Guy Delisle war bisher vor allem dafür bekannt, sein Leben als Expat in ungewöhnliche Porträts der jeweiligen Gastgeberländer einfließen zu lassen. Jetzt ist er zum zweiten Mal von diesem Prinzip abgewichen. Mit »Für den Bruchteil einer Sekunde« hat er dem Briten Eadweard Muybridge, einem Pionier der Fotografie und des frühen Films, ein Denkmal gesetzt.
Eadweard Muybridge hat es zeitlebens nicht zu dem Ruhm gebracht wie Louis Daguerre, Erfinder der nach ihm benannten Daguerreotypie, also des ersten kommerziell nutzbaren Verfahrens für Fotografie; seine Arbeit brachte ihm auch weniger Geld ein als dem Zeitgenossen Thomas Alva Edison, der unter anderem mit Glühbirne, Phonograph und einem Kinematographen ein Vermögen machte. Aber auf seine Art half Muybridge entscheidend mit, die technischen und gestalterischen Grenzen der Fotografie auszudehnen.
Seine englische Heimat war dem Sohn eines Kohle- und Getreidehändlers im Alter von 20 Jahren zu eng. 1850 reiste der junge Mann nach New York und lernte dort die Daguerreotypie kennen. Bald danach zog es ihn nach San Franzisco, wo er sich nach einigen Umwegen als angesehener Landschaftsfotograf etablierte. Von ihm stammen frühe Aufnahmen unter anderem des Yosemite-Tals, von Wasserfällen, Leuchttürmen und von der Landschaft sowie den Bewohnern Alaskas. Und nicht zuletzt eine sehr detailreiche Panorama-Ansicht, die das San Franzisco vor dem großen, zerstörerischen Erdbeben von 1906 zeigt.

Und wir verdanken ihm den fotografischen Nachweis, dass Pferde im Galopp für einen kurzen Moment alle Beine in der Luft haben. Das mag aus heutiger Sicht eine Lappalie sein, war damals aber eine umkämpfte Frage, die gar nicht so einfach zu beantworten war. Denn die Kameras hatten Belichtungszeiten, die es unmöglich machten, sich bewegende Objekte scharf darzustellen. Der Eisenbahnbaron Leland Stanford (der spätere Gründer der Stanford University) beauftragte Muybridge mit diesem Nachweis und stattete ihn dafür mit den nötigen Mitteln aus.
Die Fotos gelangen schließlich, nachdem Muybridge die Verschlusszeit der eingesetzten Kameras auf damals fantastische wenige Millisekunden gedrückt hatte. Sie machten den Fotografen endgültig weltweit bekannt. Im Anschluss begann Muybridge, die vielen dabei entstandenen Einzelbilder so zu kombinieren, dass der Eindruck einer flüssigen Bewegung entstand – was ihn zusätzlich zu einem Pionier des bewegten Bildes machte.
Eine ganz andere Art von Berühmtheit allerdings erlangte Muybridge, als er 1874 den Liebhaber seiner Frau erschoss. Der aufsehenerregende Prozess endete mit einem Freispruch. Der Fotograf war der letzte des Mordes Angeklagte, der trotz eines Schuldeingeständnisses freigesprochen wurde.
Guy Delisle, Jahrgang 1966, Francokanadier, war ursprünglich Animator, also einer der Menschen, die den Bildern in gezeichneten Filmen das Laufen beibringen. Da viele Arbeitsschritte zur Herstellung aus finanziellen Gründen in Asien in Auftrag gegeben werden, musste sich Delisle längere Zeit in China beziehungsweise Nordkorea aufhalten, um dort die Arbeiten zu überwachen. Bei diesen Aufenthalten entstanden die autobiographischen Erzählungen »Shenzhen« (»Shenzhen«, 2000) und »Pjöngjang« (»Pyongyang«, 2003). Mit seiner Frau, die für Ärzte ohne Grenzen arbeitete, lebte Delisle danach unter anderem in Birma und Israel, wo »Aufzeichnungen aus Birma« (»Chroniques Birmanes«, 2007) und »Aufzeichnungen aus Jerusalem« (»Chroniques de Jérusalem«, 2011) entstanden.
Guy Delisles Expat-Comics





Delisle zeigt sich insbesondere in den letztgenannten Bänden als ein Meister des scheinbar Banalen, der nur das berichtet, was er selbst erlebt oder hört, während er seinen Alltag als Hausmann und Vater meistert. Diese Erfahrungen eines Expats verdichten sich dann aber zu einem Bild über sein Gastland, dessen Faktenreichtum und Genauigkeit herausragend sind, und die den Autor zu einem der Großen der frankophonen Comicszene machen. »Auszeichnungen aus Jerusalem« wurde 2012 auf dem renommierten Festival International de la Bande Dessinée in Angoulême mit dem Preis für das beste Comic ausgezeichnet.
Zudem ist Delisle der Autor unter anderem mehrerer humoristischer Comics um »Inspecteur Moroni« und der wirklich lustigen und selbstironischen »Ratgeber für schlechte Väter«. Delisles Werk ist damit zu erheblichen Teilen sehr kunstvoll um das eigene Erleben herum gebaut und entstanden. Eine Ausnahme davon ist »Geisel« (»S’enfuir«, 2016), worin eine Geschichte erzählt wird, die Delisle nicht selbst erlebt hatte – ein Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen hatte ihm seine Erlebnisse erzählt. Delisle erzählt diese Geschichte streng aus der Perspektive des Opfers, insofern ist »Geisel« bereits eine deutliche Entfernung von autobiographischen Stoffen.
Guy Delisle als Vater





