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Neuer Sinn für eine neue Welt – Der Mensch als Gott

Yuval Noah Harari, vor kurzem 42 Jahre alt geworden, gilt als intellektueller Superstar. Auf dem World Economic Forum sprach er dieses Jahr zwischen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emanuel Macron. Die Deutsche rief ihm sogar zu, seine Bücher gelesen zu haben. Sein neuestes Buch »Homo Deus« müsste sie alarmiert haben.

Hararis regelmäßigen Kolumnen für die Zeitung Haaretz gelten als Pflichtlektüre. Von Hause aus ist er Militärhistoriker, der über Memoiren von Soldaten und Offizieren der Renaissance-Zeit promovierte. Seinen Kultstatus erwarb sich der Historiker im Jahr 2011 mit seiner Monographie Kurze Geschichte der Menschheit. Sie wurde dank ihres populärwissenschaftlichen Zugriffs zu einem internationalen Bestseller. Darin verfolgte Harari die Menschheitsgeschichte anhand der vier maßgeblichen Revolutionen: Von der kognitiven Revolution vor 70.000 Jahren, über die landwirtschaftliche vor etwa 12.000 Jahren, zur wissenschaftlichen vor knapp 500 Jahren hin zu der Revolution, vor der wir gerade stehen. »Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sprengt der Homo sapiens auch seine biologischen Grenzen, er lässt die Gesetze der natürlichen Auslese hinter sich und ersetzt sie durch die Regeln des intelligenten Designs.« Das ist der Ausgangspunkt, an dem Harari Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen ansetzt.

Dieses Buch erhielt in seinem Erscheinungsjahr 2017 bereits mehrere Auszeichnungen in Deutschland. Es wurde zum Wissensbuch des Jahres ernannt, es erhielt 2017 den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis und wurde in die »proZukunft Top Ten der Zukunftsliteratur« der Robert-Bosch-Stiftung aufgenommen. Die Bedeutung dieses Buches ergibt sich durch seine Frontstellung. Yuval Harari wehrt sich gegen religiöse Denkmuster, die eine Domestizierung des Menschen und die Oktroyierung eines bestimmten Gesellschaftssystems implizieren. Er gerät damit in Frontstellung gegen einen traditionellen religiösen Fundamentalismus einerseits, der die Grundlagen der Wissenschaft und damit die normative Freiheit unserer Gesellschaft untergräbt, sowie gegen einen blinden technologischen Fortschrittsglauben in Form neuartiger Tech-Religionen andererseits, der die conditio humana negiert. Aus dieser Perspektive gelesen, ist Homo Deus ein ungemein anregendes, in die Zukunft weisendes Buch. Wie es der Untertitel verrät: Eine kurze Geschichte von Morgen.

Die Welt erfährt eine Re-Religionisierung. Nicht nur die islamische Welt, sondern auch der Westen. In Israel, dem Heimatland des Autors, sind die ultraorthodoxen Juden eine stark wachsende Bevölkerungsgruppe, deren Einfluss sozial und politisch stark zunimmt. Auch in den USA herrscht ein neuartiger Glaubenskrieg. Ziel beider Entwicklungen ist die Wissenschaft, die den Heiligen Büchern entgegengesetzte Theorien hervorbringt. Wissenschaft und Religion werden zu Antipoden. Vor kurzem benannte der Geologe und Evolutionsbiologe Jared Diamond in der Süddeutschen Zeitung den großen Einfluss religiöser Fundamentalisten als Erklärung für die wachsende Wissenschaftsskepsis in seinem Heimatland: »Das Glaubenssystem der Mormonen und anderer fundamentalistischer Religionen steht natürlich im Konflikt mit einer auf Tatsachen beruhenden wissenschaftlichen Weltsicht. Dennoch haben diese Religionen viele Anhänger, und deren politischer Einfluss ist viel höher als ihre Zahl, weil sie sehr motiviert, gut organisiert und engagiert sind. Fundamentalistische Religionen stellen daher eine weitere starke Strömung gegen Wissenschaftund Rationalität und gegen die Evolutionslehre im Besonderen dar.«

Yuval Noah Harari: Homo Deus. Eine kurze Geschichte von Morgen. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Verlag C.H. Beck 2017. 567 Seiten. 24,95 Euro. Hier bestellen

Zugleich sind Hightech- und Data-Religionen dabei, an die Stelle der säkularen Religion »Liberalismus«, die das Leben der Menschen im Westen normativ geprägt hat, zu treten. Es sind Religionen, die im Silicon Valley entstehen und eine Erzählung dafür liefern, dass die Macht vom Menschen auf hochintelligente Algorithmen übergeht und die Menschheit in eine Masse nutzloser Menschen und eine kleine Elite optimierter Übermenschen aufgespalten ist. Die Art und Weise, wie wir in den letzten 200 Jahren gelebt, geliebt und gearbeitet haben, wird in einer Zangenbewegung kaputt gedrückt.

