Der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten Philosophen Deutschlands. In seinem aktuellen Buch »Über Grenzen denken« diskutiert er verschiedene Fragen der Migration unter ethischen Gesichtspunkten. Warum müssen wir über die Steuerung der Migration gerade jetzt nachdenken? Wieso ist eine großzügige Aufnahmepolitik ebenso naiv wie das Schließen der Grenzen? Wie können Ethik und Realpolitik wieder miteinander versöhnt werden. Ein Gespräch mit dem Münchener Professor für Philosophie und politische Theorie.
Herr Nida-Rümelin, die Flüchtlingssituation entspannt sich, Normalität kehrt in den bundesdeutschen Alltag ein, die einwanderungskritische AfD verliert an Zustimmung. Warum sollen wir jetzt über die ethischen Aspekte der Migration nachdenken?
Ich glaube, dass Sie mit Ihrer Einschätzung falsch liegen. Die AfD gerät gegenwärtig in eine –hoffentlich anhaltende – Krise, die damit zusammenhängt, dass die beiden großen Parteien wieder miteinander streiten. Es geht um eine Richtungsentscheidung im Herbst. Politische Auseinandersetzung tut der Demokratie gut, ihr Ausbleiben schadet ihr. Das sieht man aktuell in Österreich, wo die rechtspopulistische FPÖ Zulauf erhält, während die große Koalition weiterregiert. Aber auch in der EU, wo eine All-Parteien- und All-Staaten-Regierung in der Kommission regiert und eine echte Opposition im Parlament fehlt. In Deutschland entsteht derzeit wieder eine Spannung und prompt dünnt es an den Rändern sofort aus.
Das Ausdünnen an den Rändern hat also nichts mit dem nachlassenden Einwanderungsdruck zu tun?
Hier muss man genau hinschauen. Wenn es im Augenblick relativ wenig Zuwanderung nach Deutschland gibt, dann hängt das mit Entscheidungen zusammen, die Deutschland gar nicht getroffen hat. Die Visegrád-Staaten haben die Schließung der Balkan-Route beschlossen und den Flüchtlingsstrom quasi im Alleingang fast zum Erliegen gebracht. Wohlgemerkt fast, denn es sind allein im vergangenen Jahr immer noch über 200.000 Menschen nach Deutschland gekommen. Aber erst diese Entscheidung der Visegrád-Länder und keineswegs die Politik der Bundesregierung hat den Flüchtlingsdeal mit der Türkei möglich gemacht. Ich persönlich erwarte künftig nur noch geringfügig Zuwanderung aus den Bürgerkriegsregionen, also aus Syrien, Irak oder Libyen. Das subsaharische Afrika ist meines Erachtens der Hauptquell der Migration der Zukunft. Darauf ist jedoch niemand vorbereitet.
Sie unterscheiden in Ihrem Buch die ethischen Aspekte der Migration je nach Wanderungsform. Warum ist die ethische Bewertung von Armuts-, Kriegs- und Wirtschaftsmigration wichtig?
Zunächst einmal ist es wichtig, einzuräumen, dass die Übergänge, etwa zwischen Armuts- und Wirtschaftsmigration, in der Praxis fließend sind. Dennoch ist die Differenzierung wichtig. Denn wir haben weltweit ein Armuts- und Elendsproblem gewaltigen Ausmaßes. Bei 720 Millionen Menschen, die chronisch unterernährt sind, bei über 600 Millionen Menschen ohne Zugang zu Trinkwasser, bei 1,56 Milliarden Menschen, die im letzten Jahr von weniger als 2 US-Dollar Kaufkraft am Tag lebten – stellen Sie sich das einmal vor, das sind 1.500 Millionen Menschen – darf man sich nicht mit Sonntagsreden beruhigen. Bei solchen Dimensionen kann kein Mensch mit Verstand ernsthaft die Strategie verfolgen, das Elend der Welt durch eine großzügige Aufnahme von Flüchtlingen zu lindern. So beliebt dieses Mittel auch ist, es scheitert an den Realitäten.
Inwiefern?
Man muss es nur einmal durchrechnen. Selbst wenn die reichsten Länder der Welt einen sprunghaften Bevölkerungszuwachs von zehn Prozent akzeptieren würden, dann wären wir bei einer Größenordnung von 80 bis 100 Millionen Menschen. Das ist aber immer noch nur ein Bruchteil der im Weltelend feststeckenden Menschen. Dazu kommt, dass die Kosten einer solchen Strategie mutmaßlich sehr hoch sind und Rechtspopulisten diese Verhältnisse für ihre Zwecke nutzen würden. Das heißt, die Antwort auf das Weltelend kann nicht »Grenzöffnung« oder »Aufnahme von Flüchtlingen« heißen. Das ist also ein völlig illusorisches Programm und scheitert an den Quantitäten und Realitäten.
