Literatur, Roman

Eingeschlossen für die Ewigkeit

© Thomas Hummitzsch

Im neuen Roman von Don DeLillo wird dem Tod der Kampf angesagt. »Null K« ist ein schillernder Bernstein, der die Geister aus dem Werk des Amerikaners in sich einschließt.

»Wenn Autorenschaft eine Form des Denkens ist, dann endet die konzentrierteste Form des Schreibens in einer wie auch immer gearteten Reflexion über das Sterben«, sagte Don DeLillo 1993 gegenüber der amerikanischen Literaturzeitschrift The Paris Review. Jetzt, mit 80 Jahren, schreibt DeLillo so konzentriert wie nie. Sein neuer Roman Null K ist nicht nur eines der eher schmalen Bücher aus seiner Schreibwerkstatt, sondern auch eine scharfsinnige Betrachtung des Sterbens in einer omnipotenten Welt.

Dem Tod wird in dieser Welt der Kampf angesagt, und zwar von Menschen wie Ross Lockhart. Er sorgt mit seinem Geld dafür, dass der Tod in seiner bequemen Welt wie »von innen beleuchtet« wirkt. Tote warten aufgereiht in Tiefkühlkapseln, dass man ihnen wieder das Leben einhaucht, »aufrecht, auf Zehenspitzen, den rasierten Kopf leicht erhoben, Augen geschlossen, Brüste straff.« Der menschliche Körper wird als Inbegriff der Schöpfung nicht nur kunstvoll in Szene gesetzt, sondern erhalten. Während die Organe einer »biomedizinischen Redaktion« unterzogen werden, um sie in den bestmöglichen Zustand zu versetzen, erfährt das Gehirn eine Sonderbehandlung. Nanoeinheiten sorgen dafür, dass die grauen Zellen mit Weltliteratur, Philosophie, Musik und Mathematik bespielt werden. »In Ihrer Hirnbox werden Sie ein Phantomleben haben. Schwebende Gedanken. Eine passive Art des mentalen Zugriffs. Ping ping ping. Wie eine neugeborene Maschine«, erklären die selbstgefälligen Vordenker des Verfahrens die Prozedur. Das Totalitäre dieses Nützlichkeitsdenkens ist allgegenwärtig.

Lockhart heißt eigentlich Nicholas Satterswaite, aber weil man in einer Welt, die auf Selbstoptimierung aus ist, mit diesem Namen nichts wird, hat sich der Finanzmogul vor Jahren seine Lockhartigkeit zugelegt. Dieser Lebenswandel hat ihn die Familie gekostet, aber was soll’s. Sein Sohn Jeffrey, der Erzähler, wuchs vaterlos bei der Mutter auf, und als diese starb, befand sich der Vater »auf dem Cover der Newsweek«, wie es im Roman lakonisch heißt.

Nun investiert Lockhart in ein Unternehmen namens »Konvergenz«, das seinen Hauptsitz in einem Bunker irgendwo in der zentralasiatischen Steppe hat. Hier, abseits aller Aufmerksamkeit, arbeitet eine Armada visionärer Wissenschaftler daran, das ewige Leben zu ermöglichen und den Tod zu einem »kulturellen Artefakt« der menschlichen Zivilisation zu machen. Für Lockhart und dessen zweite Frau Artis liegt in der Kryonik die einzige Hoffnung, in einer fernen Zukunft unbeschwert miteinander leben zu können.

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Don DeLillo: Null K. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch 2016.288 Seiten. 20,00 Euro. Hier bestellen

DeLillo hat mit der Konvergenz eine futuristische Version von Thomas Manns Zauberberg geschaffen, dessen flirrende Atmosphäre an Paolo Sorrentinos Ewige Jugend erinnert. Das unterirdische Sanatorium ist nicht nur Heil- und Forschungszentrum, sondern auch esoterischer Rückzugsraum einer New-Age-Religion. Deren Apologeten nähren beständig die Hoffnung auf eine bessere Welt »außerhalb der Zeit, außerhalb der Geschichte«. Die Witzbold-Visionäre der Konvergenz führen mit Sätzen wie »Müssen wir denn immer weiter machen?« die Bedenken der Jeffreys dieser Welt vor, um sie zugleich mit Repliken wie »Warum die innovative Wissenschaft mit menschlicher Nachlässigkeit unterwandern« zu entsorgen. Dialoge wie diese machen Null K zu einem außerordentlichen intellektuellen Vergnügen.