Die Ausgangsthese des Buches mag simpel klingen, die Folgerungen, die Harari daraus zieht, sind von faszinierendem Schrecken. So wurden die Menschen jahrtausendelang immer wieder von den gleichen drei Problemen herausgefordert: Hunger, Krankheit, Krieg. Was geschieht aber nun, wenn die Menschheit Hunger, Krankheit und Krieg – und so sieht es nach Harari Anfang des 21. Jahrhunderts aus – tatsächlich unter Kontrolle bringt? Welche Herausforderungen werden dann auf der menschlichen Agenda ganz oben stehen? Harari nennt sie: Die Überwindung des Todes, die Garantie auf permanentes Glück und die Übernahme der göttlichen Rolle auf Erden.

Im ersten Teil seines Buches, der mit »Homo sapiens erobert die Welt« überschrieben ist, referiert Harari die wichtigsten Thesen des Vorgängerbuches und erzählt in noch kompakterer Version seine kurze Geschichte der Menschheit nach. Dem Kapitel sind folgende Leitfragen vorangestellt: Was ist der Unterschied zwischen den Menschen und allen anderen Tieren? Wie hat unsere Spezies die Welt erobert? Und schließlich: Ist Homo sapiens eine höhere Form des Lebens oder nur der örtliche Hooligan?

Wesentlich für den Menschen ist die Sinnproduktion. Es geht dem Menschen um die individuelle Einordnung ins Große und Ganze, die Rolle des Einzelnen in einer kollektiven Ordnung. Sinn wird vermittelt über Erzählungen, über Fiktionen. Erzählungen und Fiktionen werden auch im gegenwärtigen und kommenden Jahrhundert eine maßgebliche Rolle spielen. Dies wird umso wichtiger sein, als die Übersetzung menschlicher Fiktionen in genetische und elektronische Codes ansteht. Der Erfolg der Gattung Homo sapiens beruht darauf, dass sie ein intersubjektives Sinngeflecht erzeugen kann. Harari versteht darunter das Geflecht von Gesetzen, Kräften, Normen, Wesenheiten und Orten, die nur in ihrer gemeinsamen Fantasie existieren. Dieses Geflecht ermöglicht es dem Menschen – und hier ist er einzigartig – Religionen, Ideologien, Nationalstaaten, sozialistische Revolutionen, Faschismus, Populismus oder Menschenrechtsbewegungen hervorzubringen. Abstrakte Einheiten, die für uns Menschen fürchterlich real sind. Diese intersubjektive Realität, eine Spezialität von Geistes- und Sozialwissenschaften, trifft auf die objektive Realität der Naturwissenschaften. Harari schreibt, dass Biologie mit Geschichte verschmelzen wird, und er fährt fort: »Im 21. Jahrhundert könnte die Fiktion somit zur wirkmächtigsten Kraft auf Erden werden, wirkmächtiger noch als unberechenbare Asteroiden und die natürliche Auslese. Wenn wir unsere Zukunft verstehen wollen, wird es deshalb nicht ausreichen, Genome zu entschlüsseln und über Zahlen zu brüten. Wir müssen die Fiktionen entschlüsseln, die der Welt einen Sinn verleihen.« Wenn wir nicht anfangen, den Hightech-Religionen aus dem Silicon Valley zu misstrauen, werden sie uns eine Gesellschaftsordnung verpassen, die den Werten des traditionellen Liberalismus entgegenstehen.

Im zweiten Teil, überschrieben mit »Homo sapiens gibt der Welt einen Sinn«, geht der Autor folgerichtig den Fragen nach, was für eine Welt die Menschen geschaffen haben und wie sie zur Überzeugung gelangten, die Welt nicht nur zu beherrschen, sondern ihr auch einen Sinn zu geben. Und abschließend, wie der Humanismus – sprich: die Anbetung der Menschheit – zur wichtigsten Religion von allen wurde.

