in die heutigen Tage andauert.
Wie auch Brendan Simms, der mit Kampf um Vorherrschaft ein weiteres sensationelles Buch über die deutsche Geschichte vorgelegt hat, klammert sich Tooze nicht an die gängigen Chronologien der deutschen und europäischen Geschichte. Die Eckpunkte für den Autor sind die Jahre 1916 und 1931. Warum?
Im Jahr 1916 lösten die USA das britische Empire als größte Volkswirtschaft ab. Mitten im Krieg beginnt derjenige Wandel, in dessen Verlauf die USA »Europa in politischer, militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht zur Provinzialität herabstufen«. Aus dem Schuldner- wurde ein Gläubigerland, bei dem die Europäer mit gewaltigen Summen in der Schuld standen. Diese Schulden ketteten die Staaten gleich einer chain gang zusammen – »einer durch die Welt taumelnden, aneinander geketteten Sträflingsgruppe«. Dies erklärt auch den Verlauf und die Ergebnisse der Schulden- und Reparationsverhandlungen in den 20er Jahren. Die USA entpuppten sich als ein neuartige Überstaat, »der ein Vetorecht über die finanziellen und sicherheitspolitischen Interesse der anderen Mächte ausübte«. Tooze beschreibt die Geschichte einer weltpolitischen Transformation, die sich nach 1945 in der westlichen Welt durchsetzen wird, die ihre intellektuellen, ihre strategischen Ursprünge aber bereits 1916 hat. Diese Transformation speiste sich aus drei Elementen: Moralische Autorität gestützt auf militärische Macht und wirtschaftliche Überlegenheit.
Diese Überlegungen gehen auf den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zurück, eine Person, die Tooze mit all ihren Schattierungen, Stärken und Schwächen, idealistischen und pragmatisch-realistischen Zugängen zur Politik beschreibt. Als Wilson 1912 zum US-Präsidenten gewählt wurde, war er der zweite demokratische Präsident seit 1897 und der erste Präsident seit Andrew Johnson (1865–1869), der aus den ehemaligen Konföderierten Staaten stammte. Wilson hing einer spezifischen amerikanischen liberalen Tradition an, Rassismus war ihm alles andere als fremd. Sein Vater – ein promovierter Theologe und Pfarrer der Presbyterianischen Kirche – hielt noch eigene Sklaven. Wilson war alles andere als ein idealistischer, aufgeklärter Liberaler, Tooze beschreibt ihn als einen Konservativen in der Tradition Edmund Burkes, der nichts von revolutionären Umwälzungen hielt. Während des Krieges baute er sein immer stärker werdendes Misstrauen gegenüber den europäischen Großmächten auf. Wilson verstand seinen Slogan »war without victory« als Aufgabe für die USA, Schiedsrichter der Welt und Anwalt der Menschheit zu sein. Für die künftige Neuordnung der Welt entwickelte Wilson grundsätzlich neue Vorstellungen.
Während 1918 die Deutschen im Friedensvertrag von Brest-Litowsk einen gewalttätigen Triumphalismus an den Russen exekutierten, triumphierte, so Tooze, in den Friedensverträgen von Versailles, Saint-Germain und Trianon das Recht über die Gewalt. Dass mit den Friedensverträgen harte Bedingungen wie den Reparationszahlungen und Gebietsabtretungen – nicht nur für das Deutsche Reich – verbunden waren, ließ sich nicht vermeiden, es mussten widerstreitende Interessen vieler berücksichtigt werden. Und das oft sich zu Unrecht behandelte Deutschland durfte seinen erst 1871 gegründeten Nationalstaat behalten, alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Die Rückkehr zu einer deutschen Vielstaaterei wäre jederzeit möglich gewesen.
