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Die Dialektik der Ethik

Statt zu Wolfgang Hubers religiösem Seminar über ethische Grundfragen sollten sich ernsthaft an Ethik interessierte Menschen lieber an den beigelegten Klassiker von Ottfried Höffe halten.

Dem ehemaligen EKD-Präses Wolfgang Huber kann man keinen Vorwurf machen. In seinen Ausführungen zu den Grundfragen unseres Lebens in der Ethik-Vorlesung für die ZEIT-AKADEMIE ist er grundehrlich: »Meine Überlegungen stützen sich auf die evangelische Gestalt christlicher Ethik«, heißt es in der Einführung und der aufmerksame Studierende weiß sofort, woran er ist. Luthers »Hier stehe ich, ich kann nicht anders!« gilt für den Vorzeige-Kirchenmann Huber in gleichem Maße.

Hubers religiös motiviertes Seminar in 16 Akten wurde im Gewand eines neutralen Ethik-Seminars auf den Markt gebracht. Ein durchaus dreistes Unterfangen, schließlich entspricht Hubers ethische Grundausrichtung keineswegs einem gesellschaftlichen Konsens. Als Berliner Landesbischof machte er die Pro Reli-Kampagne zu seinem höchstpersönlichen Anliegen und verfocht die These, dass es nicht hinnehmbar sei, dass ein staatlicher Ethikunterricht einer Ethik ohne Gott den Vorrang vor einer Ethik mit Gott gebe. Damit gingen er und die Initiatoren gehörig baden.

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Wolfgang Huber: Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens. 4 DVDs. ZEIT-AKADEMIE 2012. 489 Min. 149,- Euro. Hier bestellen

In seinen Vorlesungen und den anschließenden Interviews mit ZEIT-Redakteurin Elisabeth von Thadden dreht er nun, mit freundlicher Unterstützung der Hamburger Wochenzeitung und ihrem akademischen Ableger, den Spieß um. Ausgangspunkt seiner Rundreise durch das Leben ist Immanuel Kants Grundfrage »Was soll ich tun?«. Folgt man Hubers Argumenten, ist der Mensch nicht wie bei Jean-Jacques Rousseaus »frei geboren«, sondern lebt in den göttlichen Ketten der ihm anvertrauten Freiheit. Huber spricht daher von einer Verantwortungsethik. In deren Mittelpunkt steht die Würde des Menschen, der er ein christliches Menschenbild zugrunde legt.

Die Ausgangsfragen der Vorlesungen gehen stets ins Grundsätzliche: »Gibt es eine Schwangerschaft auf Probe? Wollen wir den perfekten Menschen? Gibt es ein Recht auf Gesundheit? Was hinterlassen wir unseren Kindern? Was ist der Zweck der Wirtschaft? Wie viel Verschiedenheit halten wir aus? Wann ist es Zeit für den Tod?« Typische Kanzelfragen, die Pfarrer zu Beginn ihrer Predigt der Gemeinde vortragen, um ihr in Folge die kirchlichen Positionen rhetorisch ausgefeilt nahezulegen. Den Verkündigungsauftrag des Pfarrers hat Huber in seiner Vorlesung nicht abgelegt. Die Dialektik seiner Argumente macht er nicht zum Thema. Schade, denn das verbaut die Möglichkeit einer intellektuellen Auseinandersetzung.

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Wolfgang Huber: Von der Freiheit. Verlag C.H.Beck 2012. 238 Seiten. 12,95 Euro. Hier bestellen

Gleiches gilt für seine soeben unter dem Titel Von der Freiheit erschienenen »Perspektiven für eine solidarische Welt«. Der Grundgedanke, Freiheit verkomme ohne die christliche Verantwortungsethik zur Diktatur, zieht sich auch hier durch den gesamten Text. Aus humanistisch-säkularer Perspektive lesenswert erscheint vor allem das letzte Kapitel, in dem Huber seine Gedanken zu den neuen Religionskonflikten und staatlicher Neutralität ausbreitet. So reibt man sich u.a. die Augen, wenn er davon spricht, dass sich die Kirchen ihrem Bildungsauftrag auf neue Weise stellen würden. Es käme schließlich nicht von ungefähr, dass sie zu den größten Trägern von Kindergärten gehören und sich ihre Schulen einer großen Nachfrage erfreuen würden. Dass dies weniger auf die christliche Pädagogik sondern vielmehr auf den Reflex von Behörden, öffentliche Einrichtungen selbst bei Widerständen an die Kirchen zu vergeben, zurückzuführen ist, verschweigt Huber.

Für sich sprechen Hubers Ausführungen zur christlichen Kultur in Europa. Die Menschenrechte werden resakralisiert, weil sie Impulsen zu verdanken seien, »die unlöslich mit dem christlichen Bild vom Menschen zusammenhängen«. Dass diese Impulse mindestens ebenso mit dem Menschenbild der griechischen und römischen Philosophen verbunden sind, verschweigt Huber. Er geht sogar noch weiter und kritisiert den Hinweis des Konvents für eine Europäische Verfassung hinsichtlich der religiösen Überlieferungen für die Präambel. »Die abstrakte Rede von religiösen Überlieferungen, denen die humanistischen Überlieferungen noch betonend nachgestellt sind, relativiert die christliche Prägung Europas allzu sehr. Es entsteht der Eindruck, dass das kulturelle Gedächtnis Europas im Wesentlichen auf Aufklärung und ihre griechische Vorgeschichte reduziert wird.«

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Otfried Höffe: Lesebuch zur Ethik. Verlag C.H.Beck 2012. 454 Seiten. 12,95 Euro. Hier bestellen

Man kann dies religiöse Propaganda oder Kirchenlobbyismus nennen. Wie auch immer, es ändert nichts daran, dass Huber hier die Deutungshoheit über das Prägende in Europa für sich beansprucht, die er im Christentum sieht.

Nach all dem greift man dankbar zu dem lange Zeit vergriffenen und nun der Huber’schen Video-Vorlesung beigelegten Lesebuch zur Ethik von Ottfried Höffe. Dieses Werk vermag in seiner Reichhaltigkeit den kritischen Konsumenten ansprechen und intellektuell herausfordern. Höffe hat darin Texte zur Ethik aus verschiedenen Kulturkreisen versammelt, die den Leser auf eine höchst spannende Reise von der Antike bis zur Neuzeit schicken. Huber hätte Höffe konsultieren sollen, denn dann hätte er auch erfahren, dass mit Widerspruch rechnen muss, »wer der Moral Macht einräumt, ohne sie postwendend als Ohnmacht zu entlarven.« Dieses Lesebuch ist nicht nur ein wunderbares Überblicks- und Nachschlagewerk, sondern bietet sich als Ausgangspunkt einer intellektuellen Lesereise durch Geschichte und Kulturen an, auf der der Leser von den wichtigen Fragen des Mensch-Seins begleitet wird.