Aufklärerisch, vielschichtig, parteiisch: Comicautor Joe Sacco arbeitet in seiner eindrucksvollen Nahost-Reportage »Footnotes in Gaza« ein dunkles Kapitel der israelisch-palästinensischen Geschichte auf. In Kürze soll der Band auf Deutsch erscheinen.
Es ist die berühmte Frage nach dem Huhn und dem Ei, die immer wieder in den Sinn kommt, sobald man sich dem Nahostkonflikt zuwendet. Die Frage zu stellen, welche der beiden Seiten die Gewaltspirale ausgelöst hat, scheint ebenso naiv, wie es unmöglich ist, sie zu beantworten. Je nachdem, mit wem man spricht, hat der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern eine andere Vorgeschichte, die immer und immer weiter zurückreicht. Vor der politischen Sackgasse, in der sich Israelis und Palästinenser derzeit befinden, liegen der Radikalisierungsprozess auf beiden Seiten seit dem gescheiterten Oslo-Prozess, die Intifadas und die Kriege 1967, 1956 und 1948.
Der Suezkrieg 1956 ist aus dem westlichen Bewusstsein schon nahezu verschwunden, so wie auch die anderen Wegmarken der nahöstlichen Tragödie mit jedem neuen Waffengang in Nahost weiter in Vergessenheit geraten. Der amerikanische Comiczeichner und Illustrator Joe Sacco hat sich dennoch diesem Jahr zugewandt. Denn 1956 sollen in der Rafah, einer Stadt im Gazastreifen israelische Einheiten ein Massaker an Palästinensern begangen haben, als sie nach Soldaten der ägyptischen Armee suchten. Sacco las davon in der Fußnote eines UN-Berichts, von 275 Toten war darin die Rede. Vorausgesetzt diese Zahl stimmt, dann handelt es sich dabei um »das größte Massaker an Palästinensern auf palästinensischem Boden« – Ein Ereignis, dass allenfalls Erwähnung in einer Fußnote fand. Der Geschichte dieser Fußnote widmete Joe Sacco seinen bisher umfangreichsten Comic, den mehr als 400 Seiten starken Band Footnotes on Gaza (deutsche Ausgabe: Gaza).
Sacco ist kein Neuling in Sachen Nahostkonflikt. Schon Anfang der 1990er Jahre besuchte er Israel und die besetzten Gebiete. Seine Eindrücke und Erlebnisse verarbeitete er in zahlreichen Text-Bild-Geschichten, die er 1996 unter dem Titel Palästina, Eine Comic-Reportage herausgab. Mit diesem ersten Comic gewann er den »National Book Award«. Footnotes on Gaza ist dessen Fortsetzung. Zwischen den beiden Nahost-Bänden zeichnete er die mit dem Eisner-Award ausgezeichnete Reportage Bosnien. Joe Sacco gilt er als einer der Begründer des Genres Politischer Comic. Seine Text-Bild-Reportagen sorgen für Aufsehen, da ihre Aussagekraft über die der herkömmlichen Comics hinausgeht. Saccos Werke stehen auf einer Stufe mit denen eines Art Spiegelman oder Jason Lutes.
Sacco konzentriert sich bei der Betrachtung der politischen Situation im Nahen Osten des Jahres 1956 auf den Konflikt zwischen Israel und Ägypten. Aus Ägypten und dem Gaza-Streifen heraus wurde Israel immer wieder von ägyptisch-palästinensischen Freischärlern, den so genannten Fedajin, attackiert. Der noch junge jüdische Staat sah sich außerdem von der Idee des Panarabismus, proklamiert von Ägyptens Staatschef Gamal Abdel Nasser, in seiner Existenz bedroht, so dass Israel begann, konzertiert gegen die Angriffe vorzugehen. Im Schatten der Suezkrise fiel das israelische Militär in den von Ägypten besetzten Gazastreifen ein, um gegen die Fedajin vorzugehen.
Anhand von Augenzeugenberichten und persönlichen Erinnerungen rekonstruiert Sacco in seinem Comic diesen zur Fußnote verkommenen Teil der israelisch-palästinensischen Geschichte. Dabei konzentriert er sich auf zwei Vorfälle in Khan Younis und Rafah, wo bei den militärischen Durchsuchungen dutzende Palästinenser ums Leben gekommen sind.
Ausgangspunkt seiner Dokumentation ist die eigene Recherche in einer von Gewalt und Zerstörung geprägten Umwelt. Sie bildet den übergreifenden Zusammenhang dieser Text-Bild-Reportage. Aus den verschiedenen Perspektiven der Zeitzeugen, Überlebenden und Hinterbliebenen, mit denen er in Gaza gesprochen hat, versucht er einem gigantischen Puzzle gleich ein Gesamtbild der Ereignisse wieder herzustellen. Das entstehende Bild ähnelt dem der Apokalypse. Die Suche nach Mitgliedern der Fedajin artet zu einem wilden Zusammentreiben palästinensischer Männer aus. Ausnahmslos alle Menschen, denen Sacco auf seiner Recherchereise durch den Gazastreifen begegnet, erzählen von Einschüchterungen und Bedrohungen, Schlägen und Körperverletzungen, von willkürlichen Tötungen und Erschießungskommandos.