Das hatte Deutschland auch Frankreich zu verdanken. Frankreich blieb bei seiner Politik der Konzessionen, vor allem nachdem es Gustav Stresemann gelungen war, Deutschland zu stabilisieren – just jener Stresemann, den Tooze als den »großen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik« bezeichnet, auf dessen Rolle als Saulus während des Ersten Weltkrieges er aber auch immer wieder verweist. Überhaupt ordnet Tooze die Rolle Frankreichs neu und vermutlich angemessener in den internationalen Kontext der Zwischenkriegszeit ein. Häufig wurde den Franzosen in dieser Zeit eine destruktive Rolle zugesprochen. Tooze verweist hingegen darauf, dass die französischen Regierungen sehr kreativ und vorausschauend auf die Neuordnung des europäischen Kontinents blickten. So stellten sie Überlegungen für eine Europäische Wirtschafts-, Politik- und Sicherheitsunion vor. Diese Überlegungen griff Jean Monnet, der während des Ersten Weltkriegs in interalliierten Einrichtungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit arbeitete, Ende der 40er Jahre auf. Die Franzosen verlangten für diese Pläne aber gleichzeitig prinzipielle Garantien ihrer Sicherheit. Nach den Erfahrungen von 1870 und 1914, vor allem nach den Erfahrungen der deutschen Besatzung im eigenen Land sowie den Verwüstungen durch die Deutschen ein verständlicher Wunsch. Über dieses berechtigte Anliegen gingen Briten wie Amerikaner häufig stillschweigend und unsensibel hinweg. Vielleicht hätten eine Kombination der Ansätze Wilsons und der Franzosen einen dauerhafteren Frieden ermöglicht. Es kam nicht, weil das Jahr 1931 die Neuordnung zerbrach.
Dieses zweite Eckjahr von Sintflut ist geprägt von zwei Ereignissen, die die wirtschaftliche Ordnung der Zwischenkriegszeit beenden: Die Abkehr Großbritanniens vom Goldstandard und das Hoover-Moratorium. US-Präsidenten Herbert C. Hoover erklärte am 20. Juni 1931, die intergouvernementalen Zahlungsverpflichtungen wegen der Weltwirtschaftskrise für ein Jahr auszusetzen. Damit waren nicht nur die deutschen Reparationszahlungen an die europäischen Siegermächte des Ersten Weltkriegs gemeint, sondern auch die interalliierten Kriegsschulden, die Großbritannien und Frankreich während des Weltkriegs bei den USA aufgenommen hatten und die sie mit ihren Reparationseinnahmen zurückzahlten. Überholt wurde diese Erklärung durch den Ausbruch der Deutsche Bankenkrise am 13. Juli 1931. Die Reichsbank verfügte auf absehbare Zeit über keine ausreichenden Devisen, um die Reparationszahlungen wieder aufzunehmen.
Ein weiteres Datum ist der 19. September 1931, an dem die Goldkonvertibilität des Britischen Pfunds ausgesetzt wurde. Es markierte den Beginn des Zerfalls des internationalen Goldstandards. Die Überbewertung der britischen Währung hatte jahrelang hohe Leistungsbilanzdefizite verursacht, was eine Verringerung der Goldbestände der Bank of England zur Folge hatte. Es wurde für sie immer schwieriger, die im Rahmen des Goldstandards definierte Goldparität zu halten. Mit der Abkehr vom Goldstandard werteten die Briten das Pfund um 25 Prozent ab, was die Wettbewerbsposition erheblich verbesserte. Damit war aber der Goldstandard als disziplinierender und koordinierender Rahmen obsolet, den London und Washington zum Anker der Nachkriegsstabilisierung gemacht hatten. Kurzum: Die Ordnung, die vor allem auf Betreiben Washingtons errichtet worden war, bestand ab 1931 nicht mehr. Gerade in diese Ordnung hatten die europäischen Staaten viel investiert, vor allem während der Deflation zu Beginn der 20er Jahre. Ziel war es, die Inflationswelle zu brechen, eine der finanziellen Folgen des Krieges, und somit eine der zugrundeliegenden Ursachen sowohl der nationalen wie der internationalen Unruhen anzugehen. Für Tooze ist dies »das bis heute wahrscheinlich am meisten unterschätzte Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts«. Die Rückkehr zum Goldstandard nach dem Ersten Weltkrieg folgte der Logik einer internationalen Kooperation, sie legte eine Goldfessel für »ausgabefreudige und Inflation in Kauf nehmende Sozialisten« wie revanchistische Militaristen an. Aus dieser Logik heraus wurde die Weltwirtschaftskrise lediglich als zyklische Rezession angenommen, offensichtlich mit Massenarbeitslosigkeit und Konkursen, aber weit weniger dramatisch, um eine internationale Ordnung aufzugeben, die am ehesten Frieden und wirtschaftlichen Fortschritt zu garantieren versprach und dieses Versprechen auch in den 20er Jahren halten konnte. »Es gehörte mit zu den Tragödien der Weltwirtschaftskrise, dass alle Ansätze einer konstruktiven Politik internationaler Zusammenarbeit fest mit der Politik der ökonomischen Austerität verknüpft waren.« 1931 kollabierte dieses System. Es eröffnete Ideologien, die dieses System bekämpften, strategische Freiräume. In den 30er Jahren streiften Stalinismus, der Nationalsozialismus und der japanische Imperialismus die letzten Hemmungen ab und bliesen zum Großangriff auf den Status Quo.