Wirtschaftsmigration halten Sie wiederum für machbar? Warum dieser Unterschied?
Es gibt hier ein Interesse der Industriestaaten, die Fehler, die sie gemacht haben, durch Migration ausgleichen wollen. In Deutschland fehlen beispielsweise Krankenschwestern und Pflegekräfte, weil eine zu massive Verschiebung in den akademischen Bereich stattgefunden hat. Dazu kommen die Folgen des demografischen Wandels, eine überalterte Gesellschaft. Mit diesen Herausforderungen haben auch andere Staaten zu kämpfen. Sie haben ein großes Interesse an einer gesteuerten, an den eigenen Bedürfnissen und den wirtschaftlichen Möglichkeiten ausgerichteten Zuwanderung. Und es gibt sehr viele, hochqualifizierte Menschen im so genannten globalen Süden, in Südostasien, Südamerika und teilweise auch in Afrika, die eine solche Chance, wenn sie denn besteht, für sich nutzen würden. Diese Wirtschaftsmigration hat für die Herkunftsländer allerdings eine zum Teil katastrophale Folge. Sie verlieren ihre fähigsten Köpfe, man spricht deshalb vom Braindrain. Die besten der dort Ausgebildeten sehen zu, dass sie möglichst schnell nach Amerika oder Westeuropa kommen. Und weil sie dort gebraucht werden, freut man sich dort, dass sie kommen. Anders wäre das System schon jetzt kaum mehr aufrechtzuerhalten.
Sie appellieren in Ihrem Buch an die Verantwortung der aufnehmenden Staaten.
Das ist richtig. Wir können doch nicht die Entwicklungsanstrengungen dieser Länder kaputtmachen, indem wir die Sahne abschöpfen und uns achselzuckend über die Folgen in den Herkunftsregionen hinwegsetzen. Deshalb bin ich der Ansicht, dass wir eine Steuerung der Migration benötigen. Viele westliche Staaten brauchen Einwanderung, dazu zählt auch Deutschland. Aber dann bitte so, dass die Länder, aus denen diese Menschen kommen, darunter nicht leiden müssen. Es muss also Kompensationszahlungen oder Ähnliches geben, um mindestens die Ausbildungskosten und die Verluste durch den Weggang dieser Menschen auszugleichen. Aber hier versagt Deutschland bis heute, weil insbesondere die Konservativen immer noch abstreiten, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und deshalb einem längst überfälligen Einwanderungsgesetz ihre Zustimmung verweigern.
Das klingt alles recht wirtschaftsorientiert. Wir haben doch aber nicht nur ein Eigeninteresse, sondern auch eine humanitäre Verantwortung.
Für Bürgerkriegsflüchtlinge gibt es einen völkerrechtlichen Rahmen, die Genfer Flüchtlingskonvention. Wir gehören dieser Konvention an und haben uns daran zu halten. Der Geist dieser Konvention besagt, dass die unterzeichnenden Staaten verpflichtet sind, Menschen, die vor Bürgerkrieg und Krieg fliehen, Schutz zu geben, und zwar so, dass nach Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen eine Rückkehr in die Region problemlos möglich ist. Das wiederum spricht für eine regionale Unterbringung, so wie es aktuell in Jordanien, Libanon und der Türkei gehandhabt wird. Die Türkei hat über drei Millionen syrische Flüchtlinge gegenwärtig im Land. Aber die Weltgesellschaft muss bereit sein, die Kosten, die eine solche grenznahe Unterbringung verursacht, wenigstens zu einem großen Teil zu tragen. Das war sie lange Zeit nicht. Das war der eigentliche Auslöser der Flüchtlingsdrucks gewesen, wie er 2014 und 2015 auch hier zu spüren war.
Haben Sie den Eindruck, dass sich, was die Verantwortungsbereitschaft der Weltgesellschaft betrifft, gerade etwas ändert?
