Unausweichlich sind die wenigsten Dinge, die Liebe aber gehört ganz gewiss dazu. Die Liebe ertrage und glaube, hoffe und dulde alles, komme was da wolle. Ungefähr so beschrieb der Apostel Paulus das höchste der Gefühle den Korinthern. Was aber muss das für eine Liebe sein? In seinem fulminanten Roman »Die Vergangenheit« beschreibt der Argentinier Alan Pauls die Liebe zweier Menschen als exzessiv, zerstörerisch und unausweichlich.
In seinem ergreifenden Roman Die Vergangenheit geht der Argentinier Alan Pauls dieser Frage nach. Darin zeichnet er die Geschichte des Übersetzers Rímini nach, der sich nach zwölf Jahren Ehe von seiner Frau Sofía trennt und einen Neubeginn versucht. Bei dem Versuch bleibt es, denn die Leben von Rímini und Sofía scheinen in galaktischer Tiefe miteinander verbunden. Egal ob Arbeits-, Drogen-, Liebes- oder Sexrausch – sein Leben rauscht inhaltsleer an ihm vorbei. Die obsessive Konstante heißt Sofía. Es ist dabei weniger die chronologische Nachzeichnung einer irgendwie gearteten Verbundenheit, als deren schicksalhafte Ausweglosigkeit, die Pauls’ Roman seine hemmungslose Kraft und Stärke verleiht.
Pauls Roman teilt sich in vier namenlose Teile. Man könnte sie in der Reihenfolge ihrer Lektüre mit Die Basis, Der Exzess, Die Flucht und Das Museum betiteln. Sie beschreiben in Etappen das sich mit der Zeit und den Umständen wandelnde Verhältnis von Rímini und Sofía, das alle Stadien durchläuft, die man sich zwischen Liebe, Hass und Wut vorstellen kann.
Anfangs bilden beide das perfekte Paar. Selbst eine Kurzaffäre Sofías mit einem gemeinsamen Freund scheint dem Wesen ihrer Liebe nicht schaden zu können. Es führt sie eher noch enger zueinander, bis sie schließlich eine Art Idealzustand der Liebe verbindet. »Ihre ganze Loyalität schuldeten sie der Situation, den Idealen der Situation: Liebe, Vertrauen, Nähe, Achtung, Wahrhaftigkeit – jenen Attributen der Vollkommenheit, für die zu lieben, Lanzen zu brechen, alles aufzugeben, sie bereit waren.«
Doch wie es so oft mit Idealen ist, können sie dieses Stadium nicht lange aufrechterhalten. Rímini beginnt im Stillen an dieser scheinbaren Perfektion zu leiden. Sofía hingegen richtet beiden ein Leben im Ökosystem der perfekten Liebe ein, aus der Rímini schließlich nur noch ausbrechen kann, um sich selbst zu spüren. Doch selbst im Moment der Trennung wahren beide das Bild der perfekten Liebe. »Die Trennung war nicht das Jenseits der Liebe, sie war ihre Grenze, ihr Gipfel, die Innenseite ihrer Außenhülle.«
Keiner von beiden kann diese Außenhülle tatsächlich durchdringen. Rímini, der seine Freiheit gesucht hat, gelingt dies noch viel weniger als Sofía. »Die (gemeinsame) Vergangenheit«, die beide miteinander teilen, lässt sie nicht nur nicht mehr los, sondern holt beide immer wieder ein. Um diese Vergangenheit herum hat der 1959 in Buenos Aires geborene Literat Alan Pauls eine Geschichte arrangiert, die atemberaubender nicht sein könnte. Alles, was er dazu benötigt, ist die Verbindung von Rímini und Sofía sowie die in den Jahren nach der Trennung sich ereignenden Begegnungen und Auseinandersetzungen. Alan Pauls kommt ohne soziales, politisches oder philosophisches Beiwerk aus, um dieses sensible Buch über die schicksalhafte Liebe zweier Menschen zu schreiben.
Rímini stürzt sich nach der Trennung von Sofía in einen Rausch aus Arbeit und Betäubung der Sinne. In den drogenberauschten Momenten bricht Sofia, einer Naturgewalt gleich, immer wieder in seine Existenz ein. Sie erreicht ihn mit einem Brief in den Tiefen seiner Depression. Darin schreibt sie: »Ich will nicht mit dem Schuldigen sprechen, der Leben mit Fliehen verwechselt, mit sich verstecken, »sich schützen« vor dem, was er liebt (und was ihn liebt). ich will (weil ich ihn kenne, weil er mir leid tut, weil er vor allem da ist) mit dem Unschuldigen sprechen, der mit sieben Jahren (Du warst doch sieben, oder?) mit seiner Neugier die Nachmittage erleuchtete und sich die Schuhe staubig machte. Wenn er noch lebt, wenn es ihn noch gibt (und das glaube ich allerdings), möge er dreimal an das Foto klopfen und ich werde ihm aufmachen.« Hier wird deutlich, die Rollen sind klar verteilt: Rímini, der Zerstörer und Sofía, die jedem Naturgesetz zum Trotz weiterhin fürsorglich zu ihm steht.