Detailliert und liebevoll führt Joe Sacco seine Schwarz-Weiß-Zeichnungen aus, die nicht an der Oberfläche halt machen, sondern in die Tiefe gehen und den Raum im Panel gestalten. Text und Bild stehen dabei keineswegs in einem ausgewogenen Verhältnis. Saccos Reportagecomics sind textlastig, ohne Zweifel, aber umso mehr erfahren wir.
Angesichts der ihm zugetragenen, meist schrecklichen Erinnerungen fällt Sacco und seinem Übersetzer Abed eine undankbare Rolle zu. Sie müssen über Plausibilität, Glaubwürdigkeit und historische Relevanz urteilen. Insofern ist das Zusammensetzen des Puzzles auch als eine Art Geschichtsschreibung zu verstehen, die ebenso Kritik wie Anerkennung verdient. Kritik, weil sie keinem wissenschaftlichen Kriterium genügt. Und Anerkennung, weil die Berufung auf die unterschiedlichen Erinnerungen zahlreicher Palästinenser Licht in dieses historische Dunkel bringt. Unstimmigkeiten und Abweichungen von dem bisher Gehörten unterschlägt Sacco deshalb nicht, sondern mutet sie bewusst seinen Lesern zu, als Teil einer psychologischen Wahrheit, die nicht deckungsgleich mit der historischen sein muss. Saccos Geschichtsschreibung eröffnet derart den Zugang zu einem kollektiven palästinensischen Gedächtnis, dessen Grenzen zwischen Fakten und Fiktion durchlässig sind, weil es aus dem Erzählen, Aufnehmen und Aneignen von Erinnerungen hervorgegangen ist. Dabei stellt sich immer die Frage, wo die Wahrheit endet und der Mythos beginnt.
Neben der Ebene der historischen Reportage existiert in Footnotes in Gaza noch die Ebene des aktuellen Zeitgeschehens. Immer wieder kehrt er zum Ausgangspunkt des Comics, seiner Recherchereise zurück, während der er täglich die Folgen der militärischen Besatzung sieht und spürt. Er schildert seine persönlichen Eindrücke vom Leben im Gazastreifen und erläutert die sozialen und politischen Fakten, mit denen die Gazaer täglich konfrontiert sind – angefangen von den innerpalästinensischen Rivalitäten bis hin zu den Zerstörungsaktionen des israelischen Militärs. Permanent kommentieren die Gegenwartsbeschreibungen die historischen Ereignisse und umgedreht.
Spektakulär ist dabei Saccos Umgang mit der Zeit-Dimension, die im Comic meist über Panelgrößen transportiert wird. Sacco überführt dieses Prinzip in andere Strukturen. Die Sprünge zwischen Gegenwart und Vergangenheit bewältigt er, indem er direkt neben die Erinnerungsbilder seiner Gesprächspartner Aufnahmen der Gegenwart stellt. Wo in der Rückschau noch Leichen liegen, ist im Hier und Jetzt ein Parkplatz. Die Schauplätze des Grauens von Gestern wirken heute harmlos und unverdächtig. Im Nebeneinander dieser Bilder bekommt die Erinnerung ihre grafische Realisierung. Sacco zeigt auf diese Art, wie gegenwärtig Geschichte in Palästina ist.
Die Chronologie der Ereignisse in der erzählten Gegenwart wird durch die Rückkehr zu einzelnen Personen vermittelt. Das sie seit dem letzten Wiedersehen ereilte Schicksal spiegelt den Alltag in Gaza. Regelmäßig erlebte Sacco, wie Menschen, die ihn noch wenige Tage zuvor unversehrt in ihr Wohnzimmer eingeladen haben, plötzlich verletzt und ohne Dach über dem Kopf dastanden.
Joe Sacco lässt in seinem Gaza-Band keine Ebene der politischen und gesellschaftshistorischen Aspekte aus, auch wenn er manches, wie etwa die Dimension des Internationalen Kriegsrechts oder das Geschlechterverhältnis im Nahen Osten eher implizit als explizit behandelt. Was er allerdings mit wenigen Ausnahmen auslässt, ist die israelische Perspektive. Nur wenige Panels sind israelischen Aussagen gewidmet, im Anhang findet man noch einige weitere Informationen.
In Palästina fragt eine Israelin den Autoren, ob er sich nicht auch mit der israelischen Sichtweise auf den Konflikt befassen wolle. »Ich habe mein ganzes Leben kaum etwas anderes als die israelische Sichtweise auf den Konflikt gehört«, lautet darin seine Antwort. In seinen Comics gibt der Comicreporter den Überhörten und Ungehörten, die inzwischen verstummt sind, ihre Stimme zurück. Das macht seine Comics lesenswert.
Dieser Beitrag erschien bereits auf den Comicseiten von tagesspiegel.de
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