Rudolph Herzogs fantastische Berlin-Erzählungen konfrontieren die Leser mit »Truggestalten« und lassen sie zwischen Gegenwart und Vergangenheit wandeln.
In Berlin wurden schon Wetten abgeschlossen, ob die erste literarische Aneignung der jetzt schon legendären Farce des Flughafenbaus noch vor oder erst nach der Eröffnung des neuen Hauptstadtflughafens erscheinen würde. Diejenigen, die auf die Literaten gesetzt haben, können sich nun wissend auf die Schultern klopfen. Denn in Rudolph Herzogs Erzählungssammlung mit dem findigen Titel Truggestalten findet das Rätsel um die niemals endende Liste der Baumängel die wohl überraschendste Auflösung.
Rudolph Herzog ist der Sohn von Regielegende Werner Herzog. Im englischsprachigen Ausland machte er sich mit der Serie The Heist sowie mit einem Sachbuch über Komik und Humor im Dritten Reich einen Namen, das in Deutschland kaum registriert wurde. 2012 erschien mit Der verstrahlte Westernheld ein weiteres Sachbuch, in dem er nicht nur irrsinnige Fakten zum Atomzeitalter versammelte, sondern auch die anhaltende Gefahr der atomaren Hinterlassenschaften darstellte. Unter dem Titel Die Atombombe im Vorgarten verfilmte Werner Herzog das Buch.
Mit seinem Kurzgeschichtenband gelingt dem Wahlberliner nun der literarische Durchbruch. Die rasante Entwicklung, die Berlin und seine Bewohner genommen haben, seit er 1999 in die Hauptstadt gezogen ist, findet sich darin wieder. Wer deshalb hinter Titeln wie »Schlüssel«, »Tandem« oder »Kugelblitz« schwer verdauliche literarisierte Gegenwartsanalysen des Berliner Alltags vermutet, der täuscht sich. Herzog schließt in seinen verwinkelten Erzählungen die globalisierte Gegenwart inklusive Hightech-Wahn mit den in Vergessenheit geratenen Berlin-Legenden kurz. Das Ergebnis ist eine paranormale Geschichtsschreibung, bei der er mit den Motiven des Schauerromans spielt, ohne jemals ganz aus der Wirklichkeit auszusteigen.
Die sieben Kurzgeschichten, die ineinander verschränkt sind und sich zu einem Hauptstadtpanorama ergänzen, durchzieht eine gewitzte erzählerische Choreografie. Die Leser werden in eine Handlung geworfen, die nach einigen skurrilen Wendungen und düsteren Überraschungen in eine immer kleiner werdende Welt führt, von deren Existenz anfangs nicht einmal ansatzweise etwas zu ahnen war.
Mit einem Geschäftsmeeting etwa beginnt die Erzählung »Die Näherin«. Jungunternehmer Christoph schwört seine »brutalsten Wölfe« mit Sätzen wie »Wenn ihr Pussies seid, dann reiß ich euch den Arsch auf!« und »Wer im E-Commerce siegt, dem gehört die Welt!« auf die neueste Erfindung seines Start-Ups ein. Mit einer App soll man künftig defekte Haushaltsgeräte scannen, ein passendes Austauschgerät bestellen und innerhalb von 24 Stunden geliefert bekommen. Björn ist einer von Christophs besten Männern, er soll in Chile das Pilotprojekt retten. Doch bevor es in die weite Welt geht, erwarten ihn in seiner großzügigen Eigentumswohnung die kleinen Sorgen des Alltags. Seine Frau ist innerlich bereits auf dem Absprung und die fünfjährige Tochter Alena klagt seit Wochen über diffuse Ängste. Sie fürchtet sich vor einer alten Frau, die sie allabendlich neben ihrem Bett sitzen und nähen sieht. Was wie eine Kinderfantasie beginnt, verursacht auch Björn bald Unbehagen. Denn er findet heraus, dass die Luxuswohnanlage, in der er mit seiner Familie wohnt, früher eine Nervenheilanstalt war, und sich dort, wo sich Alinas Kinderzimmer befindet, die Leichenkammer des Instituts befand.
