Gesellschaft, Politik, Sachbuch, Zeitgeist

For the Many, not the Few!

Der Linksintellektuelle Robert Bernard Reich hat mit »Rettet den Kapitalismus« ein hochaktuelles Buch verfasst, das durch seine ökonomische Analyse und seiner politischen Appellation im US-Wahlkampf eine wichtige Rolle hätte spielen können. Weil es das aber nicht tat, muss die Welt nun einen Umgang mit einem Präsidenten finden, der wider aller populistischen Ankündigungen das finanzpolitische Establishment hofiert. Wer glaubt, dass die Armenküchen in den USA unter Donald Trump weniger Zulauf haben werden, täuscht sich.

Robert Bernard Reich gehört zu den einflussreichen liberalen public intellectuals in den USA. Einer, der im Gegensatz zu seinen deutschen Pendants es nicht nur proklamiert hat, in verschiedenen Sektoren zu arbeiten, sondern der es auch tatsächlich getan hat. Der 70-jährige ist aktuell Professor für öffentliche Politik an der Goldman School of Public Policy an der renommierten University of California in Berkeley. Er war aber eben auch zwischen 1993 und 1997 Arbeitsminister im ersten Kabinett von Präsident Bill Clinton. Clinton hatte er bereits 1968 kennengelernt, als beide in Oxford studierten. Bevor Reich schließlich Clintons Chefberater in wirtschaftspolitischen Fragen wurde, hatte Reich zwischen Yale, US-Justizministerium und Harvard hin- und hergewechselt. In seiner Zeit, in der er das Arbeitsministerium leitete, setzte sich Reich vor allem für Programme zur Armutsbekämpfung und für Ausbildungsinitiativen ein. Am Ende der ersten Amtszeit schied Reich aus Clintons Kabinett aus. Er wollte mehr Zeit mit seinem Sohn verbringen. Seine Erfahrungen in der Clinton Administration fasste er seinem Buch Locked in the Cabinet zusammen.

Reich kehrte in die akademische Welt und wurde Professor an der Brandeis University nahe Boston in Massachusetts. Für das Amt des Governors in diesem Staat bewarb er sich im Jahr 2002. Bei den Vorwahlen der Demokraten belegte er den zweiten Platz. Zu Beginn des Jahres 2006 wechselte er wie bereits erwähnt nach Berkeley an die Goldman School of Public Policy.

Robert B. Reich veröffentlichte vierzehn Bücher, eines sogar, in dem er auf seine Körpergröße von 1,50 Meter anspielt, einige andere wurden Bestseller, wie etwa Superkapitalismus – Wie die Wirtschaft unsere Demokratie untergräbt oder Nachbeben – Amerika am Wendepunkt. In Nachbeben erklärt der Autor, wie die wachsende Ungleichheit zur Rezession nach 2008 beigetragen hat und warum deswegen die Erholung der US-amerikanischen Wirtschaft schwierig werden wird. Die Produktivität des Landes ginge zu Lasten der Kaufkraft der Bürger, vor allem der Mittelschichten. Nur durch eine Vermögensumverteilung könne die amerikanische Wirtschaft wieder auf die Beine kommen. So die Thesen dieses Buches.

Diese führt er nun fort in seinem jüngsten Buch Rettet den Kapitalismus. Die Stoßrichtung des Buches wird vor allem durch den Untertitel deutlich: For the many, not the Few. Diese Stoßrichtung hat seit der Wahl Donald Trumps als nächsten US-Präsidenten eine neue Relevanz erfahren. Rettet den Kapitalismus war den beiden Kandidaten der Demokraten bei den Primaries auf den Weg gegeben worden. Reich unterstützte die Anliegen Bernie Sanders, seine Kritik an Hillary Clinton war überdeutlich. Keiner der beiden ist, wie wir nun wissen, Präsident der USA geworden.

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Robert Reich: Superkapitalismus. Campus Verlag 2008. Vergriffen.