Zurückblickend bin ich skeptisch, denn sowohl die Gesinnungs- als auch die Verantwortungsethik scheinen mir in der Krise zu stecken. Zumindest kann ich weder ein besonderes Verantwortungsbewusstsein der europäischen Institutionen noch eine moralische Festigkeit in den europäischen Gesellschaften erkennen. Man muss hier unterscheiden. Der öffentliche Diskurs über die Flüchtlingsthematik ist schlichtweg entgleist, er wurde von rechts erfolgreich instrumentalisiert. Aber auch der so genannte links-liberale Mainstream litt an einem gewissen Maß an Realitätsverweigerung. Es ist deshalb zunächst notwendig, mehr Rationalität in die Diskussion zu bringen. Nur so werden Ressentiments vermieden und verhindert, dass die Rechtspopulisten mit diesem Thema ihr Süppchen kochen. Und weil sich die Situation etwas entspannt hat – wie im Sommer die Lage im Mittelmeer ist, wird sich erst noch zeigen –, ist jetzt der beste Moment, um darüber nachzudenken, wie wir Migration steuern wollen. Ist es ein vernünftiges Konzept, alle Grenzen zu öffnen? Oder ethnisch und kulturell homogene Staaten zu schaffen, wie es Orban in Ungarn probiert? Das sind doch beides keine tragfähigen Modelle. Mein Buch versteht sich als Versuch, hier einen vernünftigen Mittelweg zu finden. Quasi ein klärender Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit.
Wo verläuft denn der goldene Mittelweg zwischen pauschaler Grenzschließung und allgemeiner Grenzöffnung?
Wir leben gegenwärtig in einer Welt weitgehend geschlossener Grenzen. Der September 2015 und die Wochen danach waren eine absolute Ausnahme. Nicht einmal die USA sind ein Staat, der die Grenzen geöffnet hat. Unter der Präsidentschaft von Barack Obama wurden jährlich zwischen 200.000 und 400.000 Menschen nach Mexiko abgeschoben. Unter Trump wird sich das noch einmal massiv verschärfen. Ich bin deshalb der Meinung, dass die Welt eher mehr als weniger Migration verträgt, aber diese Migration muss nach den Interessen der Herkunftsländer, der Migrierenden und der aufnehmenden Gesellschaften politisch gesteuert sein.
Welches Steuerungsinteresse können die aufnehmenden Länder jenseits des demografischen Wandels und der Arbeitsmarktpolitik noch haben?
Ein soziales! Es kann doch nicht sein, dass diese Gesellschaften eine Spaltung zwischen unten und oben einfach so hinnehmen. Momentan erleben wir, dass diejenigen am unteren Ende der Einkommenspyramide die negativen Folgen der Einwanderung zu spüren bekommen, weil sich ihre Viertel verändern oder ihre ohnehin schon niedrigen Löhne durch die billige Konkurrenz noch weiter sinken, während sich die Mittelschicht und die Vermögenden über günstige Haushaltskräfte und Kindermädchen freuen und sich die anderen Folgen aber weitgehend vom Hals halten. Mir scheint das aber wirtschaftlich so gewollt. Mir erzählt niemand ernsthaft, dass die USA nicht in der Lage wäre, über zehn Millionen unangemeldete Einwanderer zu registrieren. So schlecht kann die öffentliche Verwaltung gar nicht sein. Ich vermute eher, dass das beabsichtigt ist, um einen Billigstlohnsektor zu kreieren.
Ethik und Realpolitik stehen sich aktuell geradezu konträr gegenüber, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei macht dies besonders deutlich. Welche Grundlagen müssten geschaffen werden, um eine Versöhnung beider Sphären möglich zu machen?
Ich glaube, wir müssen einen Paradigmenwechsel erreichen. Die nötige Zusammenarbeit für eine gerechtere Welt kann nicht zu einem wesentlichen Teil durch Migration erfolgen. Statt einer Entwicklungspolitik der offenen Türen braucht es fairere Welthandelsbeziehungen in einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung. Das wird teuer, vor allem für die Industrieländer. Denn momentan schottet sich der EU-Agrarmarkt beispielsweise ab und unterdrückt jegliche Konkurrenz aus den Entwicklungsstaaten. Das muss sich ändern, wollen wir das Problem der globalen Ungerechtigkeit ernsthaft einer Lösung entgegenführen.
Inwiefern war Angela Merkels humanitär-trotziges »Wir schaffen das!« ethisch bedenklich?