In Ergänzung zu den vier Revolutionen, die Harari in Eine kurze Geschichte der Menschheit ausgeführt hat, ergänzt er in Homo Deus eine weitere Revolution: Die urbane. Sie beginnt vor ca. 5.000 Jahren an und ist gekennzeichnet durch die Erfindung des Geldes und der Schrift. Für den Menschen als Geschichtenerzähler gewinnt die Schrift eine ganz neue Dimension. Sie versetzt ihn in die Lage, komplexe Gesellschaften zu organisieren. Er koppelt diese Erfindung mit einem sehr neuen und aktuellen Begriff, dem des Algorithmus. Algorithmen sind für den israelischen Historiker eine bestimmte Form von Muster, Abfolge von Schritten, Automatismen. In Gesellschaften, die über eine Schrift verfügen, können sich Menschen nun so in arbeitsteiligen Netzwerken organisieren, bei denen jeder nur ein kleiner Automatismus in einem viel größeren Algorithmus ist. Die Gesellschaft als Ganzes und als Algorithmus trifft Entscheidungen und handelt nach ihnen. Bürokratie hat dieses Prinzip zu ihrem Wesenskern gemacht. Mag sein, dass dieses Bild stimmt. Es kann jedoch auch ganz anders sein. Wesentlich aber ist, dass die relevanten wissenschaftlichen Diskurse zu einem allumfassenden Dogma konvertiert sind, die behaupten, Organismen seien Algorithmen und Leben sei Datenverarbeitung. Vielleicht (und hoffentlich) ist diese Vorstellung heillos unterkomplex!

Im Sinne der Romane von Franz Kafka möchte man entgegnen, dass blinde, anonyme, verborgene Bürokratien zur Entfremdung und zur individuellen Not führen. Das 21. Jahrhundert jedoch gewinnt durch diese Algorithmen eine neue Dimension. Wir wünschten uns, in Kafkas Schloss zu leben, die Aussichten sind, so Harari, erschreckend: Biotechnologie und Computeralgorithmen werden »nicht nur jede Minute unseres Daseins kontrollieren, sondern auch in der Lage sein, unseren Körper, unser Gehirn und unseren Geist zu verändern sowie durch und durch virtuelle Welten zu erschaffen.« Fiktionen und Wirklichkeit werden verschwimmen, desgleichen Religion und Wissenschaft.

Mit »Homo sapiens verliert die Kontrolle« ist der dritte und abschließende Teil des Buches überschrieben. Er behandelt die Leitfragen, ob die Menschen die Welt weiterhin beherrschen und ihr einen Sinn geben können; inwiefern Biotechnologie und künstliche Intelligenz den Humanismus bedrohen; und schließlich welche neue Religion an die Stelle des Humanismus treten könnte. Vor allem aber: Wer oder was wird die Menschheit beerben?

Dieser Teil des Buches gewinnt dystopischen Charakter. Harari schildert eine Gegenwart und vor allem eine Zukunft, in der die Menschheit die Kontrolle über die Welt und das Leben verloren hat. Sie ist dabei, den Platz auf dem Fahrersitz frei zu machen, sie wird übernommen von technischen Entwicklungen. Künstliche Intelligenz ist hierfür das Schlagwort. Der Menschheit ergeht es wie Goethes Zauberlehrling, der zunächst stolz auf sein Können ist, bald jedoch realisiert, dass er der Situation nicht mehr gewachsen ist. Homo Deusgewinnt hier eine enorme politische und soziale Relevanz, wenn es den Fragen nach der Zukunft der Arbeit und des gesellschaftlichen Zusammenhalts nachgeht. »Was wird mit dem Arbeitsmarkt passieren, wenn künstliche Intelligenz einmal die Menschen bei den meisten kognitiven Aufgaben übertrifft? Welche politischen Auswirkungen wird eine massenhafte neue Klasse von wirtschaftlich nutzlosen Menschen haben? Was wird mit den Beziehungen, den Familien und den Rentenkassen passieren, wenn Nanotechnologie und regenerative Medizin 80 zum neuen 50 machen? Was wird mit der menschlichen Gesellschaft geschehen, wenn die Biotechnologie uns in die Lage versetzt, Designerbabys zu bekommen und für eine beispiellose Kluft zwischen Arm und Reich zu sorgen?« Und noch viel schlimmer: Intelligenz koppelt sich vom Bewusstsein ab.