Reichs Anliegen und vor allem seine Analyse bleiben aber unangefochten. Aus dieser Perspektive können wir lernen, warum Donald Trump die Wahlen gewinnen konnte, gerade mit großer Unterstützung seitens der Arbeiterklasse und den sozial wie kulturell Abgehängten. Schon in seinem Werk Superkapitalismus, in dem Reich analysierte, dass im vorherrschenden Wirtschaftssystem Personen als Verbraucher und Anleger zunehmend mehr Macht erhalten würden, als Arbeitnehmer und Bürger jedoch immer weniger, stellte er fest, dass das Primat der Ökonomie über die Politik die Demokratie untergrabe. Schon damals forderte Reich das Primat der Politik wieder ein. Nach drei Dekaden neoliberaler Umverteilung von unten nach oben ist nun offensichtlich, dass sich eine Belohnungspolitik für die zehn Prozent der Wohlhabendsten und Privilegiertesten einer Gesellschaft demokratisch nicht auszahlt. The Many können the Few in Wahlen eben überstimmen.

Robert Reich geht von der Hypothese aus, dass der Markt eine zutiefst soziale Konstruktion ist, kein schon immer dagewesenes, naturgegebenes Ding mit eigenen Regeln. Nein, diese Regeln für den Markt wurden geschrieben und sie werden stets neu geschrieben. »Ein Markt – jeder Markt – bedarf des Staats, um Spielregeln sowohl zu formulieren als auch durchzusetzen. … Der Staat mischt sich also keineswegs in den freien Markt ein. Er ist es, der den Markt schafft.« Allerdings, so Reichs Sorge, wurden diese Regeln in den letzten dreißig, vierzig Jahren maßgeblich unter dem Einfluss von Großkonzernen, Wall Street und Superreichen verfasst. Dieser wirtschaftlichen wie finanziellen Elite ist es gelungen, zunehmend politische Macht zu konzentrieren und Einfluss auf die Regeln zu nehmen, nach denen die Wirtschaft spielt. Diese Reorganisation, diese Neuregelung wurden mit dem Diskurs zum freien Markt rhetorisch beschönigt. Freier Markt und Regeln schienen nicht zueinander zu passen. Der Mythos des »freien Marktes« ist deshalb so nützlich, weil sich ihre Macht dahinter verstecken lässt.

Dieser Diskurs war deshalb so erfolgreich, weil er leicht Anschluss an den naiven Glauben an den amerikanischen Traum fand. Einer der zähesten und langlebigsten Mythen der USA. Ein Traum aus den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich die Einkommen der Beschäftigten verdoppelten und die USA die größte Mittelschicht der Weltgeschichte hervorbrachte. Damals gab es das hoffnungsvolle Narrativ, dass Fleiß sich auszahlt, dass Bildung das Ticket zum sozial Aufstieg ist, dass die Regeln fair sind und dass es den eigenen Kindern noch bessergehen wird. Dieses Narrativ klingt heute hohl und leer. Es ist widerlegt durch die Realitäten.

Ein ganzes Kapitel widmet Reich dem »Mythos von der Leistungsgesellschaft«. Soziale Mobilität ist weitgehend verschwunden. Bereits in den 1970er Jahren begannen die Löhne zu stagnieren, obwohl die Produktivität zunahm und das ökonomische Wachstum sich fortsetzte. Aktuell verdient ein durchschnittlicher amerikanischer Haushalt, nach Bereinigung der Inflationsraten, weniger als noch 1989. Mehr als zwei Drittel der US-Amerikaner leben von Lohnzahlung zu Lohnzahlung, ohne die Möglichkeit, Geld zurücklegen zu können oder gar ein wie auch immer bescheidenes Vermögen anzusparen. Zur gleichen Zeit schlugen die Gewinne an der Spitze durch die Decke. 1978 verdienten die Topmanager der größten Unternehmen der USA ungefähr 30 Mal so viel wie ein durchschnittlicher Arbeiter. Heute verdienen sie etwa 300 Mal so viel. Der soziale Aufstieg findet kaum noch statt, der soziale Abstieg für die obersten 20 Prozent ebenso wenig. Sozial sind die USA wie viele andere westliche Staaten blockierte Gesellschaften.

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Robert Reich: Nachbeben. Campus Verlag 2010. Vergriffen.

