Das surreale Werk des französischen Comiczeichners und Grafikers Marc-Antoine Mathieu macht in seiner vermeintlichen Monotonie aus Schwarz und Weiß die verborgenen Zwischenwelten des Daseins sichtbar.
Den geübten Comicleser haut so schnell nichts von den Socken, denn wenn künstlerische Avantgarde ein Zuhause hat, dann in der Neunten Kunst. Regelmäßig sieht sich der Leser grafischer Literatur satt an den kühnen Bilderwelten von Künstlern wie Manu Larcenet, Bastian Vivès oder Richard McGuire und ergründet die gewollten Harmonien und Disharmonien des Dialogs zwischen Bild und Text, etwa bei Chris Ware, Joann Sfar, Mawil oder Seth. Wenngleich es zweifelsohne versiertere Comicleser als den Autor gibt, so zählt er sich zu dem Kreis derjenigen, die sich dank unablässiger Neugier durch zahlreiche Comiclektüren gelesen und derart einen Wissensvorsprung zum »Laien« angeeignet haben.
Dieser Vorsprung kann, muss aber nicht immer von Vorteil sein. Nicht nur, weil man verhältnismäßig häufiger mit verrutschten Strichen, ungewollten Missklängen und schiefen Dialogen konfrontiert ist, sondern vor allem, weil mit zunehmender Kenntnis der Überraschungsmoment seltener wird. Dabei ist es doch dieser Augenblick des Erstaunens, wenn einen die Magie der Komposition von Text und Bild in ferne Welten trägt, für den der Comicleser – ob belesen oder nicht – liest und liest und liest.
Umso glücklicher war der Autor, als er den französischen Comiczeichner Marc-Antoine Mathieu entdeckt hat, denn Mathieu hat ihn staunen lassen und mitunter auch aus den Socken gehauen. Bei dem Franzosen muss man keine Angst vor falschen Strichen und wackligen Dialogen haben. Ganz im Gegenteil, Mathieu ist für die Neunte Kunst ungefähr das, was Bach für die Musik und Kafka für die Literatur sind – ein Ausnahmekünstler. Wie bei allen Ausnahmekünstlern ist auch Mathieus Werk zunächst nur Eingeweihten bekannt. Der Autor gehörte viele Jahre nicht in diesen inner circle der Wissenden, bis er kürzlich die Gelegenheit beim Schopf gepackt und dieses erstaunliche Werk innerhalb weniger Tage in einer Mischung aus unersättlicher (Neu-)Gier und sprachlosem Erstaunen wieder und wieder gelesen hat.
Marc-Antoine Mathieu, geboren 1959 in Antony bei Paris, wuchs im westfranzösischen Anger auf und studierte an der dortigen Hochschule für Schöne Künste. 1985 gründete er gemeinsam mit Philippe Leduc die Grafikagentur Lucie Lom, die sich auf Ausstellungdesign spezialisierte, seit 1987 zeichnet er Comics. Beiden Tätigkeiten geht er seither parallel nach. Ab und an treffen sie sich, etwa wenn er beim Internationalen Comicfestival in Angoulême aufsehenerregende Ausstellungen mit Titeln wie God save the Comics, Nocturnes – La rêve dans la Bande Dessinée oder Traits de Génie, die große Werkschau von Jean Giraud alias Moebius, kuratiert.
Echte Hingucker sind aber vor allem seine Comics, geniale Werke, die davon zeugen, dass er sich aus den herkömmlichen Grenzen des Mediums nichts macht. Nahezu ausschließlich im Schwarz-Weiß-Kontrast gehalten sind diese Comics alles andere als plakativ. Wahre Augenöffner sind Mathieus ganz auf Grafik basierende Geschichten. Ohne Worte erzählt er darin packende Geschichten, die um das menschliche Schicksal kreisen. In 3 Sekunden reflektiert er – im wahrsten Sinne des Wortes – die Welt im Kleinen und im Großen. Er folgt den Spiegelungen des Geschehens; von der Pupille bis ins All und wieder zurück auf die Erde. Seine Geschichte ist im Grunde nur drei Sekunden lang, aber es sind drei Sekunden, die die Welt bedeuten.
Aber was bedeutet schon die Welt, wenn man nicht weiß, wo der eigene Platz darin ist? Diese Frage scheint leitgebend für seinen neuen Comic Richtung zu sein, der gleich derart sprachlos ist (und macht), dass selbst der Buchtitel nur mit einem Icon wiedergegeben wird. Der Pfeil, auf den der Protagonist auf dem Titel blickt, gibt die Richtung an, in die es fortan geht. Über 250 Seiten lang verfolgen wir die Odyssee eines unbekannten und gesichtslosen Mannes aus dem absoluten Schwarz in das gleißende Weiß. Dabei irrt er durch Wüsten und über Berge, fällt in verborgene Löcher und unbekannte Welten, folgt Schatten, aufgeklebten und aufgezeichneten Spuren. Und wenn es scheinbar nicht weitergeht, weil kein Pfeil in der Nähe ist, dann explodieren vor ihm die Steine oder der Boden tut sich auf. Und da ist es dann wieder, das die Richtung vorgebende Icon. In seiner vermeintlich simplen, aber höchst anspruchsvollen Logik entsteht eine nervenzerreibende Spannung, die etwas von David-Lynch-Filmen hat und den Leser ganz für sich einnimmt.
