Comic, Interviews & Porträts

Der Mann, der die »Ligne Claire« erfand

Joost Swarte ist Hollands erfolgreichster Comiczeichner. Art Spiegelman und Robert Crumb zählt er zu seinen engen Freunden, Chris Ware fühlt sich von Swartes Stil inspiriert. In den Niederlanden gilt er als Botschafter der Neunten Kunst. Ein Gespräch über Inspiration, klare Linien und produktive Unruhe.

Ihre ersten Comics erinnern stilistisch sehr an Winsor McCays Zeichnungen. Welche Rolle hat er für Sie gespielt?

Absolut, er spielte eine große Rolle für mich. Die phantastischen Abenteuer von Little Nemo in Slumberland haben mich inspiriert wie kein anderer Comic. McCay hat Panel gezeichnet, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Als Halbbelgier – meine Mutter stammt aus Antwerpen – bin ich mit Tim & Struppi und mit Suske und Wiske aufgewachsen. Aber als ich später Winsor McCay entdeckte, habe ich sofort kapiert, dass grafisch noch sehr viel mehr möglich war, als einfach nur ein Papier vollzeichnen.

Sie haben im Laufe der Jahrzehnte eine ganze Welt an Charakterköpfen geschaffen, immer wieder tauchten neue Figuren auf. War es schwer für Sie, einfach nur bei einer oder ein paar Figuren zu bleiben?

Ich weiß nicht. Ja, ich habe viele Figuren ins Leben gerufen, das stimmt. Jopo de Pojo aber war mir immer am nächsten. Mir liegen aber alle meine Figuren am Herzen. Als Autor nimmt man seine unterschiedlichen Lebenserfahrungen und stopft sie in seine Figuren. In Jopo etwa stecken die Erfahrungen, die ich als Jugendlicher gesammelt habe, die Naivität, die Lebendigkeit, aber auch die Niedergeschlagenheit. Momentan arbeite an einem neuen Album, in dem dieser Charakter wieder im Mittelpunkt steht. Das fühlt sich ein wenig so an, als könnte ich meine Jugend zurückholen. Das gefällt mir.

CV1_TNY_06_09_14Swarte.indd

Das heißt, die Figuren sind für Sie so etwas wie Weggefährten oder Freunde fürs Leben?

Das sind sie ganz ohne Frage. Ich nutze sie ja auch, um die Stimmen, die ich in mir trage, nach außen sprechen zu lassen. Beispielsweise nehme ich meine professorale Seite, packe diese in eine Figur und lasse sie sprechen. Daneben gibt es Figuren, denen ich andere Seiten von mir eingeschrieben habe. All diese Stimmen erwecke ich zum Leben und lasse sie miteinander sprechen. So kann ich zumindest in Ansätzen zeigen, was in meinem Kopf vorgeht.

Und irgendeine dieser Stimmen muss den Ausdruck »Ligne Claire« erfunden haben? Wie kam es dazu?

Das hing mit einer Hergé-Ausstellung zusammen, die in Rotterdam organisiert wurde. Ich wurde eingeladen, als Kurator mitzuwirken. In einer Teamberatung ging es um den Katalog und ich sagte, dass wir diesen in vier Teile mit jeweils einem eigenen Titelblatt gliedern sollten. Die Titel der Kapitel sollten nach meiner Vorstellung an die Tim & Struppi-Alben angelehnt sein. Wir hatten also Titel wie Le Lotus Bleu (dt. Der blaue Lotus) oder L’Oreille cassée (dt. Der Arumbaya-Fetisch). Ich dachte damals, dass »La Ligne Claire« gut in dieser Reihe der aussagekräftigen Titel passen würde. Er sollte dem Kapitel vorangestellt sein, in dem Hergés Erben vorgestellt wurden, die eben alle die Eigenschaft teilten, wie ihr Vorbild mit einer klaren Linie zu zeichnen. So kam es dazu, dass mir die Erfindung dieses Begriffs zugeschrieben wird.