In Passagen wie dieser wirkt Pauls Buch an der Oberfläche fast simpel und eindimensional, doch in seinen Tiefen lauern die Fallstricke. Etwa wenn Sofía sich den Altlasten dieser »geologischen Liebe« stellt, den in Schuhkisten schlummernden 1564 Fotos, »mit denen zusammenzuleben du mich verurteilt hast.« Oder wenn sie ihn anfleht, endlich einen richtigen Schlussstrich zu ziehen, zu dem sie selbst nicht in der Lage ist: »Schluss Rímini. Lass mich in Frieden, bitte. Gib mir mein Leben wieder.«
Das Schicksal – oder vielleicht doch eher Sofías obsessive Überzeugung, dass sie der gemeinsamen Vergangenheit nicht entkommen können? – führt beide immer wieder zusammen. Ob im Drogenlabyrinth, in froher Erwartung, auf der Flucht oder im Knast – die Lebenswege beider verlaufen wie zwei Haarsträhnen, die zu einem Zopf gebunden sind: Auf Nähe folgt Distanz, dann wieder Nähe usw. In diesem Hin und Her besitzt Sofía zweifelsohne die größere Souveränität. Seit dem Moment der Trennung ist sie Rímini überlegen, da nicht sie die Beziehung beendet hat. Es gehört zum Selbstverständnis ihrer Beziehung, ihm, uneingeschränkt ehrlich und offen zugeneigt gegenüberzutreten. Natürlich hat sie mit dem, was sie ihm sagt, meist Recht. Dennoch oder erst Recht ist man geneigt, dem in Sofías Gegenwart permanent angeschlagen wirkenden Rímini zur Seite zu springen und »Ja, aber …« zu rufen. Aber was nützt das.
Rímini ist diesem Verhalten, dem man durchaus ein gewisses Maß an Übergriffigkeit attestieren kann, geradezu chancenlos ausgeliefert. Mit juvenilem Zorn wehrt er sich gegen das Leben, als müsste er sich für seine Entscheidung, Sofía verlassen zu haben, selbst bestrafen. So wirkt er stets im Leben verloren, wie ein müder Schattenboxer, wann immer sich ihre Wege kreuzen.
Als sich beide nach Jahren der Trennung zufällig in einem Krankenhaus begegnen, verwickelt ihn Sofía in ein Gespräch. Er verspricht ihr ein weiteres Treffen mit seinem Sohn, dessen dramatische Geburt er über das Gespräch fast verpasst. Als es zu diesem Treffen kommt, düpiert Sofía Rímini und entführt aus Eifersucht auf offener Straße das wenige Monate alte Kind. Nach wenigen Stunden bringt sie es der unter Schock stehenden Mutter kommentarlos zurück. Es ist Sofías Ausbruch aus dem jahrelangen Hintanstellen, ihre kalkulierte Rache. Ríminis verliert daraufhin Frau und Kind. Am Ende des Romans schreibt ihm Sofía in einem Brief: »Du hast mir wehgetan, ich habe Dir wehgetan. Wir haben uns in gleichem Umfang wehgetan, wie es nur bei Leuten geschieht, denen nicht zu helfen ist. Es war aus Liebe.«
Allan Pauls großer und tiefgründiger Roman ist voller Leidenschaft und Emotion. Dabei ermächtigt sich der Text des Lesers und ergreift von ihm Besitz, derart intensiv wird die Handlung von Pauls eindringlicher Sprache bestimmt. Immer wieder stellt sich bei der Lektüre ein beklemmendes Gefühl ein, derart physisch rückt dem Leser dieser faszinierende Text auf den Leib.
Pauls Die Vergangenheit kreist um die grundsätzlichen Fragen der Liebe: Wo beginnt sie und an welchem Punkt hört sie auf? Wie intensiv kann Liebe sein und wann schlägt sie ins Krankhafte um? Was kann Liebe aushalten, wo muss sie scheitern? Wie viel Zuneigung und Miteinander sind noch möglich und erlaubt, ist das Band der Liebe erst einmal zerschnitten? Gibt es einen Weg zurück? Wasserpflanzen gleich schlingern diese Fragen auf dem Boden des Pauls’schen Ozeans, in den der Leser mit der ersten Zeile abtaucht. Wie im Tiefenrausch durchpflügt er dann den Grund dieses gewaltigen Romans und bewundert die Schätze, die in der Tiefe dieses Wörtermeeres verborgen sind.
Dass wir dies tun können, ist einmal mehr dem grandiosen Christian Hansen zu verdanken. Nach seiner überragenden Übersetzung von Roberto Bolaños Epos 2666, die hierzulande eine Bolaño-Lesewelle losgetreten hat, eröffnet seine sensible Übersetzung von Die Vergangenheit den Kosmos eines der »größten lebenden Autoren Südamerikas« (Roberto Bolaño über Alan Pauls).
[…] Pauls ist der Ausnahmeautor Argentiniens. Sein fulminanter Roman Die Vergangenheit, erschienen im Herbst vergangenen Jahres, trieb der argentinischen Gegenwartsliteratur neue […]
[…] Pauls ist der Ausnahmeautor Argentiniens. Sein fulminanter Roman Die Vergangenheit, erschienen im Herbst vergangenen Jahres, trieb der argentinischen Gegenwartsliteratur neue […]