Zugegeben, derartige Kunst gefällt nicht jedem, manch einer wird das zu künstlerisch, zu gewollt, zu überkandidelt empfinden. Jenen sei empfohlen: bitte fällen Sie Ihr Urteil nicht zu eilfertig, geben Sie diesem Autoren eine weitere Chance. Das im besten Sinne normalste Comic aus seiner Feder ist die verrückte Geschichte Gott höchstselbst, eine ironische Parabel auf den Irrsinn der Moderne. Die Geschichte ist so einfach wie genial. Gott betritt als irdische Reinkarnation die Erde. Er löst einen medialen Massenhype aus, weshalb sich bald Historiker, Soziologen, Psychologen, Philosophen, Marketingexperten und Juristen mit dem Fall befassen. Die einen erklären den Wahn, der mit Gottes Erscheinung einhergeht, die anderen loten die Chancen aus, die ein solcher Medienstar eröffnet und die Juristen müssen am Ende die Frage klären, ob es einen menschlichen Gott geben kann und dieser für die Übel der Welt verantwortlich ist. Wer statt zu stöhnen mal wieder über die Gegenwart lachen möchte, der kann dies mit dieser grotesken Geschichte wunderbar tun.
Anlass zu Staunen bietet vor allem seine preisgekrönte Serie über den Ministerialbeamten Julius Corentin Acquefacques, ein kongeniales Werk der Neunten Kunst, dass sich einige erzählerische Motive bei Windsor McCays Lebenswerk Little Nemo in Slumberland geliehen und diese mit einem kafkaesken Humor in eine zeitlose Gegenwart gehoben hat. Acquefacques – ein akustisches Rückwärtspalindrom auf den Prager Ideengeber dieser surreal-überrealen Welten – lebt in einer winzigen Wohnung in einer überfüllten Metropole. Als Beamter im Ministerium für Humor ist er für gute Witze zuständig; eine Absurdität, denn in dieser Welt ist – zumindest für den Leser – entweder absolut nichts oder ausnahmslos alles zum Lachen.
Zum Meisterwerk macht diese Serie ihr unablässiges Spiel mit dem Medium. Im 1990 erschienen ersten Band Der Ursprung tauchen in der Geschichte einzelne Seiten auf, die dem Leser entweder bereits begegnet sind oder die ihm noch begegnen werden. Damit nicht genug, wundern sich die Figuren selbst darüber, was heißt, dass sie sich ihrer Abbildung nicht nur bewusst sein, sondern diese auch genau kennen müssen. Und so sucht der Titelheld nach dem Ursprung der Geschichte, die der Leser in den Händen hält, um schließlich das Ende nicht zu finden. Bloß gut, denn inzwischen liegen sechs Teile dieser famosen Serie vor, in der der Titelheld mal von einem Zeitstrudel aus der Erzählung getragen wird und über die Panelränder spaziert, dann wieder der Handlung atemlos hinterherlaufen muss oder aber nicht weiß, ob die Geschichte am »Anfang vom Ende« oder am »Ende vom Anfang« beginnt.
Gemeinsam mit Acquefacques sind wir Gefangene seiner surrealen Träume und fallen durch schwarze Löcher im Panelgitter, geraten auf die schiefe Bahn des sich entfaltenden Wirbels oder verirren uns irgendwo zwischen den Zerrspiegeln, die das Innere nach außen und das Äußere nach innen kehren. Der jüngste Band Die Verschiebung, der in diesen Tagen erscheint, überrascht mit einer neuen Spielart dieser künstlerischen Form des Comiccomics und weist einige Parallelen zu Richtung auf.
Marc-Antoine Mathieus schwarz-weiße Bilderwelten täuschen wie die Kunst von René Magritte und öffnen gleichermaßen Augen und Sinne wie Franz Kafkas Literatur. Seine Werke sind keine Comics, sondern große Kunst.
Marc-Antoine Mathieu ist derzeit auf Deutschland-Tournee und spricht am Mittwoch in Berlin über seine Werke.
[…] zur Geltung. Auf dem Titel sieht man Zeichnungen des Franzosen Marc-Antoine Mathieu, der hierzulande erst jetzt entdeckt wird. So wie er ihn vor allen anderen entdeckt hat, feiert Kalka darin die Neunte Kunst weit vor ihrem […]