Comic, Interviews & Porträts

Der Comic als Zeuge der Welt und der Menschheit

Der Franzose Marc-Antoine Mathieu ist ein Comicphilosoph, seine Arbeiten sind hoch komplexe Werke, in denen er das kafkaeske Dasein des Menschen reflektiert. Hier spricht er über sein neues Werk »OTTO« und die anstehende Ausstellung im Museum für angewandte Kunst in Frankfurt/Main.

In Ihrem neuen Album spielen Sie mit dem Konzept der Reflexion von innen nach außen. Schon ihr Album »3 Sekunden« ist ein Spiel mit Reflexionen und Spiegelungen Ist »Otto« eine Fortsetzung von diesem Album? 

Ich würde eher sagen, dass »Otto« eine Fortsetzung von »Die Zeichnung« ist, weil es in beiden darum geht, das Spiegeln und die Reflexion [Reflexion ist hier etymologisch als Gedankenspiel und als Wiederspiegeln gemeint, A.d.A] infrage zu stellen. Der Begriff Reflexion ist dabei als Neologismus zu verstehen, so wie das in vielen anderen meiner Geschichten der Fall ist.

Was fasziniert Sie an der »Reflexion« genau?

Wenn man reflektiert, ist man also tatsächlich zugleich man selbst und der Gegenstand seiner Reflexion, d.h. wir sind etwas Anderes [stehen außerhalb von uns] … befinden uns also auf beiden Seiten des Spiegels. Dieser verschwindet erst, wenn wir einen Augenblick ohne Nachdenken verbringen, ohne Erinnerung, ohne Erwartung: so sind wir dann zeitgleich wir UND die Welt, da braucht es keinen Spiegel, wir sind ganz einfach, ohne Zeit und Raum. »Was ist die Ewigkeit?«, fragt William Blake. »Eine absolut intensiv erlebte Sekunde.«

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Der Künstler Otto befindet sich zu Beginn des Albums trotz oder wegen seines großen Erfolgs »am Ende einer langen Sackgasse«. Auch Sie sind sehr erfolgreich als Künstler. Inwieweit ist »Otto« auch eine Reflexion über Sie selbst als Mensch und Künstler? Und welche Rolle spielt Ihre Kindheit in Ihrer Kunst?

Ich weiß nicht, ob ich mich als erfolgreich bezeichnen würde; ich würde eher sagen, dass ich das Publikum habe, das zu mir passt, und das ist toll. »Otto« enthält natürlich einiges von mir selbst, bietet aber auch die Möglichkeit, über den Künstler im Allgemeinen nachzudenken. Welcher Künstler hat sich denn noch nicht die Frage gestellt, ob nicht all seine Schöpfungen und Kreationen verglichen mit dem echten, ungefilterten und puren Leben absolut sinn- oder nutzlos sind? Houellebecq sagte, dass der Künstler ein menschlicher Sklave ist, der seiner eigenen Kunst dient – ich teile diese Ansicht. Natürlich kann dieses »Sklavendasein« schön und aufregend sein, aber wie Gaston Chaissac sagte, hat die Kunst keinen anderen Sinn, als das Leben interessanter zu machen als die Kunst selbst.

Ihre Figur Acquefacques fällt am Anfang ihrer Abenteuer stets direkt aus Zeit und Raum heraus hinein in Geschichten, die surrealistischen Träumen gleichkommen. Es ist immer ein Spiel mit Traum und Wirklichkeit. Träumen Sie denn viel? 

Nein, ich träume recht selten. Um genau zu sein, ich träume wahrscheinlich genauso viel oder wenig wie die meisten anderen, aber ich erinnere mich kaum an meine Träume. Vielleicht liegt das an meinem allgemein schlechten Gedächtnis und ich versuche meinen Frust über die fehlenden Erinnerungen mit erfundenen Träumen auszugleichen, die die Erinnerungslücken füllen.

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Der Künstler Otto erbt in Ihrem neuen Album eine Truhe, in der sich zahlreiche Erinnerungsstücke aus seiner Kindheit befinden, Notizen seiner Eltern, Fotos, Videos, Kleidungsstücke und andere Objekte, die seine Erinnerungen an die eigene Kindheit anregen. Hätten Sie, wenn Sie eine solche Truhe erben würden, den Mut, diese zu öffnen oder würden Sie sie lieber geschlossen lassen?

Ich könnte eine solche Truhe niemals öffnen, das wäre völlig unmöglich. Spannend und anregend ist aber, dass es mir in der Kunst möglich ist. In der Kunst kann man Dinge machen, die einem im Leben unmöglich sind. Es lebe der Comic!

In all Ihren Alben geht es in der Tiefe darum, über den Menschen und das Menschliche nachzudenken. Sie sind voller Anspielungen an Franz Kafka und Jorge Luis Borges sowie Winsor McCay? Welche Bedeutung haben diese Literatur- und Kunstikonen für Sie?

Kafka hat mich schon in meiner Jugend gepackt. Ich habe nicht immer alles verstanden, aber ich war von dem, was Kafka zwischen den Worten, in der Tiefe der Schatten versteckt hat, ergriffen: dort spricht er ganz direkt das Individuum an. Kafka nutzt wie alle guten Schriftsteller die Worte, um sie verschwinden zu lassen. Das gleiche gilt für Borges, der uns in die verborgenen Winkel der Welt und ins Labyrinth unserer Seele führt. Mich hat er zur Philosophie, aber auch zur Wissenschaft gebracht, zum Nährboden der Imagination. Windsor McCay war für mich eine Offenbarung. Ich habe ihn relativ spät entdeckt, noch nach Fred oder Hergé und vielen anderen.

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Marc-Antoine Mathieu: OTTO. L’homme réécrit. Delcourt 2016. 85 Seiten. 19,50 Euro. Hier bestellen

Wer hat Sie noch inspiriert?

Es ist schwer, eine komplette Liste der Autoren zu machen, die mich beeinflusst oder inspiriert haben, es sind so viele. Es ist auch schwer, eine Unterscheidung zwischen denen zu machen, die entscheidend für mich sind und anderen, weniger bedeutenden, aber einer, der wichtiger ist als alle anderen ist Francis Masse: ein Genie der Comicliteratur.

Im Juni eröffnet in Frankfurt eine große Ausstellung mit Ihren Arbeiten. Der Comic schafft es in Deutschland selten in Museen. Was bedeutet Ihnen diese Ausstellung persönlich und was heißt es für die Neunte Kunst?

Für den Comic oder die Graphic Novel ist es sehr wichtig, bis in die heiligen Hallen der Kreativität vorzudringen und nicht nur in den öffentlichen Räumen zu verbleiben, die für sie vorgesehen sind, ich denke da an Comicfestivals oder ähnliches. Die ganze Welt würde gewinnen, wenn sie mehr von und über Comics erfährt. Im Museum für angewandte Kunst hat man das verstanden, und dieses Bewusstsein macht das Haus umso wertvoller für die deutsche Öffentlichkeit. Der Comic ist ein vollwertiges Medium geworden, Zeuge der Welt und der Menschheit, der Wirklichkeit vieler anderer Dinge. Und seine Geschichte ist noch lange nicht zu Ende, er wird und noch oft überraschen.