Literatur, Roman

Die Krümmung der Zeit auf der Parabel

Emily St. John Mandels erfolgreichster Roman »Das Licht der letzten Tage« war für die wichtigsten nordamerikanischen Buchpreise nominiert. Ihr neues Buch knüpft an diese Geschichte eindrucksvoll an und stellt grundsätzliche Fragen an die Existenz des Menschen.

»Kein Stern leuchtet ewig«, lautet ein Schlüsselsatz in Emily St. John Mandels neuem Roman »Das Meer der endlosen Ruhe«. Sterne spielen in dieser fantasievollen Zukunftsvision keine unwesentliche Rolle. Denn in der dort gezeichneten Zukunft ist die Erde vom Klimawandel derart verwüstet, dass es für die Menschen von Morgen alternative Lebensräume braucht. Es leben zwar noch einige Millionen Menschen auf dem Mutterplaneten, glaubt man der kanadischen Autorin, wird die Menschheit in 150 Jahren aber auch auf verschiedenen Sternen und Planeten unter Glaskuppeln siedeln, wo die irdische Atmosphäre über Wetter- und Lichtprogramme eingespielt wird.

Aufgegeben ist die Erde also noch nicht, es herrscht ein reges Hin und Her zwischen dem von Pandemien und Katastrophen geschüttelten Planeten und seinen Mond-Kolonien. In der von Rushdie-Übersetzer Bernhard Robben ins Deutsche übertragenen Mandel’schen Prosa klingt das wie folgt: »Ein schneller Aufstieg vom grünblauen Planeten, schlagartig von Wolken verdeckt. Die Atmosphäre wurde dünn, die Umgebung blau, dann verdunkelte sich das Blau zu Violett und dann – es war, als durchstieße man die Haut einer Blase – nur noch das schwarze Weltall.«

Emily St. John Mandel: Das Meer der endlosen Ruhe. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Ullstein Verlag 2023. 288 Seiten. 22,99 Euro. Hier bestellen.

Man darf sich von dieser Schönheit nicht täuschen lassen, denn Reisen durch den (Welt)Raum sind immer auch Reisen durch die Zeit. Und die bergen Gefahren. Zeitreisen strahlen auf die Menschen eine immense Faszination aus, man denke nur an Robert Zemeckis »Zurück in die Zukunft«-Trilogie. Jüngere Produktionen wie die deutsche Erfolgsserie »Dark« oder die amerikanische Zeitreise-Erzählung »Timeless« belegen, dass die Illusion, es gäbe geheimnisvolle Wanderer, die durch Raum und Zeit springen und das Schicksal in die Hand nehmen, einen Kern der menschlichen Existenz berührt.

»Das Meer der endlosen Ruhe«, von Barack Obama wie schon der Vorgängerroman »Das Glashotel« – an den hier in Figuren wie dem betrügerischen Investor Jonathan Alkaitis und seiner Frau Vincent angeknüpft wird – auf seiner Summer-Reading-List zur Lektüre empfohlen, spielt mit diesem Wanderermotiv. Der zentrale Akteur in diesem Roman trägt den rätselhaften Namen Gaspery-Jacques Roberts. Der ist in der düsteren Mondkolonie Night City aufgewachsen, hat seine Ehe in die Binsen gesetzt und hält sich im Jahr 2401 mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Bis ihm vom ominösen Zeitinstitut, in dem seine Schwester Zoey arbeitet, das verlockende Angebot gemacht wird, für die Ordnung der Dinge einer seltsamen Anomalie auf den Grund zu gehen.

Mit Zeitsprüngen war gewissermaßen auch Mandels »Das Licht der letzten Tage« verbunden. Ihr 2014 erschienener und mit dem Arthur-C.-Clarke-Preis ausgezeichneter vierter Roman handelt von einer globalen Pandemie, die ihren Ursprung in der ehemaligen Sowjetunion hat und das Leben auf der Erde gravierend dezimiert. Fünf Jahre später sollte eine solche Pandemie die Welt ergreifen und das dystopische Potential ihres Romans wurde längst prophetisch gelesen. Wie lange es dauert, dass dies auch mit ihrem neuen Roman Geschichte, ist ungewiss, angesichts der zahlreichen Weltraumprojekte aber wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit.

Emily St. John Mandel: Das Glashotel. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Ullstein Verlag 2021. 400 Seiten. 23,- Euro. Hier bestellen.