Für sein Prosadebüt hat der 44-Jährige nicht zufällig das Genre der Geistergeschichte gewählt. Mit diesen lasse sich am besten daran erinnern, was sich in Berlin schon alles zugetragen habe, erklärte er im Berliner Stadtmagazin TIP. Deshalb spuken in einem ehemaligen Fabrikgebäude die Gespenster polnischer Zwangsarbeiter, über den Freidenkerfriedhof im Prenzlauer Berg irrt eine aus der Zeit gefallene Frau und im Keller eines Berliner Wohnhauses wartet ein Maueropfer auf Besuch. Diese Untoten springen in die kleinen Plausibilitätslücken der Wirklichkeit und machen in der geschichtsvergessenen Gegenwart auf ihre Existenz aufmerksam. Als Zeugen der Vergangenheit geben sie dem oberflächlichen Leben von Herzogs Helden eine fast tragische Tiefe und den Lesern eine rationale Antwort auf die Frage ihres, nun ja, irrationalen Erscheinens im Hier und Jetzt.
Nervenkranke, Zwangsarbeiter und Maueropfer bilden eine Gruppe an Truggestalten, die hier zwischen den Welten wandeln. Eine andere sind die »Superperformer« aus Berlins Start-Up-Szene. Zugleich ist dies die Spannweite der Figuren, die hier auf die eine oder andere Weise Anlass zum Gruseln geben. Denn das permanente Feiern des Moments der internationalen Elite, die sich das neue Berlin einverleibt, ohne sich für das alte zu interessieren, ist mindestens ebenso (be)trügerisch wie das ewige Leben der Hauptstadt-Gespenster, denen Herzog auf einfallsreiche Weise neues Leben einhaucht.
Man hält mit Truggestalten nicht nur eine Sammlung mitreißender Berlin-Geschichten in der Hand, sondern eben auch eine fantastische Berlin-Geschichte, die die historischen Dramen der Stadt und ihrer Menschen vor Augen führt. Dabei geht Herzog über die bekannten Legenden hinaus. In einer Erzählung führt er die Geschichte der Hausbesetzerszene im einst multikulturellen und inzwischen gentrifizierten Kreuzberg famos mit der Zuwanderung aus Anatolien zusammen. Wie selbst in der einst linken Hochburg aus den alten Sozialisten die neuen Kapitalisten geworden sind, wird hier auf nicht einmal vierzig Seiten erzählt –federleicht, aber mit Tiefe, und immer sprachlich präzise. Erzählungen wie diese belegen, dass die Kurzgeschichte nicht nur eine hohe Kunst, sondern hierzulande auch eine völlig unterschätzte literarische Form ist, die deutlich mehr Beachtung verdient.
Herzogs Texte bedienen sich bekannter, übersehener und erfundener Hauptstadtlegenden. Das erinnert an die gezeichneten Berliner Mythen, die im vergangenen Jahr erschienen sind. Das Comicalbum versammelt die von Reinhard Kleist für das Stadtmagazin zitty illustrierten Legenden, die von der mit napoleonischen Geistern bewohnten Spukvilla in Berlin-Tempelhof bis zur »Operation Gold«, einer von einem Doppelagenten aufgedeckten Spionageaktion der Amerikaner in den fünfziger Jahren, reichen. In einer etwas blassen und kurzen Utopie wird dort auch eine Geschichte zum Berliner Hauptstadtflughafen erzählt, der dort als »witzige Idee« erinnert wird. Hätte Kleist Herzogs großartige Flughafenerzählung gekannt, sein Schönefeld-Comic wäre ohne Zweifel raffinierter ausgefallen.
Dieser Text erschien in leicht abgewandelter Form in Ausgabe 9/2017 der Wochenzeitung der Freitag