Nichtsdestotrotz hält sich der Mythos vom sozialen Aufstieg. Der Pew Research Center wertete Anfang 2014 eine repräsentative Umfrage mit dem Ergebnis aus, dass zwei Drittel der US-Amerikaner weiterhin daran glauben, dass harte Arbeit sie nach vorne bringt. 80 Prozent der Befragten erklärten, dass es am eigenen Willen und an der eigenen Anstrengung liegt, erfolgreich zu sein. Mit dieser Haltung werden auch die niedrigen Bezahlungen der Erwerbstätigen legitimiert. Wären sie es wert, würden sie mehr verdienen. Reich fällt es schwer, an dem Glauben festzuhalten, Menschen seien „wert“, was sie verdienen, wenn immer mehr mit einer Vollzeitbeschäftigung nicht genügend verdienen, um sich und ihre Familien über die Armutsgrenze hinauszubringen, während eine andere Gruppe am entgegengesetzten Ende des Einkommensspektrums so reich ist, dass sie bequem von den Zinsen leben können. Reich nennt ein paar Zahlen: Die 26,7 Milliarden US-Dollar an Boni, die 2013 an die Wall-Street Banker ausgezahlt wurden, hätten ausgereicht, die Löhne der über eine Million Vollzeitbeschäftigten zu verdoppeln, die im selben Jahr für den Mindestlohn tätig waren. Diese Form des Wirtschaftens ist nicht gerecht, sie ist nicht sozial, sie ist nicht gerechtfertigt. Sie ist pervers!

Reich gibt sich aber nicht nur mit einer Analyse der bestehenden ökonomischen und finanziellen Umstände der US-amerikanischen Gesellschaft zufrieden. Er möchte die Gegenkräfte wecken, die eine gerechte, eine soziale Form des Kapitalismus wiederbringen. Eine soziale Marktwirtschaft für die USA und weltweit. Damit ist für ihn die wesentliche Herausforderung eher politischer als ökonomischer Art. Es gilt die politische Macht zu reformieren, die die ökonomischen Grundregeln neu bestimmen. Neoliberalismus ist zum einen mit Deregulierung oder besser gesagt mit einer Neuregelung der Wirtschaftsordnung verbunden, zum anderen mit einer Fragmentierung und Privatisierung der Interessen der Arbeiter- und Mittelschichten. So habe, so Reich, der Verlust an kollektiver ökonomischer Macht des amerikanischen Arbeiters den Verlust an politischer Macht zementiert – der wiederum den Verlust an wirtschaftlicher Macht beschleunigt hat.

Beinahe prophetisch klingen die Warnungen des Ökonomen, als er für die Wiederherstellung einer Gegenkraft zu den bestehenden Verhältnissen wirbt. »Die amerikanische Wirtschaft ist zum Scheitern verurteilt, wenn die reichsten 10 Prozent weiterhin alle ökonomischen Profite einstreichen, während die ärmsten 90 Prozent immer ärmer werden. Es ist völlig unmöglich, die amerikanische Demokratie aufrechtzuerhalten, wenn man die Stimme der großen Mehrheit weiterhin ignoriert.« Und weiter: »Es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass die Bruchlinie der amerikanischen Politik sich in den kommenden Jahren von Demokraten vs. Republikaner zu Anti-Establishment vs. Establishment verschiebt.« Nichts Anderes haben wir im Laufe des Wahlkampfes erlebt.

Dieses Moment ist entscheidend: Wirtschaftliche Benachteiligung führt eben auch zu einer politischen wie kulturellen Ausgrenzung. Der Leiter des Washingtoner Büros der Heinrich-Böll-Stiftung Bastian Hermisson hat mit einer vielbeachteten Rede auf dem Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen am 11. November 2016 diese Thesen unterstützt. Hermisson, der den Wahlkampf in den USA hautnah erlebt hat, hat darauf hingewiesen, dass Trumps Sieg nicht nur als Ergebnis wirtschaftlicher Frustration zu begreifen ist. Die weißen Arbeiter, die Trump gewählt haben, gehörten ökonomisch überwiegend der Mittelschicht an. Aber sie seien von vielen im politischen Establishment als »kulturelle Unterschicht« verachtet worden. Irgendwann hätten diese Menschen die Geringschätzung der Eliten in Stolz umgemünzt, verbunden mit der Botschaft: »Wir lassen uns den Mund von euch nicht verbieten.«

