Klassiker, Literatur, Roman

Wiederentdeckte Weltliteratur

Bücher, wie dieses, gibt es nur noch wenige. Leonid Dobyčins Lebenswerk »Die Stadt N.« geriet erst in Stalins Vernichtungsmaschinerie und dann in Vergessenheit. Peter Urban hat den avantgardistischen Roman erstmals ins Deutsche übertragen.

Als der Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky 1987 von Studenten an der Harvard-Universität gefragt wurde, wen er für den größten russischen Prosa-Autor halte, nannte er einen Namen, mit dem niemand etwas anfangen konnte. Leonid Dobyčin heißt der Schriftsteller, dessen Werk seither Stück für Stück wiederentdeckt wird.

Die gerade erschienene deutsche Erstausgabe von Die Stadt N., dem Hauptwerk des russischen Avantgardisten, gehört zu jenen Büchern, bei denen es sich lohnt, mit dem Nachwort zu beginnen. Dabei ist das Nachwort von Übersetzer und Herausgeber Peter Urban weniger eine haarkleine Deutung der knapp 150 Seiten, die man vor sich hat, sondern vielmehr eine Anregung, zurückzublättern und mit dem Lesen zu beginnen. Dennoch sollte man einen Moment in diesem Text verweilen, denn Urban bietet darin zahlreiche Leseanregungen und lenkt den Blick auf die unzähligen Querverweise Dobyčins auf die ganz große Literatur.

Da sind zunächst die russischen Avantgardisten wie Gogol, Dostojewski, Puschkin oder Tschechow. Es finden sich aber auch Hinweise auf die großen europäischen Literaten, versteckt in Zitaten oder Anspielungen. So fallen Bemerkungen zu Zola und seiner Streitschrift J’accuse in einem Nebensatz zur Causa Alfred Dreyfus, auf den polnischen Nationalliteraten Mickiewicz wird über den aus seinem Nationalepos Pan Tadeusz übernommenen Vornamen Jankel verwiesen und selbst Kipplings Dschungelbuch findet in einem Buchgeschenk seinen Platz. Aber nicht nur in Bezug auf die zahlreichen Anspielungen auf diese Ausnahmekünstler in der europäischen Literaturgeschichte ist Dobyčins Roman ein semantisches Meisterwerk. Jeder Satz ist von tiefgehendem Sinngehalt, jedes Wort bedeutungsschwer aufgeladen.

Dobyčin schrieb an diesem Roman insgesamt sieben Jahre. 1928 begann er die Arbeit an diesem sensiblen, feinfühligen Werk, das zu Recht als sein literarisches Vermächtnis bezeichnet wird. Aus der Perspektive eines anonymen kindlichen Erzählers lässt er darin das Leben in der lettischen Kleinstadt Dünaburg (Dvinsk, jetzt Daugavpils) im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vor dem inneren Auge des Lesers entlanggleiten. Er beschreibt eine Zeit, in der von den großen weltpolitischen Umwälzungen, die der russisch-japanische Krieg, die innenpolitischen Unruhen in Russland, Industrialisierung und technische Revolution hervorriefen, in der Provinz wenig ankommt. Demzufolge ist das Leben in Dobyčins Roman auch geprägt vom naiv-kleingeistigen Denken der bourgeoisen Bewohner.

Durch diese Welt schweift Dobycins Erzähler, der trotz seines jugendlichen Alters ganz in die Sprache der Erwachsenenwelt eingetaucht ist. Statt einfacher, womöglich auch nicht ganz korrekter Formulierungen verwendet er komplizierte Nebensatz- und Infinitivkonstruktionen, um seine Beobachtungen und Erlebnisse so erwachsen wie möglich zu kommentieren – denn Dobyčins heranwachsender Erzähler sucht die Anerkennung durch die bürgerliche Welt, die ihn umgibt.

Leonid Dobyčin-Die Stadt N
Leonid Dobyčin: Die Stadt N. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort versehen von Peter Urban Friedenauer Presse 2009. 228 Seiten. 22,50 Euro. Hier bestellen

Als der Roman 1935 veröffentlicht wird, zerreißt ihn die staatsnahe Literaturkritik. Als »zutiefst feindliches Werk« und »reaktionär« bezeichnete der Literaturfunktionär Dobin Die Stadt N. in Anwesenheit des Autors auf einer Tagung des Leningrader Schriftstellerverbandes. Die Kritik richtete sich primär gegen die feudalistische Welt, die Dobyčin in seinem Roman wiederauferstehen ließ. Doch darin lag gar nicht sein eigentliches Anliegen. Diese war mehr oder weniger nur Mittel zum Zweck.

Das Hauptinteresse des Autors galt dem der Sprache. Denn stilistisch orientierte sich Dobyčin keineswegs an den Lesegewohnheiten des einfachen Proletariats und linientreuen Sowjets. Sein Stil ist die Realität gewordene Absage an das von allen Sprachfreuden gesäuberte und zur Effektivität verdammte Behördensprech – George Orwell wird es später »Neusprech« nennen – des stalinistischen Regimes. Zugleich ist es die Form gewordene Ablehnung des sinnlosen Erzählens, dem es an Struktur, Ziel und Inhalt fehlt (wie es uns heute so oft begegnet).

»Fabulieren ja, aber bitte mit Niveau!«, scheint der Russe mit seinem daher nicht einfach zu lesendem Roman sagen zu wollen. Indem Dobyčin schweift und flaniert, statt zielstrebig über die Feinheiten der Sprache einem Ziel entgegenzueilen, stellt er den Stalinismus mit seiner lebensfeindlichen Ideenlosigkeit und Unkultiviertheit bloß. Kein Wunder also, dass die Werke des russischen Avantgardisten erst in die vernichtende Maschinerie der stalinistischen Kritik und dann lange Zeit in Vergessenheit gerieten. Dobyčin selbst verschwand nach der besagten Tagung spurlos. Sein Tod ist bis heute ungeklärt, seine Leiche wurde nie gefunden.

Die Stadt N. von Leonid Dobyčin ist ein grandioses Stück Literatur, in dem jedes Wort bewusst gesetzt wurde und keine Silbe als bloßes Schmuckwerk daherkommt. Darin liegt die Kunst des Romans und die Bewunderung seines Autors begründet. Der Erzähler mäandert hier zwar von einer Anekdote zur nächsten, er greift diese Ausschnitte aber immer wieder kunstvoll auf und fügt sie zu einer Einheit zusammen. Erst in der Verbindung der zahlreichen blitzlichtartigen Segmente entsteht dieses beeindruckende Panorama einer Zeit.

Dobyčins Lebenswerk ist bei aller Kürze kein Roman für den Sonntagnachmittag. Es ist ein höchst anspruchsvolles Werk, auf das man immer wieder zurückgreift, um die Lektüre in Ruhe und Gelassenheit zu genießen und wirken zu lassen. Und gelangt man dann erneut bei Peter Urbans Nachwort an, gibt dieser genug Anregung, um sogleich zurückzublättern und sich an diesem Wunderwerk der Weltliteratur erneut zu begeistern.