Ein überwältigter Paul Klee schreibt am 7. April 1914 in sein Tagebuch: »Die Sonne von einer finsteren Kraft. Die farbige Klarheit am Lande verheißungsvoll. Der Macke spürt das auch. Wir wissen beide, dass wir hier gut arbeiten werden«. Wenige Stunden zuvor ist er gemeinsam mit August Macke und Louis Moilliet in Tunis angekommen. Die Orientreise der drei Expressionisten vor 100 Jahren gehört zu den großen Momenten der Kunstgeschichte.
»Einen schönen Gruss aus dem Lande Africa schickt Dir Dein Paul. Wir haben zu drei eine Kunstreise unternommen.« Die drei Personen, von denen Paul Klee in seiner Postkarte an seine Tante mütterlicherseits Louise Frick berichtet, sind er selbst sowie die Maler August Macke und Louis Moilliet, die im April 1914, wenige Monate vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, gemeinsam nach Tunesien reisen.
Als »Tunisreise« wird ihre gemeinsame Unternehmung in die Annalen der Kunstgeschichte eingehen. Der entsprechende Bildband zur Reise ist seit den 1980er Jahren ein stiller Klassiker im deutschen Kunstbetrieb. Zuletzt war er zwei Jahre lang vergriffen. Nun ist er anlässlich der am 15. März eröffneten Ausstellung zum 100-jährigen Jubiläum der Künstler-Reise im Berner Zentrum Paul Klee in einer neuen verbesserten Auflage erschienen – mit allen, während der Reise angefertigten Aquarellen, Zeichnungen und Skizzen, kunsthistorischen Analysen der Nachwirkung der Reise auf dem neuesten Forschungsstand, mit Auszügen aus dem Tagebuch von Paul Klee, Postkarten und Briefen der beiden deutschen Künstler sowie den von August Macke während der Reise angefertigten Fotos. In dieser fulminanten Aufarbeitung bieten Ausstellung und Bildband Anlass, erneut an die Reise und ihre Bedeutung zu erinnern.
In Tunesien geraten August Macke und Paul Klee innerhalb von wenigen Tagen in einen wahren Schaffensrausch, verschiedentlich ist sogar von einem Malerwettstreit die Rede. Angetan vom Licht und den Farben gelingen Paul Klee während des zweiwöchigen Ausflugs über 30 Aquarelle und zahlreiche Zeichnungen, August Macke hält seine Eindrücke in nur unwesentlich weniger Aquarellen und fast 80 Zeichnungen, verteilt in drei Skizzenbüchern, fest. Einzig der Schweizer Maler Louis Moilliet war auf der Reise nicht so produktiv wie seine Kollegen, von ihm sind aus den tunesischen Tagen nur die Aquarelle und elf Zeichnungen bekannt. Auf seiner bereits vierten Tunesienreise stand für ihn weniger das Arbeiten als vielmehr das gemeinsame Erleben der Fremde im Vordergrund. Seine wichtigsten Werke sollte er später in Marokko und Spanien zeichnen.
Die beiden deutschen Expressionisten waren sich ihrer außerordentlichen Situation wohl bewusst. August Macke schrieb an seine Frau Elisabeth vier Tage nach der Ankunft in Tunis: »[…] Wir liegen in der Sonne, essen Spargel etc. Dabei kann man sich herumdrehen und hat Tausende von Motiven, ich habe heute schon sicher 50 Skizzen gemacht. Gestern 25. Es geht wie der Teufel, und ich bin in einer Arbeitsfreude, wie ich sie nie gekannt habe. Die afrikanische Landschaft ist noch viel schöner wie die Provence. Ich hätte mir das nie vorgestellt. […] Ich glaube, ich bringe kolossal viel Material heim, was ich dann in Bonn erst verarbeiten muss.«
Wie überwältigt die Künstler von den Eindrücken und Erlebnissen ihrer zweiwöchigen Rundreise waren, wird in einem weiteren Tagebucheintrag von Paul Klee deutlich. Die drei Künstler sind seit knapp einer Woche in Tunesien, als sie Zeuge eines malerischen Sonnenuntergangs werden. Klee stößt an seine Grenzen und macht dennoch Fortschritte: »Natürlich versage ich dieser Natur gegenüber. Aber ich weiss doch etwas mehr, als vorher. Ich weiss die Strecke von meinem Versagen bis zur Natur. Das ist eine innere Angelegenheit für die nächsten Jahre.«
Tatsächlich hallt die Tunisreise im Werk von Paul Klee noch lange nach. In Tunesien scheint er so etwas wie einen Erweckungsmoment gehabt zu haben, der ihn von allen malerischen Konventionen befreite und ihm die Entschlossenheit verlieh, seinen Empfindungen nachzugehen. In seinem Tagebuch liest man: »Ich lasse jetzt die Arbeit. Es dringt so tief und mild in mich hinein, ich fühle das und werde so sicher, ohne Fleiss. Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer, ich weiss das. Das ist der glücklichen Stunde Sinn: ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler.«
Diese Erkenntnis und Klees anschließender Durchbruch haben der Reise in der Kunstgeschichte eine geradezu mythologische Bedeutung verliehen. Dabei wissen wir heute, dass Klee den Schlüsselsatz »Die Farbe hat mich.« wohl erst Jahre später beim Kompilieren seiner Aufzeichnungen zu einem Reisetagebuch hinzugefügt hat. Der Künstler selbst wollte der Reise im Nachhinein die Bedeutung verleihen, die er vorher wohl nicht in der Form wahrgenommen hat. Anders ist auch seine nüchtern gehaltene Karte an seine Tante nicht zu erklären.
Auch die kunsthistorische Deutung, Klees farbenfrohe, ornamentalen Gemälde der Folgejahre hätten ihren Ursprung in der gemeinsamen Reise mit Louis Moilliet und August Macke, gehört zum Mythos »Tunisreise«. Ein kritischer Blick in Klees Werk zeigt, dass er die bildnerischen und farblichen Möglichkeiten, die in den Tunesien-Werken zum Tragen kommen, schon in den Monaten vor seiner Reise erarbeitet hat.
August Macke fiel nur Monate nach seiner Rückkehr aus Tunis im Herbst 1914 an der französischen Front. In den wenigen Wochen, die ihm blieben, vollendete er einige Werke auf der Grundlage von Skizzen und Fotografien in einer Sicherheit und Kunstfertigkeit, die staunen ließe, wenn er sie denn in den zwei Wochen in Nordafrika entwickelt hätte. Doch auch er konnte auf zuvor angeeignete Techniken und Vorarbeiten zurückgreifen. Dennoch gilt für ihn (aufgrund des frühen Todes), dass die Tunesienreise als Referenz für Höhepunkt und Vollendung seines Werkes herangezogen werden kann.
Die »Tunisreise« ist als Kristallisationspunkt eine der bedeutendsten Reisen in der frühen Moderne. Die Gemälde und Skizzen, die Paul Klee, August Macke und Louis Moilliet während der gemeinsamen Tage angefertigt haben, zeigen den Schritt aus der Gegenständlichkeit hinaus in die Welt des Abstrakten, in der Farben und Flächen zu den entscheidenden Bedeutung tragenden Elementen werden. Einhundert Jahre nach der Reise erinnern das Zentrum Paul Klee und ein komplexer Bildband an diesen Meilenstein der modernen Kunstgeschichte.
Die Ausstellung Die Tunisreise. Klee, Macke, Moilliet ist vom 15. März bis 22. Juni im Zentrum Paul Klee in Bern zu sehen.