Die Gerichtsreporterin Raquel Erdtmann zeichnet in ihrem Buch Aufstieg und Sturz des jüdischen Finanzrats Joseph Süßkind Oppenheimer nach und rollt den antisemitischen Schauprozess neu auf.
Spätestens Lion Feuchtwangers Roman »Jud Süß« hat den württembergischen Finanzrat und Geschäftsmann Joseph Süßkind Oppenheimer deutschlandweit bekannt gemacht. Für die Gerichtsreporterin Raquel Erdtmann war die Hauptfigur des Romans »seit der Kindheit ein spitzer Stein in meinem Schuh«, nicht nur, weil das Verfahren gegen den Hofjuden eine Farce war, sondern weil die Nazis diese skandalöse Geschichte zu ihren Zwecken ausschlachteten. Nun will sie selbst »die Quellen sprechen lassen« und hat ein akribisch recherchiertes und lebendiges Buch über den antisemitisch motivierten Justizmord verfasst.

Oppenheimer galt als enger Vertrauter von Herzog Karl Alexander von Württemberg. Als dessen Hoffaktor erhielt er nicht nur exklusive Einblicke in das Finanzwesen des Kleinstaats, sondern auch den Auftrag, den maroden Haushalt zu sanieren. Seine Reformversuche waren oft umstritten, auch weil sie Adel und Beamtenschaft empfindlich treffen sollten. Allerdings konnte man dem Finanzexperten sachlich nicht an die Wäsche, sein guter Ruf, seine Verbindungen zu lokalen Eliten und seine akkurate, den Vorgaben verschriebene Geschäftsführung ließ kaum Raum für Kritik.
Erdtmann zeigt, wie sich Antisemitismus und höfische Intrigen zu einer Verschwörung gegen den Finanzexperten addierten, derer sich Oppenheimer sehr wohl bewusst war. In Heidelberg, Mannheim und Frankfurt baute er sich eine Parallelexistenz auf, um sich im Notfall in seine dortigen Residenzen zu flüchten. Doch als sein Schutzherr stirbt, fehlt die Zeit, die Flucht zu ergreifen. Er wird umgehend festgenommen und in einem juristischen Schmierenprozess zum Tode verurteilt und gehängt.
Die Gerichtsreporterin der FAZ und der ZEIT zeichnet die Farce des Verfahrens akribisch nach und beruft sich dabei auf die Gerichtsakten, Korrespondenzen und Enteignungsurkunden, die mehrere Regalmeter füllen. Dabei zeichnet sie den Prozess nicht isoliert nach, sondern ordnet ihn in die Verhältnisse im 18. Jahrhundert ein. Das macht ihre Fallstudie zugleich zu einem lesenswerten Sachbuch über den institutionalisierten Antisemitismus jener Zeit.

Im Zentrum aber steht der Justizmord, der nicht Ergebnis eines ordentlichen Verfahrens, sondern Resultat einer antisemitischen Verschwörung war. Die Verteidigung Oppenheimers wurde kaum gehört, das Geständnis wurde mehr oder weniger erzwungen. Zu den antisemitischen Volten des Justizskandals gehört auch, dass nicht nur der Chefankläger seinen Tod forderte, sondern auch geschäftliche Konkurrenten und das gemeine Volk. Sie alle machten ihn zum Sündenbock der damaligen Verhältnisse. Oppenheimers verwesende Leiche wurde nach der Hinrichtung noch sechs Jahre lang öffentlich ausgestellt.
Erdtmanns Duktus ist wissenschaftlich nüchtern, ohne didaktisch zu werden. Der Reporterin gelingt es auf Basis der historischen Akten, ein lebendiges Porträt des umstrittenen Finanzgenies zu zeichnen, der zwischen die Räder von Antisemitismus und Günstlingswirtschaft geraten ist. Zugleich entwirft sie ein Sittenbild der Zeit, in der jüdisches Leben permanent unter Generalverdacht stand. Raquel Erdtmanns Schilderung eines Justizskandals (in dessen Tradition die Dreyfus-Affäre steht) ist ein nachgereichtes »J‘accuse«, das nicht nur Oppenheimers unrechtmäßige Verurteilung vor Augen führt, sondern auch die Barbarei des Antisemitismus in den deutschen Fürstentümern des 18. Jahrhunderts vor Augen führt.