Erzählungen, Interviews & Porträts, Literatur

»Neun von zehn Büchern schreibe ich nicht zu Ende«

Wenn in diesem Jahr zwei Literaturnobelpreise vergeben werden, ist der Argentinier einer der heißesten Anwärter. Die novellenhaften Werke des von Patti Smith und David Foster Wallace verehrten Autors sind so voller Fantasie, dass man kaum mehr von magischem Realismus sprechen kann. Ein Gespräch über seinen besonderen Stil und die Möglichkeit von Zeitreisen mit dem in Buenos Aires lebenden Schriftsteller César Aira.

Warum schreiben Sie lieber kurze als lange Geschichten?

Das ist keine persönliche Präferenz, sondern die Form, die ich für meine Geschichten brauche und die ich intuitiv wähle. Darüber hinaus ist meine Prosa dicht und poetisch. Diese Form länger als über einhundert Seiten zu lesen ist wahrscheinlich nur schwer auszuhalten.

Sie sind ein begeisterter Leser. Wie strukturiert Schreiben und Lesen Ihren Alltag? Und wie beeinflusst das eine das andere?

Der Leser, der ich bin, ist wie ein Qualitätskontrolleur meines eigenen Schreibens. Er weiß genau was Freude an einem Buch macht und was langweilt. Deshalb bin ich auch nie ein echter Avantgardist gewesen: Ich bleibe den alten Erzähltraditionen treu. Diese Loyalität versperrt mir die zerstörerische Attitüde, die die echte Avantgarde auszeichnet.

Ich habe gelesen, dass Sie gern in Café schreiben. Was für eine Atmosphäre brauchen Sie, um zu schreiben?

Ich brauche eine Atmosphäre, die mich ablenkt. Ich muss Menschen sehen, die reden, Gesprächen zuhören, das Geschehen auf der Straße beobachten. Mein Geist braucht Luft zwischen den Sätzen. Ich könnte nicht in einem geschlossenen Raum schreiben, da besteht die Gefahr, dass ich mich konzentrieren. Unter Konzentration entsteht nur diese solipsistische, selbstbefriedigende Autofiktion, die ich schrecklich finde.

In einem Interview haben Sie mal gesagt, Sie würden die Texte, die Sie schreiben, als »dadaistische Märchen« bezeichnen. Was genau verstehen Sie denn unter einem »dadaistischen Märchen«?

Das perfekte »dadaistische Märchen« ist eine Geschichte, von der Kritiker keine politischen, soziologischen, psychologischen, moralischen oder was auch immer für Ableitungen treffen können. Sie existieren rein aufgrund des Vergnügens ihrer Erfindung.

Unter »kafkaesk« und »borgesianisch« können wir uns alle etwas vorstellen, diese Adjektive sind in den Sprachgebrauch eingegangen. Stellen Sie sich vor, es gäbe das Adjektiv »airaesk«, wie würden Sie den Inhalt beschreiben? Was macht Ihr Schreiben so einzigartig?

Das kann ich nicht sagen, dafür bin ich zu nah an meinem eigenen Schreiben dran. Vielleicht ist an meinem Schreiben gar nichts einzigartig, ganz im Gegenteil. Es ist vielstimmig, hat etwas von der arabischen »Tausendundeine Nacht«-Literatur und verspricht jedes Mal eine neue Geschichte.

Bei einer Vorlesung haben Sie mal gesagt, dass wirklich große Schriftsteller nicht ein einziges Wort schreiben müssten. Konsequenterweise würde das heißen, dass wir alle auf Proust, Rimbaud, Tolstoi oder Borges verzichten müssten, wenn die dem nachgekommen wären. Wollen sie wirklich Bibliotheken ohne Meisterwerke?

Ich kann mich nicht erinnern, so etwas Absurdes gesagt zu haben. Aber vielleicht ging es darum, dass Bücher für mich wichtiger sind als Autoren. Meine Berufung ist es, mit Büchern zu leben. Ich hätte auch als Verleger, Lektor, Professor, Bibliothekar oder Buchhändler glücklich sein können. Dass ich Schriftsteller geworden bin, ist der Tatsache zu verdanken, dass das der einfachste Weg war, mit Büchern zu leben, ohne den Stress eines Berufs oder Geschäfts zu haben.

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César Aira: Was habe ich gelacht. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Matthes & Seitz Berlin 2019. 92 Seiten. 16,- Euro. Hier bestellen

Sie haben Sie viele Bücher geschrieben, dass im Grunde niemand in der Lage ist, sie exakt zu zählen. Auffällig in ihren »Fiktionen« sind der unmittelbare Einstieg und die offenen Enden. Wie fangen Sie an zu schreiben, wie verläuft der weitere Schreibprozess und woher wissen Sie, wann Sie am Ende einer Geschichte angekommen sind?

