Comic

Urgestein der Bande Dessinée

Der Schöpfer von »Spirou und Fantasio«, »Gaston« und dem »Marsupilami«, einer der Gründungsväter des europäischen Comics, der Belgier André Franquin, wäre am 3. Januar 2024 einhundert Jahre alt geworden. Anlässlich des Jubiläums erleben seine Arbeiten ein prächtiges Revival.

Es gibt nicht viele Autoren, von denen man sagen könnte, dass sie den europäischen Comic »erfunden« haben. Sicherlich gehören René Goscinny und Albert Uderzo, die Schöpfer von »Asterix«, dazu. Gewiss auch Hergé, der mit »Tim und Struppi« die Ligne Claire etablierte. Ebenso sicher aber sind André Franquins Figuren und Strips mit ihrem anarchischen Humor und den teilweise sehr aufwändigen Zeichnungen Grundpfeiler einer Kunstform, die sich endgültig nach dem zweiten Weltkrieg etablierte. Franquins Art, Neues auszuprobieren und anzupacken, ist dabei wohl grundlegend gewesen.

Gaston von Franquin | © 2022 Dupuis, Dargaud-Lombard, by Franquin, all rights reserved

Franquin kommt 1924 im belgischen Etterbeek zur Welt – genau so wie vor ihm Georges Rémy, der spätere Hergé. Sein Vater legt ihm die spätere Karriere unwillentlich in die Wiege: Der Bankangestellte ist so sehr auf Seriosität bedacht, dass sein Sohn noch viele Jahre später ein großes Bedürfnis hat, andere zum Lachen zu bringen. André zeigt früh großes Talent zum Zeichnen. Der Vater, immerhin, ist davon so begeistert, dass er die wenigen Werke professionell fotografieren und sich 1942 nach dem Schulabschluss seines Sohnes überzeugen lässt, dass dieser auf die École Supérieure des Arts Saint-Luc gehen darf und nicht, wie eigentlich geplant, Landwirtschaftsingenieur werden muss.

Nach eineinhalb Jahren auf der katholischen Schule – auf dem Programm stehen Hagiographie und alte Meister, weiblichen Akte gab es nicht – langweilt sich Franquin allerdings. Im September 1945 fängt er im Trickfilmstudio Compagnie belge d’actualités (CBA) an, obwohl er keine Ahnung von Animation hat und es auch niemand für nötig hält, ihn einzuarbeiten. Bei der Arbeit schließt er Freundschaft mit zwei Kollegen: Da ist zum Einen Maurice de Bevere, der später als Morris »Lucky Luke« erfindet, und zweitens Pierre Culliford, Künstlername Peyo, Schöpfer der Schlümpfe.

Gaston-Sonderausgaben

Das Studio hält nicht lange durch: Nach Kriegsende kommen amerikanische Soldaten nach Belgien und mit ihnen die weit besseren Animationen aus den USA. Mit denen können die anfängerhaften Belgier nicht konkurrieren und Franquin wird arbeitslos. Von Morris erfährt er, dass der Brüsseler Verleger Charles Dupuis noch Zeichner und Autoren sucht und heuert dort an.

Der Zeitpunkt könnte nicht besser sein, denn es bricht ein goldenes Zeitalter des frankophonen Comics an und Brüssel ist ein Epizentrum. Um den Kollegen und Mentor Joseph Gillain, Jijé, etabliert sich eine Gruppe aus Künstlern, die wenig später schon zur allerersten Reihe gehören werden: unter ihnen Franquin, Morris und Peyo. Ihre Werke werden ihnen weltweite Aufmerksamkeit bringen, sie werden zu den ganz Großen gezählt. 1946 aber sind sie noch unbekannt und darauf angewiesen, dass ihnen Jijé einen Raum in seiner Wohnung zum Arbeiten zur Verfügung stellt.

André Franquin: Spirou und Fantasio von Franquin. Carlsen Verlag 2018. 1.200 Seiten. 198,- Euro.