Dann haben Sie für sich die »Nouvelle Ligne Claire« erfunden, eine Verbindung des naiven Stils Hergés mit erwachsenen Themen.

Ich würde nicht behaupten, dass ich die »Nouvelle Ligne Claire« erfunden habe. Ich habe einfach nur das weitergemacht, was ich immer machen wollte. Ich würde für mich sogar soweit gehen und sagen, dass man mich nicht einer bestimmten Stilrichtung zuordnen kann, obwohl ich meiner Art, zu zeichnen, sehr treu geblieben bin. Mein Stil ist für mich wie eine zweite Haut, er fühlt sich gut an, also ändere ich nicht allzu viel daran. Zugleich engt er mich nicht ein, er lässt mir die Freiheit, zu spielen, zu variieren. Das gefällt mir, deshalb habe ich ihn gewählt.

2007_08_20-400

Sie haben die Stripdagen, den niederländischen Comicsalon, ins Leben gerufen, sind einer der Gründer des Hergé-Museums in Louvain-La-Neuve und seit wenigen Jahren der Kopf hinter dem Comicmagazin »Scratches«. Wie fühlt es sich an, der Botschafter des niederländischen und flämischen Comics zu sein?

Es ist großartig, ein Riesenspaß. Ich bin so vernarrt in Comics und ich bin umgeben von jungen talentierten Künstlern. Was also sollte schöner sein, als sich für diese Kunst einzusetzen? Natürlich nutze ich dabei meine Erfahrungen, die ich woanders sammle. Ich war immer auf Comicfestivals eingeladen. Dort habe ich mich umgeschaut und gefragt, wie und wofür das alles organisiert wird. Als es dann in Amsterdam darum ging, ein Comicfestival ins Leben zu rufen, fing ich an, mit vielen Leuten zu sprechen. Zwei Jahr später hatten wir dann unser Festival in Amsterdam-Haarlem, es besteht bis heute. Ähnlich läuft es, wenn man ein Magazin machen will. Man beginnt, mit Leuten zu sprechen, die sich mit Publikationen auskennen, um eine Idee davon zu bekommen, wie das Geschäft läuft. Es gibt so viele junge Künstler in Holland und Belgien – wegen der gemeinsamen Sprache kann man hier von einem Markt sprechen –, die mit ihren kreativen Arbeiten in die Öffentlichkeit wollen. Sie kommen aus unterschiedlichen Zeichentraditionen, aber ich dachte irgendwann, dass es weise wäre, diese Künstler zusammenzuführen. Daraus wurde das Magazin Scratches, das einmal im Jahr erscheint. Es gab also immer etwas rund um Comics zu tun. Und weil ich viele Leute aus der Szene in aller Welt kenne, scheine ich derjenige zu sein, der diese Botschafter-Rolle ausfüllen sollte.

Neben Ihren Comicarbeiten arbeiten Sie als Illustrator unter anderem für den New Yorker und sind als Designer für Möbel und Bleiglasfenster aktiv. Reicht Ihnen nur das Comiczeichnen nicht?

Wenn Sie so wollen!? Man kann das schon so sagen. Comics sind ein fantastisches Medium. Man hat Texte, Dialoge und Bilder, alle können für sich eine Geschichte erzählen, die zusammen- oder auseinanderlaufen, miteinander oder gegeneinander wirken können. Für gute Künstler gibt es hier so viele Möglichkeiten, Comics sind einfach ideal, um Geschichten zu erzählen. Doch schon als junger Künstler habe ich mich nach vier-, fünfhundert gezeichneten Seiten gefragt, ob ich das nun mein ganzes Leben lang machen will. Wollte ich wirklich tagein tagaus hinter einem Schreibtisch sitzen und Figuren zeichnen? Ich dachte mir, ich sollte wenigstens mal etwas anderes probieren, wenn jemand mit einer anderen Idee auf mich zukommt. Ich hatte nie den Anspruch, einen riesigen Stapel an Comics zu zeichnen. Vielmehr wollte ich zehn originelle Werke haben, als mich immer wieder zu wiederholen. Der Grundgedanke war der: Ich werde das Leben leben, wie es auch mich zukommt, und das sollte mich dann wiederum für meine Comics inspirieren. Genauso ist es dann auch gekommen.