Für den Anfang brauche ich eine gute paradoxe Idee oder ein paar Ansätze, die borgesianisch, eleatisch oder offensichtlich sinnlos sind. Die Geschichte kommt dann mit diesen Ideen. Wenn die Geschichte dann vorankommt, muss ich – ohne die Idee zu unterlaufen – etwas Persönliches hinzufügen. Das muss nicht unbedingt autobiografisch sein, muss aber absolut persönlich oder intim sein. Diese zwei Dinge, etwas Absurdes und etwas Persönliches, müssen zusammenkommen. Wenn es nur die absurde Idee gibt, wird es zu einem bloßen Spiel, wie Kreuzworträtsel. Wenn nur das Persönliche da ist, wird es sentimental und pathetisch. Sie sehen also, es ist nicht so einfach. Neun von zehn Geschichten, die ich anfange zu schreiben, schreibe ich nicht zu Ende, weil die Idee dann doch nicht so gut war, wie sie mir erst erschien, oder weil ich keinen Weg gefunden habe, dem Ganzen eine persönliche Note zu geben.

Ein anderes wiederkehrendes Thema in ihren Büchern ist die Zeit. Wenn Sie durch die Zeit reisen könnten, in welches Zeitalter würden Sie reisen? Und mit wem würden Sie gern sprechen wollen?

Ich würde zurück in die sechziger Jahre reisen, als ich zwanzig war, Buenos Aires eine wunderschöne Stadt war und all meine Freunde noch lebten. Witold Gombrowicz hat diese Vorstellung einst mit folgenden Worten beschrieben: »Der Mensch möchte nicht Gott sein, der Mensch möchte jung sein.«

Was finden Sie an Literatur interessant? Was möchten Sie erreichen und was vermeiden Sie beim Schreiben?

Wie ich schon sagte, Erfindung, Imagination und Überraschung. Ich will das Neue, oder um es mit Baudelaire zu sagen: »Auf den Grund des Unbekannten gehen, um das Neue zu finden.«

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César Aira: Das Testament des Zauberers Tenor. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Matthes & Seitz Berlin 2019. 168 Seiten. 18,- Euro. Hier bestellen

Viele Ihrer Fiktionen spielen mit der Idee, als Erzählung eine erzählerische Linie zu finden. Wie würden Sie den die erzählerische Linie Ihres eigenen Lebens beschreiben?

Ich habe das ganz normale Leben eines Schriftstellers geführt. Als Kind hatte ich immer ein Buch in den Händen. Als Heranwachsender habe ich angefangen, Gedichte zu schreiben, bis ich herausgefunden habe, dass ich nicht der geborene Poet bin. Dann habe ich angefangen, Geschichten zu schreiben, einfach nur aus Spaß am Schreiben. Mit 30 habe ich das erste Mal etwas veröffentlicht, wenngleich ich damals schon zwanzig Bücher geschrieben habe. Das waren meine angenehm langen Lehrjahre. Und seither habe ich nicht damit aufgehört, aus reinem Vergnügen zu schreiben und zu veröffentlichen. Ich habe Literatur nie mit Geld verbunden. Gearbeitet habe ich mein ganzes Leben lang als Übersetzer. Irgendwann habe ich herausgefunden, dass man nicht automatisch kein Dichter ist, nur weil man nicht als Dichter geboren wurde. Inzwischen sehe ich all meine Arbeiten als eine lange, kurvenreiche Straße, die zur Poesie führt. Und vielleicht komme ich ja sogar eines Tages an.

Ihr mexikanischer Kollege Carlos Fuentes gibt in einem seiner Romane einer Figur den Namen César Aira und lässt sie den Literatur-Nobelpreis gewinnen. Wenn das eines Tages wirklich passieren sollte, würde für Sie dann ein Traum oder ein Albtraum in Erfüllung gehen.

Auf jeden Fall hätte ich gemischte Gefühle, wie es fast immer im Leben der Fall ist. Es wäre gut für meine Verleger, die mit mir viele Jahre lang Verluste gemacht haben. Und es wäre schlecht für mich, weil ich meine Anonymität, die ich sehr schätze, verlieren würde. Meine Eltern wären sicherlich sehr stolz, aber sie sind schon tot. Und meine Kinder wären wohl nicht so glücklich darüber, die Kinder eines dann weltweit bekannten Mannes zu sein.

4 Kommentare

  1. […] aber alles andere als das. »Die Wunderheilungen des Doktor Aira« ist ein kleines Schlüsselwerk im literarischen Kosmos des Argentiniers, in dem es im Kern darum geht, ob und wenn ja, wie Wunder – literarische wie dieses […]

  2. […] Mit dem Unterschied zwischen Streicheln und Schlagen hätte sich auch der Ich-Erzähler in »Tiefere Schichten« auseinandersetzen sollen. Stattdessen muss er sich mit der eigenen Schuld am Missbrauch einer jungen Frau durch seinen Mitbewohner auseinandersetzen. Eine dritte Geschichte folgt zwei halbstarken Jungs, die nach einem Fussballspiel zwischen die Fronten von Hooligans und Polizei geraten. »Die Knie fingen zu zittern an, sie sahen sich an, hier sollten sie nicht sein, das wussten sie.« Der Ausweg, den der Ungar zumindest einem der beiden Jungs offeriert, ist so magisch wie realistisch und erinnert an Großmeister des Genres wie Jorge Luis Borges oder César Aira. […]

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