Ohnehin seien Skrupel fehl am Platz, es gehe doch darum, sich »von der Last namens verantwortungsvolles Denken zu befreien.« Das ewige Leben stehe ohnehin nicht allen zu, sondern nur – hier bekommt der Roman noch eine sozialkritische Note – den atemberaubend Reichen, den »Königen, Königinnen, Kaisern und Pharaonen«. Das, und nur das, ist die Messlatte für einen Lockhart.

»Jeder will das Ende der Welt in der Hand haben«, mit diesem verbalen Fausthieb beginnt der Roman. Er zieht den Leser in eine Geschichte, die mit dem Weltenende in vielfacher Weise spielt. Denn die Verortung der Konvergenz in Zentralasien ist nicht zufällig gewählt. Aus amerikanischer Sicht ist Kasachstan im Zentrum der wichtigsten Konfliktherde. Die arabische Halbinsel im Süden wurde vom IS und seinen Mittelaltertruppen in Flammen gesetzt, im Osten liegt China, das mächtig Druck auf die US-Wirtschaft ausübt, und im Norden hat Russland mit dem Konflikt in der Ukraine den Kalten Krieg wieder aufgenommen. Diese Konflikte bilden die gewaltige Drohkulisse, vor der die Zukunftsmusik der Konvergenzler allzu verlockend klingt. »Unsere Gutenachtgeschichte heißt Katastrophe«, kommentiert ein Sterbebegleiter süffisant.

Pflegt die Sprache, heißt es im Roman, denn in ihr soll sich »die Suche nach immer obskureren Ansätzen spiegeln«. Ein Satz, der für Null K ebenso zutrifft wie für den Autor und seinen Übersetzer Frank Heibert, der zugleich Aussage und Auftrag ist. Gefragt, worin die besondere Herausforderung bei der DeLillo-Übersetzung bestehe, erklärt Heibert, dass DeLillos Tendenz, sowohl Klang als auch Rhythmus gelegentlich auffällig stark nach vorn zu stellen, natürlich ein Auftrag sei. Anlässlich der Übersetzung seines Opus Magnum Unterwelt habe der Amerikaner erklärt, dass er auf manche Wörter immer wieder nur wegen ihres Klangs zurückgreife und fordert seine Übersetzer auf, mutig dem Klang und dem Rhythmus nachzugehen. Heibert bezieht daraus »die Lizenz, mich noch weiter als sonst vom Textwortlaut wegzubewegen«, um in seiner Übersetzung möglichst nah an DeLillos Sprache heranzukommen.

Etwa wenn er die Überwältigung Jeffreys durch die Bilder, die ihn über Bildschirme erreichen, beschreibt. »Schließlich warf ich einen Blick hinter mich in den Gang, ob wohl jemand kam, noch ein Zeuge, ein Mensch, der neben mir stehen würde in der Bilder Flut und Griff.« Der abschließende Halbsatz »in der Bilder Flut und Griff« klingt im ersten Moment etwas ungelenk, schaut man aber ins Original (»Finally I glanced back down the hall waiting for someone to appear, another witness, a person who might stand next to me while the images built and clung«), dann erkennt man die vorbildliche Übersetzung dieser bildgewaltigen und rhythmischen Szene. Eine ähnlich herausfordernde Zusammenführung von Rhythmus und Klang erläutert Heibert an einem zweiten Beispiel. In der Szene irrt Jeffrey ziellos durch New York und plötzlich stößt man auf den Satz »I walk for hours, dodging a splotch of dogshit now and then.« Hier ging es Heibert vor allem darum, den rhythmischen Klang und die Onomatopoesie von »dodging a splotch of dogshit« zu erhalten, was ihm mit der Wendung »bloß in keinen Flatschen Hundekacke latschen« himmlisch gelungen ist. So banal solche Wendungen zu sein scheinen, sie steigern sich in ihrer Gesamtheit zu DeLillos unverwechselbaren literarischen Ton.