Ich glaube, dieser Satz war eine Art Selbstermutigung. Ich vermute, dass dieser Satz auch ein Impuls des Augenblicks war. Sie sah, dass die Situation in Ungarn unerträglich geworden war und sah sich in der Pflicht, zu reagieren. Sie hat dann überstürzt reagiert. Auf den einen oder anderen Tag, an dem man eine europaweite Abstimmung der Regierungschefs hätte vornehmen können, wäre es nicht mehr angekommen. Deshalb war der Vorgang sicher kein Beispiel großer Staatskunst, aber die Öffnung selbst ist – auch aus heutiger Sicht – ethisch absolut verständlich. Den Impuls, den paar tausenden, die in Ungarn gestrandet waren, zu helfen, kann man absolut nachvollziehen.
Und dennoch lief danach einiges schief.
In den Folgemonaten gab es gefährliche Botschaften. Aussagen wie »Im 21. Jahrhundert lassen sich Grenzen nicht sichern.« oder »Der Staat kann das nicht kontrollieren.« hätten nicht fallen dürfen. Denn der Staat muss die Kontrolle behalten können, sonst bekommen die Menschen Panik. Zumal weiterhin behauptet wurde, dass die Außengrenzen der EU gesichert werden müssen. Wie soll das gehen, wenn man sich vorher hinstellt und sagt, dass sich Grenzen im 21. Jahrhundert grundsätzlich nicht mehr sichern lassen würden.
Schaut man sich die Grenzsicherungsmaßnahmen weltweit an, dann muss man die Forderung des Grenzschutzes doch zwangsweise als gesellschaftlichen Rückschritt an Menschlichkeit und Humanität deuten.
Es gibt in meinen Augen eine massive Schieflage, wenn wir über Grenzsicherung sprechen. Da bekommt man den Eindruck, Grenzen würden nur noch durch Zäune, Mauern und Schussanlagen gesichert werden können. Ich würde ganz einfach behaupten, dass die beste Methode, Grenzen effektiv zu sichern, eine gut funktionierende öffentliche Verwaltung ist. Die Menschen kommen ja nach Europa oder in die USA, um zu arbeiten. Dafür brauchen Sie eine Arbeitsgenehmigung und müssen irgendwo gemeldet sein. Für den Fall, dass sie Schutz suchen oder nicht arbeiten können, brauchen sie die Unterstützung der Sozialbehörden. Dann können zwar immer noch einige Kleinkriminelle ihr Unwesen treiben, aber das ist ja nicht das Gros der Immigranten. Nur winzige Teile landen in der Drogenkriminalität, der Großteil der Einwanderer will hier besser leben als in den Herkunftsregionen oder flüchtet vor Krieg und Verfolgung. Wenn also die öffentlichen Verwaltungen funktionieren, sind auch die Grenzen gesichert, was allerdings – eine bittere Pille – bedeutet, dass diejenigen, die illegal im Land sind und kein Bleiberecht haben, wieder gehen müssen. Das ist wiederum mit Bildern verbunden, die nicht angenehm sind.
Ist das eines der ethischen Dilemmata, von denen Sie in Ihrem Buch sprechen?
Nein, das nicht, aber es gibt bei der Betrachtung der internationalen Migration tatsächlich mindestens eines, wenn nicht sogar mehrere echte Dilemmata. Man unterscheidet in echte und unechte Dilemmata, wobei es sich bei einem echten Dilemma um Situationen handelt, bei denen wir, was immer wir auch tun, Schuld auf uns laden. Das Paradebeispiel dafür nennt sich »Sophies Choice«. In diesem Szenario wird eine Mutter vom KZ-Aufseher aufgefordert, eines ihrer Zwillingskinder ins Vernichtungslager zu schicken, um das andere zu retten. Es gibt in dieser Situation keine richtige Entscheidung. Was immer die Mutter tut, sie wird Schuld auf sich laden. Ähnlich missliche Lagen gibt es bei der Migrationsthematik ebenfalls.
Welche sind das?
Menschen, die sich auf einem Staatsgebiet aufhalten, genießen, unabhängig davon, ob sie Staatsbürger sind oder nicht, den vollen Schutz der Menschenrechte. Sie dürfen diesbezüglich nicht schlechter behandelt werden als andere Menschen in diesem Staatsgebiet auch. Deshalb sind Versuche, die Standards der Flüchtlingsversorgung abzusenken, an den Verfassungsgerichten immer wieder gescheitert. Neben diesem territorial begrenzten Schlechterstelllungsverbot gibt es ein globales Gleichbehandlungsgebot gegenüber den Hilfsbedürftigen. Diejenigen, die unserer Hilfe am stärksten bedürfen, kommen aber gar nicht erst zu uns. Diejenigen, die es über die transkontinentale Migration bis nach Europa schaffen, sind in ihren Herkunftsregionen fast immer die relativ Bessergestellten. Die wirklich Armen, die von zwei Dollar Kaufkraft am Tag leben müssen, können die tausenden Dollars Transferkosten gar nicht aufbringen. Wir machen uns also etwas vor, wenn wir meinen, wir helfen hier den Ärmsten der Armen. Das sind zwar Menschen, die aus unserer Sicht meist bettelarm sind, in Eritrea oder im Senegal gehören Sie aber nicht zu den Ärmsten in der Gesellschaft.