Franquin übernimmt von Jijé die Figuren »Spirou und Fantasio«, die Jijé als Serie im »Journal du Spirou« produziert. Auch hier macht sich Franquin mit Elan an die Arbeit, ohne allzuviel Kenntnis zu haben. Mitten im Heft »Radar le robot«, Seite acht, Feld 4, setzt er die Arbeit fort. Zu Anfang ist der neue Strich noch nicht erkennbar, er entwickelt ihn aber weiter und schafft eine eigene Ästhetik. Dabei ist sein Umfeld sehr hilfreich: der erfahrenere Jijé zögert nicht, den Jüngeren Tipps zu geben, zudem treibt Morris für seinen Cowboy »Lucky Luke« in der Gruppe die effektive Zeichnung von Bewegungen – hier vor allem Schlägereien – voran.

Das »Journal du Spirou«, am 21. April 1938 erstmals erschienen, entwickelte sich mit seinen Helden »Spirou und Fantasio« neben dem franko-belgischen »Tintin« (»Tim und Struppi«) bald schon zum führenden Comic-Magazin in Europa. Mehr noch: mit den beiden Reihen kommt der Comic aus seiner Ecke der »Volksverdummung« heraus und avanciert im frankophonen Raum zur Kunstform. Nirgendwo kann man diese Entwicklung besser verfolgen als in den ersten Ausgaben des Comic-Magazins, das im Laufe des Jahres in einem neuen Gewand neu aufgelegt wird.

Franquin erweitert das Universum um weitere Charaktere: 1951 führt er mit Zantafio einen echten Bösewicht ein, zudem erweitert er das Universum um Figuren wie den Comte de Champignac (Graf von Rummelsdorf) und vor allem um das Marsupilami, das gleichermaßen freundliche und wehrhafte Wesen aus dem Urwald mit dem meterlangen Multifunktionsschwanz. Sein Ausruf »Hubahuba!« war vor zwei Jahren besonders oft zu hören, als das Marsupilami seinen 70. Geburtstag feierte.

André Franquin: Huba! – Eine Marsupilami-Liebesgeschichte. Carlsen Verlag 2024. 64 Seiten. 18,- Euro. Hier bestellen.

Die nächste Serie entsteht letzten Endes durch die Borniertheit der Hausjuristen bei Dupuis: Denn die beharren auf einem Vertrag, der wegen Entscheidungen des Verlags zu Nachteilen für Franquin führt. Der geht 1955 erbost zur Konkurrenz und hebt bei Tintin »Modeste et Pompon« (»Mausi und Paul«) aus der Taufe. Die Serie um einen ungestümen jungen Mann und seine zurückhaltende Freundin wird unter anderem von einem Kollegen mitgetragen, der später mit eigenen Werken berühmt wird: René Goscinny, der Autor der Bücher um den »Kleinen Nicolas«, Szenarist vieler Bände von Morris’ »Lucky Luke«, vor allem aber einer beiden Schöpfer von »Asterix«. Wie gesagt, Brüssel war der Place to be, dort wurden zu dieser Zeit Freundschaften geschlossen, die den Comicmarkt über Jahrzehnte bestimmen sollten.

Zeichnung mit Spirou, Fantasio und dem Marsupilami von Franquin | © 2022 Dupuis, Dargaud-Lombard, by Franquin, all rights reserved

Der Streit mit Dupuis ist bald beigelegt, und Franquin steht bei zwei Verlagen gleichzeitig unter Vertrag. »Gaston«, bislang nur eine Figur unter vielen, wird erweitert und erhält einen eigenen Gag-Halbseiter im Heft. Die Arbeitsbelastung fordert schon bald ihren Tribut: Franquin erleidet 1961 einen Zusammenbruch. Von Depressionen geplagt, kann er erst 1963 seine Arbeit wieder aufnehmen. Er tritt wenig später die Rechte an allen Figuren an den Verlag ab, nur an »Gaston« und am »Marsupilami« behielt er die Rechte. In der Geschichte der »Bravo Brothers« begegnen sich die Welten von »Gaston Lagaffe« und »Spirou und Fantasio« in einmaliger Form.