In Parenthese: Wer die letzten dramatischen Wochen um die finanzielle Rettung Griechenlands erlebt hat, liest dieses Buch auch immer unter dieser Perspektive. Nun ist es sehr schwierig aus der Geschichte Lehren zu ziehen. Geschichte wiederholt sich nicht, schon gar nicht im einzelnen Ereignis. Und doch können Vergleiche und Analogiebildung zu früheren Konstellationen eine Vorstellung davon entwickeln, wie es weitergehen könnte und welche politischen Optionen uns dabei zur Verfügung stehen. Aktuell stellt sich die Frage, warum die aktuelle griechische Regierung mit ihren berechtigten Forderungen so wenig Erfolg hatte, gehört und verstanden zu werden. Eine Analogie bildet der Umgang der Deutschen mit den Reparationsforderungen als Folge des Ersten Weltkriegs: Warum war Gustav Stresemann so erfolgreich, warum scheiterte Brüning? Tooze erklärt sich dies mit der Fähigkeit Stresemanns, strategische und taktische Handlungsspielräume zu erweitern, indem er eine offene Konfrontation vermied. Brünings aggressiver Ansatz bewirkte exakt das Gegenteil. Durch seinen Flirt mit nationalistischen Fantasien engte er seinen Spielraum ein und geriet sowohl im Inland auch international immer mehr unter Druck. Auch Yanis Varoufakis und Alexis Tsipras haben in den letzten Monaten ihre Handlungsspielräume so sehr eingeengt, dass sie dadurch ein System stabilisiert haben, das für die griechischen Verhältnisse nicht funktioniert. Vielleicht haben sie es auch langfristig kaputt gemacht. Auch dies würde Griechenland viel stärker treffen, als die robusten Ökonomien Deutschlands, der Niederlande oder Belgiens. »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen.« Vielleicht wäre ein Rekurs auf Karl Marx sinnvoller gewesen als auf ökonomische Spieltheorien.
Zum Schluss eine letzte Erklärung: Warum Sintflut? Dieses biblische Wort hat Tooze einer Rede des englischen Premierministers Lloyd George entnommen, der Ende 1915 vor schottischen Munitionsarbeitern in Glasgow eine Brandrede zur Motivation der murrenden Massen hielt. Darin heißt es an einer Stelle: Dieser Krieg »ist die Sintflut, er ist ein Aufbäumen der Natur… und bringt beispiellose Veränderungen im gesellschaftlichen und industriellen Gefüge mit sich. Er ist ein Zyklon, der die Zierpflanzen der modernen Gesellschaft samt Wurzel ausreißt.« In der Tat, die Welt vor 1914 ist mit der nach 1918 nicht mehr vergleichbar.
Diese vorliegende Besprechung hat einen großen Nachteil, sie verweist nicht auf die vielfältigen Bezüge nach Japan, China, Indien, Afrika und Südamerika – Regionen, die Tooze stets in den Blick nimmt. Er hat eine beeindruckende Studie vorgelegt über einen historischen Zeitraum, der uns immer noch prägt, aus dem wir, die wir uns ebenfalls in einer historischen Umbruchsphase befinden, einiges lernen können, vor allem, wie man es nicht machen sollte. Aber wenn wir die schlimmsten Fehler im Umgang mit dem Russland-/Ukraine-Konflikt, mit den Konflikten im Mittleren und Nahen Osten sowie im Umbau der Europäischen Union hin zu einer wesentlich stärkeren politischen als wirtschaftlichen Institution vermeiden könnten, dann wäre uns sehr geholfen.