Die klassische allwissende Erzählperspektive der Biografie »Für den Bruchteil einer Sekunde« ist nun ein neues Kapitel im Werk des Kanadiers. Delisle bleibt aber seiner bislang bekannten lakonischen Art des Erzählens treu. Detailreich schildert er das Leben des Pioniers und zeichnet so ein lebendiges Bild dessen Lebens, aber auch der Gesellschaft seiner Zeit. Und er vergisst nicht, dass der Erfolg Muybridges nicht nur seiner Neugierde und Abenteuerlust zuzuschreiben ist, sondern auch seiner Sturheit und Rücksichtslosigkeit.
Denn Muybridge war, auch unter Nichtbeachtung des Mordes, den er begangen hatte, ein ziemlich schwieriger Typ. Immer wieder stand der Zausel vor den Scherben seiner Existenz, immer wieder rappelte er sich auf und versuchte es von Neuem, scheiterte aber immer wieder auch an seiner Art, mit anderen Menschen umzugehen. Der Mord am Liebhaber seiner Frau war da nur die Spitze des Eisbergs. Das alles hätte problemlos gereicht, um den Band als ein weiteres Beispiel der typischen zurückgenommenen Erzählung und Beobachtung in das Werk Delisles einzureihen, dessen lakonischen Stil diesmal Ulrich Pröfrock ins Deutsche übertragen hat.
Den Charme von »Für den Bruchteil einer Sekunde« macht aus, dass die Pioniertaten der frühen Fotografie greifbar werden, dass der Zauber des ersten Males, der Entwicklung hervortreten und dass man sich beim Lesen tatsächlich freut über den gelungenen Versuch, ein galoppierendes Pferd zu fotografieren. Delisle integriert mehrere Beispiele der frühen Fotografie in sein Werk – unter anderem das erste Foto von Daguerre vom Boulevard du Temple in Paris und natürlich die in Kalifornien entstandenen Bewegungsstudien – oder zeigt an Beispielen, welchen Einfluss die Bewegungsstudien von Pferden auf die weltweite Malerei hatten. Dadurch werden der Zauber und die Begeisterung verständlich, die diese Werke zu ihrer Zeit entfacht haben.
Und man begreift bei der Lektüre, in welcher Dichte zu dieser Zeit die technische Entwicklung voranschritt, so dass ein einziger Mensch in seinem Leben von der Erfindung der Fotografie über ihre Kommerzialisierung und technische Reifung bis hin zu den ersten Bildern so gut wie alles aktiv begleiten konnte.
Raus aus der Autofiktion


An zwei Stellen weicht Delisle vom Rhythmus des Buches ab, und an beiden Stellen hält der Tod Einzug in die Erzählung. Das erste Mal ist der Moment, in dem Muybridge den Liebhaber seiner Frau erschießt. Delisle zerlegt die sekundenkurze Zeit zwischen dem Abdrücken des Revolvers, dem Einschlag des Projektils in den Körper seines Opfers, dessen Zusammenbruch und dem Moment, in dem Muybridge die Waffe fallen lässt, in insgesamt 36 Panel auf zwei Seiten. Damit reduziert er die Einzelteile des Geschehens auf die titelgebenden Bruchteile einer Sekunde, verlangsamt die Zeit und wird im Ergebnis cinematografisch: Die Bilder erinnern an Einzelbilder eines Films beziehungsweise an eine Sequenz in Zeitlupe.
Das Ende Muybridges ist wie eine Verbeugung vor dem Pionier gestaltet: Auf der vorletzten Seite des Comics spekuliert Delisle, ob dieser Wegbereiter des bewegten Bildes, der als einer der ersten die Schönheit einer Bewegung an die Wand projiziert hatte, jemals in einem Kino gesessen und den Fortschritt, den er mit angeschoben hatte, gesehen habe.
Auszug aus »Für den Bruchteil einer Sekunde – Das bewegte Leben von Eadweard Muybridge«
Auf der letzten Seite zeigen 30 einzelne Zeichnungen, wie Muybridge bei der Gartenarbeit stirbt. Auch hier dehnt sich die Zeit, die Bewegung zerfällt in Einzelteile. Allerdings löst Delisle die Bewegungen derart genau auf, dass die Bilder zusammengesetzt eine flüssige Bewegung zeigen könnten – als Daumenkino oder in einem der Projektionsapparate der Filmpioniere. Der Tod des Pioniers wird dadurch zu einem kurzen Film, so wie die, die er von Pferden und später von anderen Tieren und Menschen gemacht hat. Uns erinnert es, welche Bedeutung der britische Sonderling für Fotografie und Film hatte.