CV1_TNY_08_10_15Swarte.indd

Als ich das erste Mal ihre Bleiglasfenster gesehen habe, musste ich umgehend an Chris Ware und seine akkurat gezeichneten Arbeiten denken. Ware hat in den USA auch eine Sammlung ihrer Arbeiten herausgegeben. Zugleich lässt die Vielfalt ihrer Arbeiten, die ständige Suche nach neuen künstlerischen Ufern an junge Künstler wie Brecht Evens oder Brecht Vandenbroucke denken. Fühlen Sie sich manchmal wie ein Gründungsvater einer neuen, vor allem flämischen Comicschule?

Nein, das nicht, denn es gibt hier keinen Startpunkt. Das, was Sie heute als Stil wahrnehmen, ist doch in einem langen Prozess entstanden. Es musste sich entwickeln, bewegen. In Europa gab es in den frühen zwanziger Jahren großartige Künstler in Deutschland oder in Frankreich, die als Illustratoren für Zeitungen und Magazine gearbeitet haben. Die Zeitungsillustration war Teil der literarischen Traditionen. Die Entwicklung meiner Generation wurzelt im amerikanischen MAD-Magazin, was wiederum die Underground-Bewegung inspiriert hat, die sich dann international verbreitete und mich genauso beeinflusste wie viele andere Zeichner. Diejenigen, die kopiert haben, haben sich nicht durchgesetzt. Die aber, die sich von der Idee der Underground-Comix, seine eigenen Ideen umzusetzen, haben anstecken lassen, das sind genau diejenigen, die ich spannend und interessant finde.

Auf der Frankfurter Buchmesse werden die niederländischen und flämischen Comics einen großen Teil des Ehrengast-Auftritts ausfüllen. Braucht es diesen Push überhaupt noch? Mir scheint, die Künstler aus der Region sind international recht bekannt.

Allein ich kenne so viele junge Künstler, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätten… Und selbst diejenigen, die verlegt werden, leben nicht rosig. Sie leben in einem relativ kleinen Land mit einem eingeschränkten Leserkreis, die Auflagen sind nicht sonderlich hoch. Natürlich ist es ein Erfolg, überhaupt verlegt zu werden. Aber davon allein kann man nicht leben, denn Comics zeichnen braucht viel Zeit. Deshalb ist es allen zu wünschen, dass der Messeauftritt mehr internationale Aufmerksamkeit und Verkäufe im Ausland bringt.

Für mich war es vollkommen neu, dass in Flandern Comics als Teil der Literatur anerkannt sind und Comicschaffende somit Zugang zu Stipendien und Förderprogrammen haben. Ist es in den Niederlanden genauso?

Naja, es ist ähnlich, aber von einer idealen Situation sind wir noch weit entfernt. Aber ja, in der niederländischen Literaturstiftung gibt es jemanden, der sich der Comickultur annimmt. Die ersten Schritte für Autoren sind also schon gemacht, aber für die Verleger ist es nach wie vor schwierig, eine Förderung zu bekommen. Das könnte besser sein.

Joost Swarte, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview erschien bereits im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2016 auf Tagesspiegel Online.

2 Kommentare

  1. […] gehören René Goscinny und Albert Uderzo, die Schöpfer von »Asterix«, dazu. Gewiss auch Hergé, der mit »Tim und Struppi« die Ligne Claire etablierte. Ebenso sicher aber sind André Franquins Figuren und Strips mit ihrem anarchischen Humor und den […]

Kommentare sind geschlossen.