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Don DeLillo: Americana. Aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Müller. Kiepenheuer & Witsch 2016. 496 Seiten. 12,00 Euro. Hier bestellen

Null K ist jedoch derart dicht mit derlei sprachlichen Finessen versehen, dass sich der Sog von Unterwelt, seinem voluminösesten und erfolgreichsten Roman, partout nicht einstellen will. Dieses Buch sperrt sich gegen die schnelle Lektüre, man muss langsam lesen und kommt so nicht umhin, die Intensität dieses Romans in allen Dimensionen – inhaltlich, sprachlich, soziologisch – zu erfahren.

De Lillo ist einer von Amerikas größten Autoren und ähnlich wie Philip Roth oder Joyce Carol Oates regelmäßig aussichtsreicher Anwärter für den Literaturnobelpreis. In diesem Jahr standen die Wetten gut, gewonnen hat am Ende Bob Dylan. Ganz Gentleman gratulierte DeLillo zeitgemäß via Twitter, nicht ohne seine Kritik loszuwerden. »Many compliments dear Bob! But your songs are not literature.«

Der Amerikaner gilt neben Thomas Pynchon als einer der wichtigsten Postmodernisten, unter anderem David Foster Wallace, Jonathan Franzen und Donald Antrim soll er beeinflusst haben. John Banville nennt ihn den »Poeten der Entropie«, Joshua Ferris sieht in ihm »den scharfsinnigsten Chronisten der Gegenwart« und Joyce Carol Oates attestiert ihm eine »beängstigende Wahrnehmung«. Diese fließt über die von Frank Heibert schnörkellos ins Deutsche übertragene gepflegte Sprache direkt in die Köpfe seiner Leser.

Dort hinterlässt sie seit Jahrzehnten ein Feld der Brutalität und Verwüstung. Kein Wunder also, dass die über Bildschirme in die Geschichte drängende Apokalypse die Verbindung zu seinem Gesamtwerk darstellt. Seit seinem Durchbruch mit Weißes Rauschen zieht sich die Gewalt wie ein roter Faden durch sein Werk. Sieben Sekunden erzählt die Geschichte eines John-F.-Kennedy-CIA-Mordkomplotts, sein Opus Magnum Unterwelt die des Atomkrieges und Mao II die der Anziehungskraft des Terrorismus. Sein Wallstreet-Roman Cosmopolis ist eine überaus weitsichtige Erzählung über den verheerenden Krieg an der Börse und Falling Man die Analyse der Folgen aus 9/11. Und nicht zuletzt hat DeLillo mit seinem Debüt Americana, der in einer Neuübersetzung von Matthias Müller vorliegt, seine amerikanische Geschichte der Medien und ihrer Wirkung geschrieben. Null K ist der Bernstein, der all die Geister der früheren Romane in sich einschließt.

Beeindruckend ist dieser Roman auch aufgrund des zweiten Teils, der die Handlung zeitweise nach New York verlagert. Hier bekommen plötzlich die kleinen Dinge des Lebens tiefe Bedeutung. Jeffrey trifft auf entwicklungsgestörte Kinder und Jugendliche, Antipoden der idealisierten Riefenstahl-Figuren in der Konvergenz. Die Wärme und Melancholie, mit der Jeffrey ihre Welt betrachtet, ist auf dem kafkaesken Subplaneten des ewigen Lebens nicht nur unvorstellbar, sondern nimmt diesem jeden Reiz. Denn er macht das sichtbar, was mit dem Tod verloren geht und gerade deshalb seinen Wert besitzt.

Eine kürzere Version des Textes ist in der Novemberausgabe des Rolling Stone Magazin erschienen.

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