Joe Sacco reist seit Jahren in die Krisenherde der Welt, um als Comicjournalist vom Schicksal der Menschen zu berichten. Mit »Der Erste Weltkrieg. Die Schlacht an der Somme« hat er ein historisches Panorama vorgelegt, das die Materialschlacht sichtbar macht und zeigt, wie sich das Individuum in der Masse auflöst.
Es war eine groteske Situation, mit der die Besucher des Schlosses in Erlangen Mitte Juni 2014 konfrontiert waren. Wenn sie, vom Schlossplatz kommend, das barocke Bauwerk betreten wollten, mussten sie zuvor an einem überdimensionalen Leporello vorbeigehen, das während des diesjährigen Comicsalons vor der Westfassade des Schlosses aufgestellt war. Auf zwei Meter Höhe und siebzig Meter Breite zeigte es detailreich die Kriegsereignisse am 1. Juli 1916: Soldaten, die fröhlich in den Kampf ziehen, die im Granat- und Kugelhagel fallen und in Massengräbern verscharrt werden. Der 1. Juli 1916 ist der Auftakt der Schlacht an der Somme, die mit über einer Million getöteten, vermissten und verwundeten Soldaten die verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs war. Von den 120.000 britischen Soldaten, die am 1. Juli 1916 die Schlacht an der Somme eröffneten, fielen in den ersten 24 Stunden 60.000 Soldaten dem deutschen Sperrfeuer zum Opfer. Entsprechend ist der Anblick, der sich dem Betrachter bietet, einer des Grauens.
Verantwortlich für dieses erzählende Kriegsgemälde ist der in Malta geborene und in Australien sowie den USA aufgewachsene »Comicjournalist« Joe Sacco. Vor über fünfzehn Jahren hatte ihn ein Freund angesprochen und gefragt, ob er nicht die Westfront in einem breiten Panoramabild zeichnen wolle. Damals schien ihm das Vorhaben zu statisch. Jahre später kam er auf die Idee, den ersten Tag der Schlacht an der Somme zu zeichnen, weil dieser Tag den Ersten Weltkrieg zusammenfasse. Die entstandene Bildgeschichte wurde im Juni in Erlangen in zehnfacher Vergrößerung präsentiert. Als sieben Meter langes und zwanzig Zentimeter hohes Leporello ist das Original unter dem Titel Der Erste Weltkrieg. Die Schlacht an der Somme im Züricher Verlag Edition Moderne erschienen.
Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass sich Sacco, der für seine journalistischen Reportagen aus dem Nahen Osten oder dem zerbombten Ex-Jugoslawien bekannt ist, dem historischen Thema »Erster Weltkrieg« widmet. Ein Blick auf sein fast ausschließlich in schwarz-weiß gehaltenes Gesamtwerk (»Ich weiß nicht, wie man Farben benutzt.«) lässt aber eine Linie erkennen. Als Sacco nach seinem Journalistikstudium keinen passenden Job fand, ging er 1983 nach Malta zurück und begann, Liebesgeschichten zu zeichnen. Wenige Jahre später ging er zum renommierten Comicverlag Fantagraphics Books in Los Angeles und arbeitete am Comics Journal mit.
Anfang der 1990er Jahre war Sacco mehrere Monate in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Die Geschichten, die ihm dort begegneten, hat er in seinem viel gelobten Comicalbum Palästina versammelt, mit dem er den American Book Award gewonnen hat. Anschließend reiste er als Comicjournalist durch die Welt, etwa in die bosnische Enklave Goražde, wo er das bittere Leben der Menschen in der zerbombten Stadt dokumentierte. Für seinen daraus resultierenden Comic Bosnien erhielt er einen der renommierten Eisner Awards. In den folgenden Jahren reiste er für kleinere Aufträge in verschiedene Weltregionen, um von dort Comicreportagen mitzubringen. In Inguschetien hielt er die Situation der tschetschenischen Flüchtlinge fest, aus Indien schickte er eine erschütternde Geschichte über die Situation der »Unberührbaren«, in seiner Heimat Malta dokumentierte er die Situation der afrikanischen Flüchtlinge. Er flog 2005 und 2006 sogar als »embedded journalist« in den Irak, um über den Militäreinsatz der alliierten Truppen zu berichten.