Eine Geschichte, die mit dem Zeit- und Raumkontinuum spielt, kann natürlich nicht linear erzählt werden. Und doch hat die 1979 geborene Mandel eine klare Struktur für diese verwinkelte Erzählung gefunden. Sie erzählt die von Bernhard Robben mitreißend übertragene Dystopie wortwörtlich in Form einer mathematischen Parabel. Sie beginnt im Jahr 1912 in der britischen Kolonie Kanada, wo der adelige Edwin St. Andrew noch nicht ahnt, dass er bald in Europa in den Krieg ziehen wird. Anschließend wechselt sie zu einem geheimnisvollen Geiger und seiner Schwester ins Pandemie-Jahr 2020, in dem es zu einer Tragödie besonderen Ausmaßes kommt. Anschließend lernt man die Erfolgsautorin Olive Llewellyn kennen, die im Jahr 2203 mit einem Pandemie-Roman eine Lesereise auf Erden macht, während dort eine rätselhafte Krankheit ausbricht.

In dieser Figur ein autofiktionales Porträt der Autorin zu vermuten, ist wohl nicht zu wagemutig. Zumal Llewellyns Roman »Marienbad« ähnlich rätselhaft scheint, wie Mandels »Das Licht der letzten Tage«. Eine Leserin beklagt sich während der Lesereise über dessen offenen Ausgang. »All diese Handlungsfäden, diese Erzählstränge, und dann die vielen Figuren; ich habe immer gehofft, dass sie endlich miteinander verknüpft werden, aber bis zum Schluss ist das nicht passiert. Das Buch hat einfach aufgehört.« Ähnliches hing Mandels Roman nach, der viele Fäden auslegte, aber nicht alle wieder aufgriff.

Dies ist in ihrem neuen Roman anders. Über die Figur Gaspery-Jacques Roberts, dessen Heldengeschichte sich erst in der zweiten Hälfte des Romans entwickeln wird, werden alle Erzählfäden aufgenommen und zu einer konsistenten, nicht ganz einfachen Erzählung gesponnen. Diese Erzählung folgt der Zeitlinie rückwärts, wobei Dinge ans Licht kommen, die so manch rätselhaften Moment aus dem ersten Teil in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Emily St. John Mandel: Station Eleven. Das Licht der letzten Tage. Aus dem Englischen von Wibke Kuhn. Ullstein Verlag 2022. 416 Seiten. 13,99 Euro. Hier bestellen.

Zentral sind dabei Verbindungen zwischen den Figuren, die mal motivisch, mal in der Handlung angelegt sind. So taucht etwa der seltsame Name des durch Zeit und Raum reisenden Antihelden auch schon im Roman von Olive Llewellyn auf, in dem Roberts Mutter den Namen entdeckt hat. Die Schwester des Geigers hat vor dem Unfall, der sie ereilt, wiederum eine Begegnung der dritten Art mit einem Geist aus ihrer Kindheit.

Alle Figuren eint ein Erlebnis, das im Buch an einer Stelle wie folgt beschrieben wird: »… aufblitzende Dunkelheit wie bei plötzlicher Blindheit oder einer Sonnenfinsternis. Er hat den Eindruck, in einem riesigen Innenraum zu stehen, fast wie in einem Bahnhof oder einer Kathedrale, und er vernimmt Geigenklänge, um ihn herum sind Menschen, dann ein unverständlicher Laut …«

Dieses schwer greifbare Motiv zieht sich so oder in ähnlicher Form durch die Biografien der Figuren im ersten Teil des Romans. Dieser Moment »plötzlicher Blindheit« gefolgt von sphärischen Geigenklängen wird zu einer Art Erweckungserlebnis, bei dem sich ein Riss in der Zeit auftut und die Charaktere durch die Jahrhunderte schauen können. Dabei entwickelt dieser Roman eine Eigendynamik auf der Zeitachse, denn keine von Roberts Reisen bleibt ohne Folgen für das, was kommt (weshalb das Buch hier stark an oben genannte Netflix-Serien erinnert). Bald schon gerät er selbst ins Visier der Wächter der Zeitlinie.

Mandels sechster Roman ist voller Motive, die zum Teil Jahrhunderte trennen. Es geht um Kolonialismus, den Zustand der Welt und die Hybris der Menschheit, aber auch um die Suche nach Wahrheit und Fake. Mit beeindruckender Leichtigkeit verknüpft die Kanadierin diese Motive zu einem packenden Thriller über die menschliche Existenz. In dessen Zentrum steht die Frage, was es bedeuten würde, wenn die Geschichte der Menschheit nur eine Simulation wäre. Und wie es dem Menschen selbst in der Illusion anheim gegeben ist, das Schicksal zu ergreifen und das Beste daraus zu machen.

Eine kürzere Fassung des Textes ist in der Galore erschienen.