»Spirou und Fantasio« im neuen Look

Der Bürobote »Gaston Lagaffe« (la gaffe zu dt.: der Patzer, der Fehler) wird mit seinem Antiheldentum zu einer sehr einflussreichen Serie des europäischen Comics, seine Büro-Erlebnisse werden 1966 auf eine ganze Seite ausgeweitet. Es ist vielleicht eine der persönlichsten Serien, ihr Schöpfer erkennt später in der Titelfigur sein Selbstporträt. Franquin nutzt diese Popularität: ab den späten siebziger Jahren kommen im eigentlich unpolitischen Setting zunehmend auch sozialkritische und politische Themen wie Umwelt- und Tierschutz zur Sprache. Es entstehen speziell für Amnesty International und Greenpeace gezeichnete Strips.

Nach wie vor von Depressionen geplagt schafft es Franquin mit »Idées Noires« (»Schwarze Gedanken«), seinem Schaffen einen erneuten Schub zu geben. Die kurzen, einseitigen Gags heben sich mit ihrem tiefschwarzem Humor und der schwarz-weiß gehaltenen Gestaltung deutlich von der im Grunde sehr positiven Welt Gastons ab. Die Serie ist ein gigantischer Erfolg und gilt nicht umsonst mit ihren zeitkritischen, bitterbösen und teilweise surrealen Folgen als eine der wichtigsten Schöpfungen Franquins. Wenn Ende Januar der Sammelband dieser kleinen Geschichten erscheint, ist das einer der vielen Höhepunkte im Franquin-Jubiläumsjahr, das der Carlsen-Verlag mit einer Jubiläums-Edition begeht.

André Franquin: Schwarze Gedanken Gesamtausgabe. Carlsen Verlag 2024. 80 Seten. 22,- Euro. Hier bestellen.

Gleichzeitig ist sie in gewisser Hinsicht der kreative Schlusspunkt im Leben Franquins. Dieser entwickelte noch Serien, zeichnete sie aber immer seltener selber. Die Reihen »Gaston Lagaffe« und »Idées Noires« führt er aber – immer wieder durch Krankheit beeinträchtigt – fort, nachdem ihm eine Gruppe elfjähriger Schüler auf dem Comicfestival in Angoulème 1984 Witze aus Gaston erzählt und ihm so vor Augen führt, dass er mit seiner Arbeit seinen Lesern Freude bereitet.

Der Comic-Schuber enthält fünf querformatige Einzelbände, die in dieser Form noch nicht auf Deutsch erschienen sind. Die fünf Bücher sind eine – inhaltlich – identische Neuauflage von fünf der ersten Gaston-Alben überhaupt, die zwischen 1964 und 1967 im »italienischen« Querformat erschienen sind.

Es wird lange sehr ruhig um Franquin. 1996 aber erscheint das 15. Album von »Gaston Lagaffe« und wird zu einem unglaublichen Erfolg: In weniger als sechs Wochen werden 650.000 Exemplare verkauft. Das ist viel, auch für einen Künstler, der insgesamt mehr als 10 Millionen Alben verkauft und dessen Arbeit ihm den höchsten Orden des Königreichs Belgien, den Ordre de Leopold eingebracht hat.

Das Album wird sein Letztes bleiben: Am 5. Januar 1997, zwei Tage nach seinem 73. Geburtstag, stirbt André Franquin in der Nähe von Nizza nach einem Herzinfarkt. Er hinterlässt seine Frau Liliane, die Liebe seines Lebens, die er immer wieder in seinen Werken auftauchen ließ, und eine Tochter. Und er hinterlässt ein Gesamtwerk, dessen Auswirkungen nicht überschätzt werden können.

André Franquin: Gaston im Schuber. Carlsen Verlag 2024. 320 Seiten. 89,- Euro. Hier bestellen.

Mit ihm geht auch ein Zeuge der Zeit, in der sich das frankophone Comic, die Bande Dessinée, von seinen Wurzeln in der Kinderliteratur befreit hat und von Brüssel in die Welt aufgebrochen ist.