Die Welt zu Beginn des dritten Jahrtausends steht vor der Frage, ob die technischen Entwicklungen, die so harmlos in Form von nützlichen Apparate, Instrumenten und Apps daherkommen, Rücksicht nehmen auf unsere demokratische Verfasstheit, auf den freien Markt, auf Menschenrechte und viele andere intersubjektiven Realitäten, die einhergingen mit einer liberalen Lebensweise und Gesellschaftsordnung. Letztlich auf das Wesen des Menschen selbst: Nicht-bewusste, aber hochintelligente Algorithmen könnten uns schon bald besser kennen als wir uns selbst.

Der Politik fehlen die Kraft und die Zeit, in die Speichen der Geschichte zu greifen. Der Rhythmus der Politik mag sich in den letzten zwei Jahrhunderten beschleunigt haben, nach wie vor sind die Institutionen der Demokratie auf Verlangsamung ausgelegt. Gleichzeitig jedoch laufen technologische Revolutionen heute in Geschwindigkeiten ab, mit denen Parlamente, Parteien, Bürger und Wähler gleichermaßen die Kontrolle verlieren. Und noch eins, so die Kritik von Harari: Während der technologische Fortschritt der Politik die Möglichkeit nimmt, die Probleme der Welt rasch genug zu verarbeiten, denken Politiker von heute in viel kleineren Dimensionen als ihre Vorgänger vor 100 Jahren. »Der Politik fehlt es Anfang des 21. Jahrhunderts folglich an den großen Visionen. Regieren ist zu bloßer Administration geworden. Man verwaltet das Land, führt es aber nicht mehr.« Diese Sätze könnten eine Analyse und Zustandsbeschreibung der deutschen Politik der letzten 13 Jahre sein.

Sigmund Freud schrieb einmal von den Kränkungen der Menschheit. Von der kosmologischen Kränkung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist; von der biologischen, dass der Mensch aus der Tierreihe hervorgegangen ist; und schließlich von der psychologischen Kränkung, dass das Ich nicht Herr der eigenen Seele und des eigenen Körpers ist. Harari schließt diesen Kränkungen eine weitere an, nämlich dass in Zukunft Maschinen unsere geistigen Leistungen erreichen und sie sogar übertreffen. Was wird passieren, so Harari, wenn Künstliche Intelligenz die Intelligenz des Menschen übertrifft? Das Verhältnis von KI und Mensch wird sich ändern und es wird jenes Verhältnis annehmen, dass der Mensch zum Tier hat. Man wünscht sich, zukünftig das Leben als Schoßhund der KI führen zu können. Die Alternative als Legehuhn, Mastschwein oder Laborratte sind wesentlich unattraktiver.

Mit Joachim Radkau und seiner Studie Die Geschichte der Zukunft kann man gegen Yuval Harari argumentieren, dass auch dessen Zukunftserwartungen sich nicht so verwirklichen werden, wie er es in Homo Deus beschreibt. Die Erwartung an die Welt von morgen sieht sehr nach der Welt von heute aus. Harari beschreibt aber eine Möglichkeit von Zukunft und sie ist nicht vollkommen irreal. Genau deshalb sollten wir uns mit diesem Buch auseinandersetzen.

Harari beendet sein aktuelles Buch mit drei Schlüsselfragen:

  1. Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung?
  2. Was ist wertvoller – Intelligenz oder Bewusstsein?
  3. Was wird aus unserer Gesellschaft, unserer Politik und unserem Alltagsleben, wenn nichtbewusste, aber hochintelligente Algorithmen uns besser kennen als wir uns selbst.

Es sind die Fragen, mit denen wir uns – gesellschaftlich wie politisch – dringend auseinandersetzen müssen. Es sind die Fragen nach der Zukunft der Menschheit. Sie sind die politischen Fragen, die anstehen. Und wir brauchen Antworten auf diese Fragen. Dringend!

1 Kommentare

  1. […] dort mit weiteren Expert:innen seine Thesen zu vertiefen. Kurzum: der Israeli wird in diesem Comic als der öffentliche Intellektuelle nachgebildet, der er längst ist. Dass ihm dennoch der ein oder andere Lapsus unterläuft, spricht für die Selbstironie der […]

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