Sacco ist der weltweit einzige Zeichner, der auch für sich beansprucht, Journalist zu sein. Kein Wunder also, dass er das Attentat auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo und deren zeichnende Journalisten nicht unkommentiert gelassen hat. »Immer wenn wir eine Linie zeichnen überschreiten wir auch eine«, schreibt er in seinem lesenswerten und nachdenklichen Minicomic zur Debatte um die Meinungsfreiheit. Als Anhänger der subjektiven und authentischen Berichterstattung setzt er sich in seinen Berichten auch immer wieder selbst in Szene. Dass er dabei Position bezieht, ist für ihn Teil seiner journalistischen Verantwortung. Reporter sollten »neutral und ohne Vorurteile auf der Seite der Leidenden stehen«, schreibt er in einem »Manifest« zum Comicjournalismus, der im die genannten Geschichten versammelnden Band Reportagen abgedruckt ist. Ein Beleg dafür ist auch der 2011 erschienene Band Days of Destruction, Days of Revolt, in dem er gemeinsam mit Pulitzerpreisträger Chris Hedges über die Armut in den USA berichtet. Einige Journalisten kritisieren Saccos Arbeiten als parteiisch, doch ihm ist das egal: »Was die Menschen, die ich gezeichnet habe, von dem Ganzen halten, ist mir wichtiger als jede kritische Besprechung.«
Immer wieder kehrte Sacco in den vergangenen fünfzehn Jahren in den Nahen Osten zurück. Anlass war vor allem die Recherche für den Band Gaza, in dem mit Zeit- und Augenzeugenberichten zwei Massaker rekonstruiert, die die israelische Armee an der palästinensischen Bevölkerung während der Suez-Krise verübt haben soll. 2009 erschien der opulente historische Comicband, in dem er diese Geschichte aufarbeitete und sie der damaligen Situation im Gazastreifen gegenüberstellte. Sacco bewies damit endgültig, dass man die Legitimität von Comics als ernstzunehmendes journalistisches Medium nicht abstreiten kann. In Der Erste Weltkrieg. Die Schlacht an der Somme zeigt er sich nun gleichermaßen als historisch versierter Analytiker.
Als Vorbild für seinen Bilderbogen diente Sacco der Teppich von Bayeux, der auf knapp sieben Metern Länge die Eroberung Englands durch Wilhelm den Eroberer zeigt. Allerdings hat Sacco der »sequenziellen Erzählung« die Sequenz entzogen, indem er die Ereignisse an der Westfront nicht in Einzelszenen, sondern in einem durchgehenden Gesamtpanorama erzählt. Es habe einfach keinen guten Platz zum Anhalten und Luft holen gegeben, sagt Sacco. »Wie die Soldaten muss man immer weitergehen, und weiter und weiter.«
The Great War by Joe Sacco from WW Norton on Vimeo.
Entsprechend ist sein Werk alles andere als eine Momentaufnahme. Sie bildet die Ereignisse des ersten Kriegstages in einer an einem fiktiven Raum ausgerichteten Chronologie ab. Seine Bildgeschichte basiert auf einem zeiträumlichen Kontinuum, das nicht nur von den Linien hinter der Front über die Schützengräben und das Schlachtfeld bis in die Massengräber führt, sondern auch der zeitliche Abfolge vom 30. Juni bis zum 1. Juli 1914 folgt. Der Comic erinnert in dieser Komposition an Alexander Sokurows Film Russian Ark, in dem ein anonymer Erzähler durch den Winterpalast in St. Petersburg und dreihundert Jahre russische Geschichte läuft. Sacco weitet dabei den Blick auf das gesamte Geschehen, indem er es aus der Vogelperspektive zeichnet. So sieht man nicht nur die Ereignisse im Vordergrund, sondern auch in der Entfernung.
Das räumliche Sehen erstreckt sich nicht nur auf die Breite des Panoramas, sondern auch auf dessen Tiefe. So sieht man, wie der britische Oberbefehlshaber General Douglas Haig am morgen vor dem Angriff spazieren geht, während seine Soldaten Gleise für die Truppenversorgung verlegen. Man erblickt tausende Freiwillige, die in langen Kolonnen begeistert Richtung Schützengraben marschieren, während im Hintergrund die britische Luftwaffe die deutschen Stellungen bombardiert. Wie sie in eine Wand aus Staub und Nacht hineinwandern, um im Morgengrauen aus dem Schützengraben zu steigen und ungeschützt ins Sperrfeuer der deutschen Maschinengewehre zu laufen. Tot oder verletzt bleiben unzählige auf dem Schlachtfeld zurück, erst Stunden oder Tage später werden sie in die Gräben zurückgezogen und hinter der Front gebracht, um dort notdürftig versorgt oder in Massengräbern verscharrt zu werden. Und während am Ende dieses Comicfrieses im Vordergrund die Holzkreuze in den Boden geschlagen werden, sieht man am Horizont schon die neuen Truppen, die diese barbarische Schlacht noch für vier weitere verlustreiche Monate lang austragen werden.
Das Ganze ist derart komplex, dass sich der Betrachter mehr als einmal im Gewimmel und Gewusel der Masse verliert und dankbar für das Begleitheft ist, in dem nicht nur der US-amerikanische Historiker Adam Hochschild eindrücklich die Ereignisse am 1. Juli 1916 an der Somme beschreibt, sondern man auch eine verkleinerte und kommentierte Variante des Panoramas findet.
