Im April jährt sich der Völkermord an den Armenien zum 100. Mal. Anlässlich des traurigen Jubiläums veranstaltet das Internationale Literaturfestival Berlin gemeinsam mit dem Lepsiushaus in Potsdam eine weltweite Lesung aus Varujan Vosganians »Buch des Flüsterns«.
Der organisierte Massenmord an der armenischen Minderheit im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs ist bis heute ein Politikum. Dabei ist es längst erwiesen, dass die Ermordung der Armenier der erste systematisch geplante und durchgeführte Völkermord der Moderne ist. Seinen Ausgang nahmen die Ereignisse im April im damaligen Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, wo mehrere Hundert armenische Intellektuelle – Dichter, Musiker, Parlamentsabgeordnete und Geistliche – verhaftet und in Arbeitslager ins Innere der Türkei deportiert wurden, um dort Straßen und Gleise für die deutschen Truppen und deren Alliierte zu legen. Es war der Auftakt zu einem Menschheitsverbrechen, dem armenischen Völkermord. Die meisten der über eine Million armenischen Opfer kamen in diesen Lagern ums Leben, Hunderttausende flohen ins Ausland. Die armenische Diaspora ist bis heute eine der größten der Welt.
Diese Ereignisse geschahen nicht in einem verborgenen Winkel der Welt, sondern unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Schon 1915 berichteten internationale Medien von einem gezielten Vernichtungsprogramm der Türken, die mit dem Osmanischen Reich verbündete deutsche Reichsregierung war ebenfalls im Bilde. Historisch ist der Völkermord anhand zahlreicher Quellen längst belegt.
Dennoch ist das Thema nach wie vor heikel. Journalisten, Schriftsteller und Historiker, die in der Türkei gegen die Leugnung des Genozids an den Armeniern anschreiben, sind nicht selten juristischer Verfolgung ausgesetzt. Sowohl die in London lebende Autorin mit türkischen Wurzeln Elif Shafak als auch der in Istanbul lebende Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wurden bereits wegen Beleidigung des Türkentums angeklagt, Panuk auch verurteilt, weil sie den Genozid direkt als einen solchen bezeichnet haben.
Das Internationale Literaturfestival Berlin und das Lepsiushaus Potsdam rufen für den 21. April zu einer weltweiten Lesung auf, um den Opfern des Genozids zu gedenken, verbunden mit der Forderung nach internationaler Anerkennung des Völkermords. Über 300 Autoren aus 65 Ländern werden an dem Tag aus Varujan Vosganians Roman Buch des Flüsterns lesen, dessen Übertragung ins Deutsche durch Ernest Wichner im vergangenen Jahr für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert war. In Ländern von A wie Albanien bis Z wie Zimbabwe finden Lesungen statt, in der Türkei werden mit Dogan Akhanli, Sema Kaygusuz, Rober Koptas, Eylem Özdemir-Rinke, Orhan Pamuk, Elif Shafak und Ece Temelkuran gleich sieben Autoren öffentlich aus Vosganians Roman lesen.
Der umstrittene rumänische Minister für Handel und Industrie Vosganian, der auch Präsident der Armenier in Rumänien ist, breitet darin »einen fein gewebten Teppich an Geschichten und Figuren« des aus seiner Heimat vertriebenen armenischen Volkes aus, dessen Fäden in der rumänischen Provinzstadt Focsani zusammenlaufen. Sahag wurde von seiner Mutter für einen Sack Mehl an Araber verkauft, um seine Schwester vor dem sicheren Tod zu retten. Siruni wird von seinen eigenen Leuten der Kollaboration mit den Deutschen beschuldigt und von den Russen nach Sibirien deportiert. Und es gibt zahlreiche Geschichten, die aus unterschiedlichster Perspektive vom Genozid an den Armenien berichten. Geschichten, die aufgrund ihrer grausamen Details und politischen Brisanz oft nur geflüstert werden durften. Eine solche exemplarische Geschichte hatte Fatih Akin mit seinem Flüchtlingsdrama The Cut vor wenigen Wochen in die Kinos gebracht.
Der Webmeister dieses vielstimmigen orientalischen Klangteppichs ist Großvater Garabet, ein Alter Ego des Autors, der diese mit fiktiven Figuren angereicherten Geschichten zu einem epochalen Roman über das Schicksal des armenischen Volkes zusammenfügt. Aus diesem Roman werden die Kapitel sieben und acht (hier als pdf-Datei) unter anderem von Nobelpreisträgern wie Mario Vargas Llosa, Herta Müller, Elfriede Jelinek, Orhan Pamuk, Günter Grass und John M. Coetzee vorgelesen.
Das ILB ruft aber gleichzeitig Kulturinstitutionen und Organisationen auf, eigenständige Lesungen zu organisieren und literarische Texten auch anderer armenischer Autoren wie Zabel Yesayan, Siamanto, Daniel Varujan, Krikor Zohrab, Rupen Sevag, Komitas, Yeghishe Tcharenz, William Saroyan, Hovhannes Shiraz, Paruyr Sevak, Hakop Mntsuri, Silva Kaputikian, Daniel Varujan, Krikor Zohrab, Rupen Sevag und Hrant Dink zu verlesen, um an die zahllosen armenischen Stimmen, die seit 1915 verstummt sind, zu erinnern.