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Robert B. Reich: Rettet den Kapitalismus. Für alle, nicht für 1 %. Aus dem Englischen von Bernhard Schmid. Campus Verlag 2016. 320 Seiten. 24,95 Euro. Hier bestellen

Seit dem Wahlsieg Trumps stehen die Verhältnisse in den USA auf dem Kopf. Donald Trump hat gleich beide politischen Parteien erledigt. Die Republikaner sah er von an Anfang als politisches Vehikel, das er am Ende seiner Wahlkampagne kaum noch benötigte. Die Demokraten haben einen Wahlkampf verloren, den sie nie und nimmer hätten verlieren dürfen. Auch diese Partei ordnet ihre Scherben und Robert Reich liest ihr aktuell die Leviten. Um wieder erfolgreich zu werden, um wieder eine glaubwürdige soziale Kraft zu werden, die versteht, an was die USA kranken, darf die Partei der Demokraten sich nicht länger als Repräsentantin der herrschenden Klassen verstehen. Entweder, so Reich, erfinden sich die Demokraten neu, oder es gründet sich eine neue Partei mit dem expliziten Ziel, den Kapitalismus zu retten, indem sie der Mehrheit der Amerikaner die Möglichkeit gibt, von seinem Erfolg zu profitieren.

Die Zeit, über politisches Engagement, über politische Verfahren Einfluss auf eine gerechtere, die Gesamtgesellschaft stärkende Regulierung der Wirtschaft zu nehmen, ist dringend und drängend. Weil die bestehenden Verhältnisse die politischen Strukturen der letzten 70 Jahre an den Rand des Scheiterns und Zusammenbrechens führen. Brexit und die Wahl Trumps sind bereits Realität, weitere Unfälle dieser Art, wie etwa die Wahl Marine Le Pens als französische Präsidentin oder einen weiteren Aufstieg der AfD, sollten wir uns ersparen. Zudem findet mit der Digitalisierung eine Entwicklung statt, die die ungerechte Verteilung des Wohlstands befördert, wie Wolfgang Michal kürzlich in der Wochenzeitung der Freitag deutlich machte. Es wird um die Zahl von Arbeitsplätzen gehen, vor allem aber um die Verteilung von Einkommen und Reichtum. In den bestehenden Strukturen ist davon auszugehen, dass der größte Teil der Bevölkerung von den enormen finanziellen Gewinnen nichts erhalten wird. Auch deswegen wird die entscheidende politische Frage sein, so Reich, wie wir den künftigen Wohlstand verteilen werden. Aber auch bei diesem Thema gilt, dass wir politisch durch die Änderung der Regeln die Weichen in Richtung einer integrativeren Wirtschaft stellen müssen. Ohne die eine oder andere Möglichkeit zur Verteilung der ständig wachsenden Einkünfte einiger weniger Besitzer (und Erben) von erfolgreichen digitalen und anderen neuen technologischen Unternehmen wird die Mittelschicht verschwinden, und der Kapitalismus und die Demokratie, wie wir sie kennen, werden nicht überleben.

Rettet den Kapitalismus ist ein enorm wichtiges Buch, vor allem deswegen, weil die Analyse eine ökonomische ist, der Handlungsauftrag aber ein politischer. Die Zukunft unserer Demokratie dürfen wir nicht Unternehmen (oder einem ganz bestimmten Unternehmer), vermeintlichen Wirtschaftsexperten und auch nicht Politikern überlassen, die marktkonforme Demokratien wollen. Die Wirtschaft, der Markt bestehen nicht einfach so, sie sind soziale, politische Konstruktionen. Sie sind zu ändern. Aber nicht durch einen Like-Button bei Facebook. Gesellschaftliche Veränderungen sind anstrengend, sie kosten viel Engagement, Kraft und Energie. Wir kennen seit ein paar Monaten die Alternativen zu diesen Anstrengungen: Sie heißen Nigel Farage, Donald Trump, Frauke Petry. Meine Zukunft und vor allem die meiner Kinder sollen anders sein. An politischem Engagement kommen wir nicht mehr vorbei. Das zeigt uns Robert Reich. Analytisch in seinem Buch, politisch mit seinem Engagement. Ein großer Mann, ein toller Typ, ein brillanter Intellektueller. In Deutschland bräuchten wir ebenfalls einige von seiner Qualität.