Als Betrachter fühlt man sich – ob trotz oder wegen des Gefühls der Verlorenheit – unweigerlich in die Rolle des beobachtenden Mitläufers gedrängt, der erleben muss, wie abertausende Soldaten in diese mörderische Todesmaschine laufen. Die Schlacht an der Somme ist der Inbegriff des industrialisierten Mordens im Ersten Weltkrieg. Millionen Menschen sind im Granat- und Kugelhagel der Maschinen sowie den Gasangriffen umgekommen. Nicht umsonst schrieb Ernst Jünger in seinem Kriegstagebuch In Stahlgewittern davon, dass »der gewaltigste der Kriege« von der überragenden Bedeutung der Materie geprägt war: »Der Krieg gipfelte in der Materialschlacht; Maschinen, Eisen und Sprengstoff waren seine Faktoren. Selbst der Mensch wurde als Material gewertet.« Sacco macht in seinem Weltkriegsleporello nicht nur diese Materialschlacht sichtbar, sondern zeigt, wie sich das Individuum in der Masse auflöst und kollektiv marschiert, stirbt und beerdigt.
Die Verarbeitung des Ersten Weltkriegs in der Neunten Kunst ist vor allem von dem französischen Zeichner Jacques Tardi geprägt. Wie kein anderer hat der Franzose dem im Schützengraben versinkenden Individuum ein Denkmal gesetzt. Seine Comics erzählen von dem unendlichen Leid, das dem Einzelnen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs widerfahren ist. Dass Tardi dabei stets an seinen Großvater denkt, führt dazu, dass Werke wie Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB, Grabenkrieg, oder Elender Krieg die Ereignisse stets aus einer individuellen Perspektive beschreiben.
Saccos Motivation ist eine andere. Er erinnert sich, wie in Australien am 25. April stets der Landung der australischen Truppen in Gallipolli gedacht wurde. Bei der Schlacht auf der türkischen Halbinsel kamen 100.000 Soldaten ums Leben, 250.000 wurden verletzt. Schon als Kind fand er diese Zahlen unbegreiflich. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass »so viele Menschen freiwillig darauf warten, zu sterben«, beschäftigt ihn bis heute. In seinem Weltkriegspanorama versucht er, eine Antwort darauf zu geben, indem er die Kriegsmaschinerie als Laufband vor dem Auge des Betrachters ablaufen lässt. »Die normale Reaktion des Tieres Mensch wäre, vor dem Maschinengewehr wegzulaufen. Aber die Masse zwingt dich unaufhaltsam, immer weiter zu marschieren und in die Kugeln hineinzulaufen.«
Sacco will sich nicht mit Tardi messen, viel zu sehr bewundert er ihn für seine Arbeiten. Der Franzose habe alles zum Ersten Weltkrieg gesagt, was es dazu zu sagen gäbe, er könne dem nichts mehr hinzufügen. Aus diesem Grund hat er vollkommen auf Wörter verzichtet. Sein Panorama ist ein lautloses Zeugnis des 1. Juli 1914, das in seiner nach vorne drängenden Komposition für sich spricht.
Ungewöhnlich ist die Außenperspektive. Normalerweise erzählt Sacco seine Geschichten aus den Blickwinkeln seiner Gesprächspartner und setzt aus den verschiedenen Stimmen, die er sammelt, ein Mosaik zusammen. Sein historischer Bilderbogen speist sich aus seiner journalistischen Herangehensweise. Zum einen ist er auch als Erzählung und nicht als Illustration angelegt. Zum anderen sind die Zeichnungen höchst detailliert ausgeführt, da sei der akkurate Journalist in ihm durchgekommen. Die Grundlage bildeten intensive Bildrecherchen im britischen Kriegsmuseum in London sowie zahlreiche Beschreibungen in der Literatur. »Ich versuche, Menschen und Objekte so genau wie möglich wiederzugeben, da ich der Ansicht bin, dass alles, was korrekt gezeichnet werden kann, auch korrekt gezeichnet werden sollte«, heißt es in Reportagen. Von seinem cartoonhaften Stil, in dem man seine Begeisterung für Robert Crumbs ironischen Stil wiedererkennt, weicht er dafür nicht ab. Seine Arbeiten brauchen diese Distanz zur Wirklichkeit, seine Geschichten in einem noch realistischeren Stil gezeichnet, wären nur schwer zu ertragen.
Die Anlehnung an Crumb tritt in seinem neuesten Werk BUMF Vol 1. I buggered the Kaiser! (demnächst mehr dazu an dieser Stelle) vielleicht noch deutlicher zutage. Er habe das Bedürfnis nach einem Genrewechsel verspürt, sein neuer Comic sei daher eine politische Satire geworden, fast obszön, etwas, das man noch nicht von ihm kenne. Bis sein neuer Comic in deutscher Übersetzung erscheint, bleiben seine Berichte von den Kriegsschauplätzen der vergangenen 20 Jahre sowie dieses Panorama des 1. Juli 1916. Gemeinsam zeigen sie, dass die Zahl der Kriegsopfer abgenommen hat, der Schmerz und der Kummer der Leidtragenden aber gleich geblieben ist. Und wir verstehen, was Sacco meint, wenn er sagt: »Für mich sind Vergangenheit und Gegenwart Teil der gleichen Sache.«
Ein kürzeres Porträt Saccos auf der Basis dieses Beitrags ist im Rolling Stone Magazin im August 2014 erschienen.
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