Der amerikanische Kultautor William T. Vollmann erkundet in seinen Reportagen das Schicksal armer Leute. Sein eigener Eindruck reicht ihm nicht, wie ein Wissenschaftler löchert er die Menschen, denen er begegnet. Nicht, um eigene Bilder zu bestätigen, sondern um sich überhaupt erst ein Bild zu machen. Wir profitieren davon.
Was ist Armut? Warum gibt es arme und reiche Menschen? Und warum ist das so? Diese und viele andere Fragen hat der amerikanische Kultautor William T. Vollmann Menschen am Rande der Gesellschaften gestellt, denen er im Laufe seines Lebens begegnet ist. In seinen Reportagen Arme Leute lernt man sie, ihre Lebensverhältnisse und Perspektiven kennen. Etwa die thailändische Putzfrau Sunee, die mit ihrer Mutter in einem kleinen Holzverschlag im größtem Slum Bangkoks Khlong Toei lebt und gegen ihr Elend antrinkt. Oder die Russinnen Natalia und Oksana, die in St. Petersburg an der Blutkirche betteln und ungerührt mit dem schlechten Gewissen reicher Leute spielen. Oder Kleiner Berg und Großer Berg, zwei Japaner, die erst ihre Bürojobs und dann ihr Obdach verloren haben und dennoch nicht ihre Träume von einem besseren Leben aufgeben.
Vollmann ist hierzulande für sein mit dem National Book Award ausgezeichnetes Weltkriegsepos Europe Central bekannt, für dessen Übersetzung Robin Detje 2014 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ausgezeichnet wurde. Kenner seiner Werke, wie der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz, schwärmen von dem Amerikaner. »Vollmann gehört für mich zu den Autoren mit einer großen Seele«, sagte Setz in einem Interview mit der Zeit.
Diese Texte über arme Leute seien in einem anderen Geist entstanden als sein »eher umfangreiches Buch über die Gewalt«, dass er gerade abgeschlossen habe, räumt Vollmann im Vorwort zu diesen Reportagen ein. Mit dem eher umfangreichen Buch ist seine fast viertausendseitige Studie Rising Up and Rising Down gemeint. Setz gehört zu den wenigen deutschsprachigen Zeitgenossen, die diesen bis heute nicht ins Deutsche übertragenen Solitär der soziologischen Ergründungsliteratur gelesen haben. Seine Hochachtung für den amerikanischen Kultautor fußt auch auf dieser Erfahrung. In einem Gespräch mit Kathrin Passig für das österreichische Literaturmagazin Volltext gestand Setz zudem, dass er beim Lesen von Vollmanns Texten »bisher sehr durchgeschüttelt und verprügelt« worden sei.
Verprügelt werden die Leser bei Vollmanns Reportagen nicht, keine Angst. Dafür hat sich Vollmann für uns in die ungemütlichen Randzonen des Lebens begeben. Etwa auf einen Bahnhof in Oakland, wo es nach Scheiße stinkt. Da fragt er sich selbst »Warum in die Bahnhofsgegend gehen, wenn man dort nichts verloren hatte, vor allem wenn man riskierte, dort ausgeraubt, verprügelt oder beschimpft zu werden?» Weil es ein Ort der Klassentrennung ist, ab dem man Erfahrungen macht, die man sonst nicht machen würde, wie er anschließend ausführt. Von solchen Orten hat er einige aufgesucht, in Kambodscha, China, Afghanistan, Jemen, Ungarn, Kolumbien, Mexiko, den USA und vielen anderen Ländern. Er war dort, wo Fremde nie hingelangen, weil sie »Polizeigewalt, wirtschaftlicher Druck, Selbstschutz und schlicht Gewohnheit« von dort fernhalten und sie damit dazu beitragen, dass sie unsichtbar werden.
In seinen hier versammelten Texten und den dazugehörigen Schwarz-Weiß-Fotografien, die er selbst angefertigt hat, geht er den verschiedenen Erscheinungsformen der Armut in all ihren Aspekten auf den Grund. »Ich versuche immer, so mitfühlend zu sein, wie irgend möglich. Ich mag die meisten Menschen, die ich treffe«, sagte er vor Jahren in einem Interview. Es sind diese Empathie sowie das ständige Hinterfragen der eigenen Perspektive durch die Befragung derjenigen, auf die er trifft. Warum sind manche reich und andere arm? Auf diese Frage gibt es nicht nur eine Antwort, sondern tausende, wenn nicht sogar Millionen Antworten. Ob es darunter die eine richtige gibt, darf man hinterfragen. Aber es gibt Antworten, wie die eines japanischen Obdachlosen, die in ihrer entwaffnenden Einfachheit vermeintlich den Nagel auf den Kopf treffen. »Das Geld geht, wohin es will.«
Aber was ist nun Armut oder anders gefragt: Woran erkennt man arme Leute? Vollmann erklärt das bildhaft, wenn er von Unfallanfälligkeit spricht, die er als einen entscheidenden Indikator für Armut ansieht. »Das Leben ist ein langer Zelturlaub«, schreibt er da. »Ein billiges Zelt mit Löchern erhöht die Regenwahrscheinlichkeit nicht; wenn es aber regnet, liegt der Mensch im billigen Zelt wahrscheinlich in einem klatschnassen Schlafsack und kann an Unterkühlung sterben.« Die Korrelation von Armut und löchrigen Zelten ist enorm, eine ähnlich starke Wechselwirkung gibt es nur zwischen Reichtum und der Abstumpfung diesen Verhältnissen gegenüber.
Wer sind wir denn, über diese Menschen zu urteilen, fragt Vollmann sich und uns nicht nur einmal. Diese Selbsthinterfragung gekoppelt mit einer enormen Neugier am Lebensweg des Gegenübers machen diese Reportagen so lesenswert. Vollmann gibt in diesen Texten armen Leuten ihre Würde zurück, lässt uns durch ihre Augen sehen und verändert damit auch unseren Blick auf die Welt.