Wie sollten wir uns denn dann verhalten?
Wenn wir eine Hilfspflicht haben, sollten wir nach dem Gleichbehandlungsprinzip denen mehr helfen, die auch mehr Hilfe bedürfen. Wir müssen unsere Anstrengungen aber auch auf die konzentrieren, die es bis in unsere Gesellschaften schaffen, um sie hier nicht schlechter zu behandeln. Dann benachteiligen wir aber sofort und implizit diejenigen, die in den Herkunftsländern geblieben sind. Das ist ein echtes Dilemma, das nicht so einfach aufzulösen ist. Deshalb plädiere ich für den bereits erwähnten Paradigmenwechsel. Die Bekämpfung des Weltelends muss durch eine sozialere, gerechtere, fairere und humanere Weltwirtschaftsordnung erfolgen und nicht vorrangig durch eine großzügige Aufnahmepolitik.
Ich stimme Ihrer Analyse nur zum Teil zu. Diejenigen, die sich auf den Weg nach Europa machen, finanzieren das selten nur mit eigenen Mitteln. Meist legen ganze Familien und Clans zusammen, um ein Mitglied auf die gefährliche Reise zu schicken. Deshalb sind es meist auch Männer, die hier ankommen, weil diese mit höherer Wahrscheinlichkeit die Strapazen einer Saharadurchquerung und der Mittelmeerüberquerung überstehen.
Das ist korrekt, das belegen auch die Daten, die ich mir angeschaut habe. In der Tat bringen meist ganze Gruppen oder Sippen die Kosten für eine solche Reise auf. Aber ich bleibe dabei: 8.000 US-Dollar sind in solchen Regionen eine Menge Geld, die nicht jede Sippe aufbringen kann. Diejenigen, die es schaffen, sollen dann Gelder zurücküberweisen, um die Familien in der Heimat zu ernähren. Dieses Investitionsmodell verstehe ich, aber die Hoffnung dahinter geht in den seltensten Fällen auf. Denn in Italien, Spanien und Griechenland wartet man nicht auf ungelernte Hilfskräfte aus Afrika. Diese Länder haben eine Jugendarbeitslosigkeit von 40 Prozent und mehr zu bewältigen. Immigranten, die in diesen Ländern stranden, können meist nichts in ihre Heimatländer zurücküberweisen und aus Schamgefühl auch nicht zurückkehren.
In einer Gesellschaft, die ins Schwarz-Weiß-Denken verfallen ist, scheint es mir nicht ohne Brisanz, sich gegen offene Grenzen auszusprechen. Haben Sie keine Angst, mit Ihren Argumenten in die rechte Ecke gestellt oder von rechtspopulistischen Kräften missbraucht zu werden?
Das gehört zum Schicksal der public intellectuals, Urteilskraft hat eben ihren Preis. Letztlich wäge ich Dinge – vielleicht auch für andere – miteinander ab und lande am Ende meist irgendwo zwischen den Stühlen. Mir ist das schon mehrfach so gegangen. Vor Jahren habe ich mich gegen die vorherrschende Meinung gegen die immer weitere Akademisierung ausgesprochen. Inzwischen sehen das viele genauso, weil in den Lehrberufen sowie in der mittelständischen Wirtschaft der Nachwuchs fehlt und viele Akademiker keine guten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt haben. Damals aber haben mich einige in Ecken gestellt, in die ich nicht gehöre. Das kann bei diesem Thema auch passieren. Aber ich hoffe, mit meinem Ansatz einer gerechteren Weltordnung zu zeigen, dass ich da nicht hingehöre. Ich frage in meinem Essay nach der kosmopolitischen Perspektive und der Rolle von Staatlichkeit. Brauchen wir überhaupt Staatlichkeit? Ich denke schon. Brauchen wir dann die Nationalstaaten? Naja, zumindest solange, wie wir keine Institutionen haben, die sie in ihrer Rolle ersetzen.
In ihrer Vision für eine Politik der globalen Gerechtigkeit sprechen sie auch über die Rolle von Wirtschaftsabkommen und den Einfluss transnationaler Konzerne? Was können diese zu einer gerechteren Welt beitragen?
Unternehmen haben ein Interesse an Arbeitskräften, die hier fehlen. Die Herkunftsländer haben wiederum ein Interesse daran, dass die Menschen, die sie ausgebildet haben, entweder bleiben oder ihnen die Ausbildungskosten, die sie aufgebracht haben, erstattet werden. Internationale oder bilaterale Rahmenverträge, wie sie die Wissenschaftlerin und Philosophin Gillian Brock vorschlägt, könnten das regeln. Bei der Aufteilung sollte man fairerweise auch die Arbeitnehmer in die Pflicht nehmen, die von solchen Abkommen durch die Vervielfachung des Einkommens profitieren, aber auch die Unternehmen, die diese Arbeitskräfte einsetzen. Und nicht zuletzt die aufnehmenden Staaten, die damit ihr demografisches Problem einhegen. Warum sollen diese drei Akteure nicht jeweils einen Teil von dem zu zahlenden Betrag an die Herkunftsländer aufbringen? Die Herkunftsländer können dank einer solchen Ausgleichszahlung die Abwanderung viel leichter verkraften, weil sie das Geld in weitere Bildungsanstrengungen investieren können.
Warum sollte eine humane Migrationspolitik in einer inhumanen Gesellschaft erfolgreich sein?
Es gibt die globalen Millennium-Ziele der Vereinten Nationen, von denen es immer heißt, wir wären auf dem richtigen Weg. Wenn man aber genau hinschaut, wird deutlich, dass der Prozentsatz der absolut Armen nur deshalb abnimmt, weil die Weltbevölkerung insgesamt zunimmt. Die tatsächliche Zahl der Armen ist jedoch kaum zurückgegangen. Zugleich muss ich aber einräumen, dass es in einigen Bereichen Entwicklung gegeben hat. Nehmen Sie nur die Lebenserwartung, die in den vergangenen Jahrzehnten beträchtlich gestiegen ist. Das ist schon ein Indiz, dass es den Menschen besser geht. Die medizinische Versorgung in den Elendsregionen hat massiv zugenommen. In China hat sich sozio-ökonomisch ebenfalls viel getan. Die Welt ist insgesamt in Bewegung.
Dann sind wir beim Stichwort der Globalisierung angekommen. Können wir Menschen verwehren, was wir Waren und Wirtschaftsgütern erlauben, nämlich den unbegrenzten Verkehr?
Die Frage muss doch lauten: Wohin geht das? Löst sich alle Staatlichkeit auf und wir haben am Ende einen chaotischen Welt- und Finanzmarkt, der die Staaten in Abhängigkeit hält? Hier sage ich ganz klar, dass das nicht sein kann. Es braucht im Weltmaßstab das Primat der staatlichen Strukturen, die das Weltchaos verhindern und Mindeststandards einer halbwegs gerechten und fairen Arbeitswelt aufrechterhalten. Wir würden in Europa beispielsweise nie die Ausbeutung von Kindern auf dem Arbeitsmarkt dulden, importieren aber massenweise Handys und Jeans, die nur deshalb so billig sind, weil sie mit Kinderarbeit hergestellt wurden.
Mit diesen billigen Produkten wird die Unterschicht ruhig gestellt? Durch demonstrativen Konsum können die Abgehängten das Gefühl der Ungerechtigkeit verdrängen.
Die schlechte soziale Entwicklung hat tatsächlich zur Folge, dass die unteren Einkommensschichten quasi nicht mehr am Wirtschaftswachstum partizipieren. Das wird kompensiert durch Billigimporte, die unter grausigsten Bedingungen produziert worden sind. So etabliert sich eine doppelte Ungerechtigkeit: die zwischen Arm und Reich in den Industriegesellschaften, in denen die Abgehängten mit Billigprodukten zum Schweigen gebracht werden. Und die Ungerechtigkeit in den Entwicklungsländern, wo man Menschen in einem Abhängigkeitsverhältnis hält. Hier liegt die eigentliche Herausforderung unserer Zeit und nicht in der Aufnahme eines geringen Prozentsatzes der Ärmsten der Welt in den Industriestaaten.
Herr Nida-Rümelin, vielen Dank für das Gespräch.